# taz.de -- Wenn die AfD die Heimat stiehlt: Das Ende vom Oberlausitzlied | |
> Hochzeit mit heimischem Bier, der beste Freund heiratet seine | |
> Jugendliebe. Doch das schönste Fest ist kein Trost für die Verhältnisse | |
> vor der Wahl. | |
Bild: „Jeder Heimatbesuch macht bewusst, dass der alte Fußballkollege oder d… | |
Unter dem Schatten einer riesigen Trauerweide stehen wir und warten auf das | |
Hochzeitspaar. Von der kleinen Bauernschänke und damit der heutigen | |
Party-Location sind es nur 500 Meter Luftlinie bis zur polnischen Grenze. | |
Einer aus der wartenden Traube tritt aus dem Schatten hervor und nutzt | |
unseren aktuellen Standort für eine lustig gemeinte Bemerkung: „Na, ob ich | |
hier meine Karre über Nacht stehen lassen will, weesch jetze och ni.“ Er | |
bekommt von allen Anwesenden ein müdes Lächeln geschenkt. Die scheinen zu | |
wissen, wie er es meint. | |
Während die rund 50 Hochzeitsgäste an diesem für Oberlausitzer Verhältnisse | |
ungewöhnlich warmen Spätsommernachmittag vor sich hin warten, trifft es | |
mich wie ein Schlag auf den Hinterkopf. Die Hochzeit meines besten Freundes | |
ist vielleicht die letzte Feierlichkeit in meiner Heimat, bevor die Blauen | |
regieren. Ja, „die Blauen“. Viele von meinen Freuden nehmen den Parteinamen | |
gar nicht mehr in den Mund. Keiner kanns mehr hören und sehen, ich | |
inklusive. Jeden zweiten Laternenpfahl schmückt ein blaues Plakat mit | |
weißer Druckschrift und alle bleiben sie, im Gegensatz zu Plakaten der | |
demokratischen Parteien, hängen. | |
Meine Freunde und ich, wir haben uns damit arrangiert, dass Hunderttausende | |
unserer Landsleute verkappte Rassisten sind. Doch dieser Abend bringt etwas | |
anderes mit sich. Ein Gefühl von Abschied. Abschied von unserer Heimat, so | |
wie wir sie kennen. | |
Immer noch keine Spur vom frisch vermählten Ehepaar. Ich ärgere mich immer | |
mehr darüber, dass ich dem mir unbekannten Herrn nichts zu seinem blöden | |
Witz erwidert habe. Früher habe ich immer große Fresse gehabt und Paroli | |
geboten. | |
## Melange aus Grünen, Die Da Oben, der bösen Antifa | |
Mit dem Elan eines politisch interessierten Spätpubertierenden habe ich | |
mich jedes Wochenende hingesetzt. Mit denen, die sich „abgehängt“ fühlten. | |
Die, die von den Medien nur als „Protestwähler“ abgestempelt wurden, ohne | |
ein wirkliches Interesse an den tatsächlichen Beweggründen für ihr Kreuz | |
rechts der Mitte | |
Ich habe mich hingesetzt und zugehört. Mehr war es häufig gar nicht. Leicht | |
alkoholisiert, erzählten mir Familienväter, Freunde von Freunden und völlig | |
Fremde von ihren Gründen, AfD zu wählen. | |
Die Argumentationskette war dabei immer dieselbe: Erst ein Ausgangsproblem | |
– sagen wir, Arbeitslosigkeit –, dann eine Aneinanderreihung von gefühlten | |
Wahrheiten und abschließend eine Schuldzuweisung. Ende der Zehnerjahre | |
waren die Schuldigen bei solchen Gesprächen immer Geflüchtete. Heute ist es | |
häufig eine Melange aus Grünen, Die Da Oben, der bösen Antifa und, immer | |
noch, Geflüchteten. | |
Das Schöne an diesen politischen Debatten an Biertischgarnituren war jedoch | |
die finale Einsichtigkeit vieler. Durch blankes Zuhören und gelegentliches | |
Fragenstellen konnten sich alle am Tisch Beteiligten häufig auf ein „Ach, | |
so schlimm ist es doch eigentlich gar nicht“ einigen. Das gab mir immer | |
wieder neue Hoffnung – na ja, mindestens bis zum nächsten Wahltermin. | |
## Hier zwischen Pulsnitz und Görlitz | |
Endlich sind Sie da! Immer noch verrückt, dass mein bester Freund heute | |
seine erste große Liebe geheiratet hat. Jetzt wird noch fix eine Birke | |
zersägt, aufgrund irgendeiner mir unbekannten Tradition, und dann: Zack an | |
die Bar! Zeit also, für ein gekühltes Blondes vom Fass. | |
Wer aus der Oberlausitz kommt – und da gibt es auch keine zwei Meinungen –, | |
weiß, welches Bier hier unweit der Landeskrone auf jeder Feierlichkeit | |
serviert wird. Genau das liebe ich so sehr an dieser Region – die Klarheit | |
bei Ist-Zuständen. Zumindest dachte ich das immer. Es gibt eine Biermarke, | |
einen Fußballverein, [1][eine anerkannte Minderheit] und zwei triftige | |
Gründe, über die nächstgelegene Grenze zu fahren. | |
Für ein heranwachsendes Migrakind mit zahlreichen Identitätskrisen war | |
diese Klarheit eine gewaltige Stütze. Denn in meinen tatsächlichen | |
Heimatländern war ich immer „der Deutsche“ und in Deutschland, außerhalb | |
der Oberlausitz, fühlte ich mich auch immer deplatziert und fremd. | |
Nur hier zwischen Pulsnitz und Görlitz, zwischen Weißwasser und Zittau | |
fühlte ich mich wirklich verstanden als das, was ich bin – als | |
Oberlausitzer. Bis heute bringt mich kein „wichtiges“ Sportereignis der | |
Welt dazu, die Deutsche Nationalhymne zu singen. Wenn jedoch Kurt Piehler | |
aus der Musikbox dröhnt und das Oberlausitzlied anstimmt, wird aus dem | |
links-grünen Migrakind ein frenetisch grölender Lokalpatriot. | |
## Die Region immer verteidigt | |
„Oberlausitz, geliebtes Heimatland. Glück und Reichtum bist du mir. Wär’s | |
auch noch so schön im fremden Land, stets gehört mein Herz nur dir.“ | |
Diese Hochzeit war für mich einer der wenigen Gründe, der Heimat mal wieder | |
einen Besuch abzustatten. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wann ich das | |
letzte Mal da war. Vermutlich zu Weihnachten. Doch wie konnte aus meiner | |
zugegebenermaßen etwas übertriebenen Heimatliebe ein Ort für | |
Notwendigkeitsbesuche werden? | |
Die Antwort darauf liefert Google. Im Ernst! Einfach mal nach meiner | |
Heimatstadt Bautzen googeln und die Frontpage auf sich wirken lassen. | |
Spätestens auf der News-Seite wird es wohl Klick machen. Stern, Spiegel, | |
Zeit Online und auch taz. Alle haben sie eine Meinung zu Bautzen. | |
Klar, vor einigen Tagen [2][liefen knapp 600 Nazis durch die Stadt und | |
bedrohten den Christopher Street Day.] Dazu dürfen auch Wessis eine Meinung | |
haben – vielleicht sogar auch, wenn sie noch nie hier waren. | |
Allen Zynismus gegenüber westdeutschen Großstadtjournalisten beiseite: | |
Früher, also als Jugendlicher, habe ich diese Region immer verteidigt. | |
Jedes Mal wenn eine neue Schlagzeile die Runde machte, egal ob es die | |
Hetzjagd auf Geflüchtete im November 2016 oder das abgebrannte | |
Flüchtlingsheim am [3][Husarenhof] wenige Monate zuvor war, fand man mich | |
auf Social Media in Verteidigungshaltung in die Tasten hauen. Denn ich war | |
der festen Überzeugung, dass die Mehrheit der Bautzner und die Mehrheit in | |
der gesamten Oberlausitz für eine offene und gerechte Gesellschaft kämpfen | |
würden. | |
Retrospektiv würde ich das wohl jugendliche Naivität nennen. Jede einzelne | |
überregionale Berichterstattung der Folgejahre und spätestens die | |
Coronazeit nahmen mir den Glauben und verwandelten ihn in Ekel, Trauer und | |
Unverständnis. | |
Eine gesamte Generation von Oberlausitzern kämpft Tag für Tag mit dem | |
Gefühl des Heimatverlustes. Jeder Heimatbesuch macht uns bewusst, dass die | |
nette Bäckersfrau von früher, der alte Fußballkollege aus Kindheitstagen | |
oder auch der eigene Onkel endgültig der Propaganda des Hasses verfallen | |
sind. | |
Jeder Besuch wird zur Qual. Jedes Familienessen zu einem Politikum. Und | |
jedes Dorffest zu einer neuen Schlagzeile für die Lokalpresse. | |
Dort, wo wir als Kinder spielten, in dieser so wunderschönen Region, | |
geprägt von sattgrünen Hügelketten und prall gefüllten Streuobstwiesen. | |
Dort, wo wir als Jugendliche unseren ersten Rausch durchlebten. Die ersten | |
Küsse austauschten. Und jede warme Sommernacht das Stadtbad zu unserem | |
kleinen ostdeutschen Nirvana machten, genau da regiert heute der Hass. | |
Ich bin unsagbar betrunken. Hoffentlich kommt das Taxi bald. Vom Tanzen der | |
Annemarie-Polka schmerzen die Beine, und ich habe schreckliche Angst vor | |
dem morgigen Kater. | |
Die Hochzeitsfeier war wiederum der Knüller. Und der Stolz auf meinen | |
besten Freund überwiegt alle oben genannten Übel. | |
So gern würde ich dieses Gefühl konservieren. Doch ich weiß, dass der | |
morgige Tag, neben dem körperlichen Schmerz durch den Alkohol, viel | |
Melancholie mit sich bringen wird. | |
In wenigen Tagen wird in Sachsen der neue Landtag gewählt. Alle Zeichen | |
stehen auf Blau. Genau wie 2019 werde ich vielleicht die CDU wählen müssen, | |
um AfD zu verhindern. Das heißt, eine Partei zu wählen, der ich meine | |
Stimme eigentlich nicht geben möchte und der ich die Zukunft meiner Heimat | |
nicht anvertrauen will. | |
So oft schon musste ich CDU wählen, um die AfD zu verhindern, dass ich müde | |
bin vom Wahlgang und der aktuellen Verfassung unserer Demokratie. | |
Müdigkeit ist auch das richtige Stichwort. Das Taxi ist da. Ein grau | |
melierter und schlaksiger Sachse steigt aus dem beigen Volkswagen. | |
„Wo solls’n hingehn?“ Ich verabschiede meinen besten Freund mit einem | |
Schmatzer auf die Backe und sage dem Taxifahrer die Adresse meines Hotels. | |
„Du willst ins Bimbo-Hotel?“ | |
„Wie bitte?“, erwidern ich und mein bester Freund gleichzeitig und | |
sichtlich verwirrt. | |
„Na, da hamse 2017 die Kanaken eingepfercht!“, bekommen wir mit einem | |
fetten süffisanten Grinsen ins Gesicht geworfen. | |
Es ist kurz vor drei Uhr und ich steige unweit meiner Geburtsstadt in ein | |
Taxi mit einem latent rassistischen Fahrer. | |
Ich bin erschöpft und lasse die gesamte Fahrt über sein Gesabbel über mich | |
ergehen. Wieder sage ich nichts und schlucke den Frust auf diesen | |
verlorenen Fleck Erde einfach runter. | |
Was bleibt, ist der Schmerz und die Angst, dass in wenigen Tagen hier eine | |
Partei voller rassistischer Taxifahrer regieren könnte, die mir und | |
Tausenden jungen Oberlausitzern die Heimat stehlen wird. | |
1 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Gianluca Siska | |
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