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# taz.de -- Schöff*innenwahl 2023: „Es gibt Grund zur Sorge“
> Ab nächstem Jahr werden wieder Schöff*innen gewählt. Die AfD sorgt
> dafür, dass immer mehr Rechte in dieses Amt kommen, sagt der Jurist
> Joachim Wagner.
Bild: Schöff*innen tragen keine Roben
taz am wochenende: Herr Wagner, können Sie einmal skizzieren, welche Stufen
durchlaufen werden müssen, um Schöff*in oder ehrenamtliche*r
Richter*in zu werden?
Joachim Wagner: Die Wahl erfolgt in zwei Stufen. In der ersten werden
Vorschlagslisten für das Ehrenamt von Gemeinden und Stadträten erstellt,
die dann an Gerichte weitergeleitet werden. In der zweiten Stufe
entscheiden dann die Richterwahlausschüsse an den jeweiligen Gerichten über
die endgültige Auswahl der Schöff*innen und ehrenamtlichen
Richter*innen aus den Listen. Solche Ausschüsse werden an allen
Gerichten vor den Wahlen gebildet, sofern sie mit Schöff*innen oder
ehrenamtlichen Richter*innen besetzt sind. Für beide Wahlinstanzen ist
für die Ernennung eine Zweidrittelmehrheit vonnöten.
Das klingt eigentlich simpel. Sie beschreiben jedoch in Ihrem Buch „Rechte
Richter“, dass dieses System defekt sei. Was ist damit gemeint?
Es gibt viele Probleme. Einerseits sind weniger Bürger*innen als
erforderlich bereit, dieses Ehrenamt freiwillig zu übernehmen. Sie müssen
zwangsverpflichtet werden. Zum anderen ist es festgeschrieben, dass die
Wahl der Schöff*innen unpolitisch zu erfolgen hat. Diese Annahme ist seit
den letzten Schöffenwahlen 2018 eine Illusion.
Warum?
Seit dem Erstarken der AfD ist ihr Einfluss auf kommunaler Ebene gestiegen.
Wie andere rechte Parteien in der Vergangenheit versucht auch die AfD,
Mitglieder und Sympathisant*innen zu ermuntern, sich für das Ehrenamt
als Schöff*in oder ehrenamtliche Richter*in zu bewerben. In den
Kommunalparlamenten einiger Bundesländer haben insbesondere SPD, Linke und
Grüne Bewerber auf dem AfD-Ticket bei Schöffenwahlen 2018 verhindert.
Dadurch sind die Schöffenwahlen zu einem Politikum mutiert. Das dritte
Problem bei der Schöffenwahl liegt in Großstädten. Dort ist es für die
Wahlausschüsse auf der zweiten Stufe in der Regel unmöglich, Personen aus
politisch problematischen Spektren zu erkennen. Dadurch wird die Wahl zum
Blindflug.
Nach dieser Erläuterung scheint das Wahlsystem doch sehr demokratisch
vonstatten zu gehen. So besitzen beide Instanzen eine Kontrollfunktion, um
zu verhindern, dass rechtsextreme Personen an das Amt kommen, oder?
Die Gerichte sowie das Gerichtsverfassungsgesetz sind darauf bedacht, dass
diese Wahlen unpolitisch stattfinden. Zweidrittelmehrheiten für jeden
Bewerber auf beiden Stufen sollen dies gewährleisten. Zudem werden beim
Abfragen persönlicher Daten Parteimitgliedschaften absichtlich nicht
erhoben. Diese Rechtslage verhindert eine effektive Kontrolle.
Welche Rolle und damit einhergehende Macht besitzen ehrenamtliche
Richter:innen?
Rechte Parteien und Gruppen versuchen seit Jahrzehnten, Personen in das
Schöffenamt zu bekommen, da es ihnen eine direkte Teilhabe an staatlicher
Machtausübung ermöglicht. Tatsächlich ist es aber so, dass Schöff*innen
und ehrenamtliche Richter*innen selten den erhofften Einfluss bekommen,
da Berufsrichter*innen die Rechtsfindung mit ihrer juristischen
Kompetenz meist dominieren. Dennoch gibt es Gerichte, wie etwa das
Schöffengericht in der Strafjustiz, wo zwei Schöff*innen den*die
Berufsrichter*in bei der Urteilsfindung überstimmen können, was in der
Praxis in Ausnahmefällen auch schon vorgekommen ist.
Die kommende Schöffenwahl 2023 wird die zweite mit der AfD als starke
Partei in den neuen Bundesländern sein. Wird dies zu einem Rechtsruck bei
den bevorstehenden Wahlen führen?
Schon bei den letzten Wahlen von Schöff*innen und ehrenamtlichen
Richter*innen 2018 hat die AfD in einigen Bundesländern eine gewichtige
Rolle gespielt. Dort hat sie eigene Kandidaten ins Rennen geschickt. In
Niedersachsen, Hessen, Bayern, Sachsen-Anhalt und NRW ist es dabei zu
erheblichen Konflikten mit SPD, Linken und Grünen gekommen. Dort haben die
drei Parteien in Einzelfällen AfD-Bewerber mit ihrer Sperrminorität von
über einem Drittel aller Stimmen im Ehrenamt verhindert. Grundsätzlich ist
in den neuen Bundesländern das politische Klima anders. Zwar gab es das
Phänomen der Sperrminorität auch dort, doch viel häufiger wurden die
Vorschläge der AfD abgenickt, um Konflikte zu vermeiden.
Hat die AfD aus diesen Wahlniederlagen gelernt?
In einigen Bundesländern ja. Sie schlägt nicht mehr eigene
Kandidat*innen vor, sondern ermuntert Sympathisant*innen, sich
eigenständig für das Schöffenamt zu bewerben. Über diesen indirekten Weg
gelang es der Partei, dass diese Personen auch gewählt wurden, weil ihre
politischen Ansichten nicht bekannt waren. Das wird bei den kommenden
Schöffenwahlen wohl wieder passieren.
Vermuten Sie, dass es durch den Einfluss rechter Parteien und
Organisationen zu einer Unterwanderung des Schöffenamtes kommen wird?
Ich würde nicht von einer Unterwanderung sprechen, das wäre zu weit
gegriffen. Die Partei besitzt bundesweit zu wenig Einfluss und
Organisationskraft, um diese Aufgabe zu bewältigen. Bisher handelt es sich
hier um ein Randphänomen. Aber es gibt Grund zur Sorge, dass sich
Einzelfälle häufen, insbesondere nach dem Rechtsruck auf dem AfD-Parteitag
in Riesa. Außerdem wäre es verfehlt, den Blick auf AfD-Anhänger*innen zu
verengen. Gefahren drohen aus dem ganzen rechten Spektrum. Ein Dutzend
Neonazis, Reichsbürger*innen und Anhänger*innen der Identitären
Bewegung sind in der Vergangenheit bereits rechtskräftig aus dem
Schöffenamt entfernt worden.
Welche Instrumente besitzt die Judikative, um sich gegen radikale Kräfte zu
wehren?
Weil auf beiden Wahlebenen eine unpolitische Auswahl der Kandidat*innen
erfolgen soll, ist es immens schwer, Bewerber mit einer
rechtsextremistischen Gesinnung von den Vorschlagslisten fernzuhalten. Das
mag in kleinen Kommunen noch gelingen, wo man sich persönlich kennt. In
größeren Gemeinden und anonymen Städten ist das Entdecken von
rechtsextremen Bewerber*innen fast unmöglich. Auch das vorgeschriebene
öffentliche Aushängen von Listen mit den gewählten Schöff*innen in
Rathäusern hilft in der Regel nicht weiter, weil die keiner liest.
Was, wenn ein konkreter Verdacht besteht?
Zwar wird bereits auf Länderebene diskutiert, ob man den Verfassungsschutz
in den Wahlprozess einbinden soll, etwa bei einem konkreten Verdacht gegen
eine*n Bewerber*in oder bei der Frage, ob rechte Parteien und Gruppen
Mitglieder und Unterstützer*innen vor den Wahlen aufgefordert haben,
sich als Schöff*in oder ehrenamtliche*r Richter*in zu bewerben.
Solche Anfragen sind in Hamburg und in NRW im Zusammenhang mit „Pro
Deutschland“ bereits vorgekommen, aber Ausnahme geblieben. Die politische
Diskussion hierüber ist in den Anfängen stecken geblieben.
Kann man überhaupt eine rechtsradikale Person aus dem Ehrenamt entfernen?
Ja, das geht nur auf dem Klageweg vor den zuständigen Gerichten. Dies
geschieht vor allem dann, wenn sich Schöff*innen während ihrer Amtszeit
außergerichtlich verfassungsfeindlich äußern. Solche
Amtsenthebungsverfahren finden selten statt.
Der Bundesjustizminister fordert eine explizit gesetzlich festgelegte
Bindung von ehrenamtlichen Richter*innen an die Verfassungstreue – wieso
gibt es die nicht längst?
Hier handelt es sich um eine Gesetzeslücke. Schon 2008 hat das
Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung aufgefordert, sicherzustellen,
dass die Verfassungstreue von Schöff*innen und ehrenamtlichen
Richter*innen gewährleistet wird. Dies ist bis heute nicht explizit
geschehen, wird aber dennoch von der Rechtsprechung so praktiziert. Eine
gesetzliche Klarstellung ist trotzdem notwendig. Unser Rechtsstaat darf
keine Zweifel an seiner Haltung gegenüber radikalen und antidemokratischen
Kräften aufkommen lassen und muss ihnen den Weg auf die Richterbank
versperren. Was mit der geltenden Rechtslage nicht ganz einfach sein wird.
25 Sep 2022
## AUTOREN
Gianluca Siska
## TAGS
Gerichtsprozess
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Ehrenamt
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Schwerpunkt Neonazis
Schwerpunkt AfD
Rechtstextreme
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