| # taz.de -- Neues Album von Fontaines D.C.: Ich fühl nix mehr, tut echt gut | |
| > Nietzsche? Kafka! Hauptsache, Postrock. „Romance“, das sensationelle neue | |
| > Album der Iren Fontaines D.C., muckt gegen die innere Vergletscherung | |
| > auf. | |
| Bild: Auf der Treppe zum Erfolg: Fontaines D.C. in London | |
| „Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat doch so etwas gesagt wie: Kunst | |
| sollte in der Lage sein, den gefrorenen See in unserem Inneren zu | |
| schmelzen. Wir alle haben diese Welt in uns, aber sie erfriert, wenn wir | |
| sie nicht nähren. Und wenn wir diesen See aufbrechen, sehen wir erst, was | |
| da ist, und sind mehr als nur ein Teil der physischen Welt.“ | |
| Na gut, Carlos O’Connell, Gitarrist der irischen Postrock-Band Fontaines | |
| D.C., liegt hier ein bisschen falsch. [1][Das Zitat stammt von Franz Kafka, | |
| er sprach von Büchern, von einer Axt und einem gefrorenen Meer in uns.] | |
| Aber egal: O’Connell glaubt an die Kraft des Rock ’n’ Roll! Und erklärt … | |
| taz-Interview, warum das neue Album seiner Band „Romance“ heißt: | |
| „Für mich bedeutet Rock ’n’ Roll, das System infrage zu stellen. Aber | |
| Rockmusik ist keine Alternative. Du kannst singen ‚Ich hasse das System‘, | |
| aber dann frage ich dich: Was bietest du mir stattdessen an? Anarchie!? | |
| Nein, Rock ’n’ Roll ist deine Karriere, und darum bist du ein netter Kerl | |
| und veränderst gar nichts.“ | |
| ## Genau hinsehen | |
| Deshalb heißt ihr Album „Romance“, „weil die Musik eine andere Perspekti… | |
| anbieten will: Sich selbst zu erlauben, mehr in den Dingen zu sehen. Vieles | |
| erscheint so flach, aber wenn wir genauer hinsehen, können wir überall eine | |
| Tiefe entdecken. Diese Trockenblumen, die hier auf dem Tisch stehen: Sie | |
| könnten für jemanden ein Grund sein, weiterzuleben. Solche Gründe kommen | |
| aus uns heraus, und wir wenden sie auf die Welt an. Aber diese Fähigkeit | |
| verlieren wir immer mehr, weil alles so strukturiert ist, alle Wege, unsere | |
| Lebenswege, sind so vorgegeben.“ | |
| Das Loblied von der befreienden Kraft der Musik. Es ist genauso wahr wie | |
| verlogen. Musik kann uns ebenso inspirieren und vielleicht sogar aus | |
| inneren Zwängen befreien, wie sie uns ein billiger Ersatz für echte | |
| Freiheit sein kann. | |
| Und trotzdem haben diese Worte Gewicht, denn sie fallen im Interview zu | |
| einer Sensation von einem Album, wie es [2][im Post-Punk] lange nicht mehr | |
| zu hören war. Elf Songs sind auf dem neuen Werk der aus Dublin stammenden | |
| Band Fontaines D.C. (D.C. steht für Dublin City, inzwischen haben aber alle | |
| Bandmitglieder Irland verlassen), und keiner dieser Songs schwächelt auch | |
| nur ein bisschen. | |
| ## Düster schwelender Auftakt | |
| Beginnend mit dem düster schwelenden Auftakt „Romance“, der mit seiner | |
| knapp zweieinhalb Minuten Dauer eher ein Intro als ein eigener Song ist, | |
| bis zum finalen „Favourite“, das so sonnig auf seinen E-Gitarren | |
| dahinsurft, dass es schon manchem zum Sommerhit geworden sein dürfte, seit | |
| es im Juni als Single erschienen ist. Dabei ist es eigentlich ein bitterer | |
| Abschiedssong, aber vieles auf diesem Album ist nicht das, was es zuerst zu | |
| sein scheint. | |
| „Romance“ ist das erste Album, das die fünfköpfige Band nicht komplett im | |
| Proberaum fertiggestellt hat. 80 Prozent, erklärt Schlagzeuger Tom Coll, | |
| seien fertig gewesen, als sie sich mit Produzent James Ford (Depeche Mode, | |
| [3][Pet Shop Boys]) zusammengesetzt hätten, innerlich bangend, was da auf | |
| sie zukäme. | |
| „Es hatte etwas Beängstigendes für uns, nicht mehr die volle Kontrolle über | |
| Musik zu haben. James Ford hat so eine Keyboard-App auf dem Telefon, damit | |
| hat er dauernd Melodien komponiert und uns dann vorgesungen. Er hat uns | |
| ständig dazu inspiriert, mit Melodien zu spielen.“ | |
| ## Händchen für Arrangements | |
| Es war die Arbeit von Produzentengenie Ford, die diese Songs so zum Abheben | |
| gebracht hat, und das hat er geschafft, ohne ihnen ihre Bedeutungsschwere | |
| auszutreiben. Das dringliche Songwriting der Band (nach eigener Auskunft | |
| wurden die Songs jeweils von verschiedenen Bandmitgliedern komponiert, | |
| während sie früher eher gemeinsam beim Jammen entstanden sind), gepaart mit | |
| dem Soundgespür von James Ford und einem fantastischen Händchen für | |
| Arrangements. | |
| Was hier vor allem heißt: Pausensetzung, Instrumente in der je richtigen | |
| Lautstärke zu schichten und gelegentlich ein Piano einzustreuen. Das ist | |
| es, was den Zauber dieser elf Songs ausmacht, die beim Hören direkt in die | |
| Blutbahn gehen und wohltuend sind wie eine gute Droge. | |
| Es ist Musik, die keiner Ergänzung mehr bedarf, die alles mitbringt, aber | |
| auch nicht zu viel, wie die großartig simplen Zeilen der melancholischen | |
| Ballade „In The Modern World“: „In the modern world, I don’t feel anyth… | |
| and I don’t feel bad“. Alles gesagt. Oder auch nichts. Es kommt auf die | |
| „Romance“ an, darauf, was wir daraus machen. | |
| ## Zeitlosigkeit als Waffe | |
| Auffällig ist dabei, wie zeitlos das alles klingt, im buchstäblichen Sinne: | |
| Dieses Album hätte irgendwann in den letzten, sagen wir, 30 Jahren | |
| entstanden sein können. „Bug“ könnte fast ein Oasis-Song sein, es bräuch… | |
| nur ein kleines Drehen am Sound der Gitarre und einen anderen Sänger. | |
| „Favourite“ klingt wie ein verschollener Song einer | |
| US-Westküsten-Skatepunkband. | |
| Wie viel Fontaines D.C. ist hier überhaupt noch drin? Es war der Wunsch der | |
| Band, nicht mehr über Irland zu singen oder darüber, wie es ist, als Ire in | |
| London zu leben. Endlich universelle Musik zu machen, an die jede*r | |
| anknüpfen kann. Es ist ihnen mehr als gelungen, und Fontaines D.C. haben | |
| dabei sogar die Wut und die Verzweiflung mitgenommen, für die sie bekannt | |
| sind. | |
| Aber diese Gefühle klingen jetzt nicht mehr roh und schmerzhaft. Sie fühlen | |
| sich immer noch existenziell an, aber sie kommen nicht mehr brüsk und | |
| direkt daher wie sogar noch auf dem letzten Album [4][„Skinty Fia“], das | |
| schon um Welten poppiger klang als das wüste Debütalbum „Dogrel“ von 2019. | |
| ## Die letzten Ritzen ölen | |
| „Romance“ ist ein raffiniertes Meisterwerk, das aber die Intimität und | |
| Verletzlichkeit aufgibt, für die zweifellos viele diese Band geliebt haben. | |
| Ein Stück exquisiter musikalischer Designerware, das bis in die letzte | |
| Ritze geölt und gefeilt ist und darum abgeht wie Schmidts Katze. | |
| Das ist Musik, die auf großen Bühnen stattfinden und uns nicht mehr aus dem | |
| Kopf gehen wird, weil sie uns selbst in der Shoppingmall noch in die Ohren | |
| gespült werden wird. Was allerdings die schlechteste Voraussetzung ist, um | |
| irgendein Eis in uns zu brechen oder zu schmelzen. | |
| Dennoch, „Romance“ ist ein Meisterwerk, das uns große Freude schenken wird, | |
| und vielleicht sogar den einen oder anderen Grund, weiterzuleben. Aber was | |
| hat Kafka geschrieben, in seinem Brief an Oskar Pollak: „Wenn das Buch, das | |
| wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu | |
| lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? | |
| […] Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das | |
| uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, […] | |
| wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in | |
| uns.“ | |
| Freuen wir uns jetzt auf die große „Romance“-Party. Aber wenn wir damit | |
| durch sind, bitte wieder die ersten drei Alben von Fontaines D.C. hören. | |
| Deren Songs haben die stärkere Kraft, an dem zu rühren, was in uns gefroren | |
| ist. | |
| 22 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dirk Schneider | |
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