# taz.de -- Gemeinschaftliches Singen in Hamburg: Vom Glück des Singens | |
> Singen wirft immer auch Fragen auf: Ob man als Kölnerin etwa bei Shantys | |
> mittun darf? Klärung findet sich beim Chorsingen im Museum am Rothenbaum. | |
Bild: Singen ist das Ding der Beach Boys. Und Beach-Boys-Titel singt man gern | |
Ist das jetzt peinlich, wenn man Shantys mag? Womöglich sogar singt, wenn | |
auch nicht im Fischerhemd? Hm! In meiner Kölner Heimat ist es jedenfalls | |
nicht ehrenrührig, ganzjährig [1][Mundartlieder der Bläck Fööss] zu singen. | |
Dabei tun die ja nur tümelnd, sind gar keine echten Volkslieder, sondern | |
wurden seit Bandgründung 1970 erfunden. Haben sich aber inzwischen als | |
Volksgut breitgemacht. | |
Das norddeutsche Shanty dagegen ist ja wohl handfestes Seebärkulturgut, | |
tief in Nord- und Ostsee, in den großen weiten Weltmeeren verankert, man | |
denke an den guten alten Hans Albers. Schön rhythmisch, evoziert es nicht | |
nur flotte Fahrt bei gutem Wind, sondern gab einst auf Großseglern den | |
Arbeitsrhythmus vor beim Takeln, Fieren und sonsterlei Betätigung an Bord. | |
Wohingegen das kölsche Lied immer Feierlied war und ist – ob an Karneval | |
oder beim Sommerfest. By the way: Darf ich als Kölnerin überhaupt Shantys | |
singen, oder ist das eine kulturelle Aneignung? Soll ich gefälligst nicht | |
so tun, als gehörte ich dazu, nur weil ich „When the Wellerman comes“ | |
mitgrölen kann? | |
Egal, beim offenen Chorsingen im Innenhof des ethnologischen Hamburger | |
Museums, 2018 griffig umbenannt in „Museum am Rotherbaum. Kunst und | |
Kulturen der Welt“ (kurz MARKK), werde ich das nicht gefragt. Da spielt | |
Herkunft keine Rolle, alle sind willkommen. Als MitarbeiterInnenchor ist | |
das zweiwöchentliche Treffen 2018 entstanden, ansteckungsarm draußen im Hof | |
unter einem Zeltdach, damit sich der Klang nicht in alle Winde zerstreut. | |
Hier im Hof des 1879 gegründeten, seine koloniale Vergangenheit peu à peu | |
aufarbeitenden Museums wurden schon viele Feste gefeiert. Hier hat der | |
kanadisch-indigene Künstler [2][David Seven Deers] 1997 den meterhohen | |
„Totempfahl“ geschnitzt, der jetzt am Museum steht. Hier gab und gibt es | |
rauschende Feste verschiedenster Hamburger Communitys. Hinten rechts sitzt | |
ein steinerner Wasserbüffel, der sehnsüchtig nach dem Vogeltrinkschälchen | |
schaut, das er zeitlebens verfehlen wird. Gleich daneben der gemauerte | |
Ofen, den der frühere Museumsdirektor bauen ließ, damit bei portugiesischen | |
Festen Brot gebacken werden konnte. | |
## Zuerst muss man noch leise sein | |
Drinnen im Museum geht gerade das Junge-Leute-„Get Together“ zu Ende, da | |
müssen wir Chorleute noch leise sein. Empfangen wurden wir übrigens mit dem | |
freundlichen Hinweis, man solle nicht zu viel erwarten, „denn wir sind | |
keine Profis“. | |
Habe ich sowieso nicht erwartet, stelle mich jetzt aber auf schlimmes | |
Gequietsche ein – und werde angenehm überrascht: Alsbald betreten zwei | |
Gitarristen den Hof, ein Xylophon wird geholt und eine Cachon. Jeder | |
bekommt einen Stapel Liedtexte in die Hand, und es fängt an: „I like the | |
flowers“ – wie schön, das hatte ich schon vergessen. „Copacabana“ – … | |
wusste ich noch. Wunderbar grölig: „Sloop John B.“, das man von den Beach | |
Boys kennt, hier mit hochkarätiger Xylophonbegleitung. Beim „Wellerman“ | |
triumphiert die Cachon. | |
Wir singen uns durch die Jahrzehnte; auch ein, zwei deutsche Lieder sind | |
dabei, „Heute hier, morgen dort“ von Hannes Wader zum Beispiel. Alle sind | |
glücklich, die Stimmung ist groß. Kein Gedanke an die Vorbehalte der 1960er | |
Jahre gegen das im NS-Staat so misshandelte Volkslied, kein Gedanke an die | |
schwer erträglichen, andererseits so beliebten Fischer-Chöre der 1970er – | |
sondern einfach nur harmloses Glück. | |
Und wie ich da so selbstvergessen singe, fällt mir ein, dass etliche aus | |
meinem Freundes- und Bekanntenkreis irgendwie, irgendwo singen – die einen | |
experimentell, die anderen 1960er-Jahre-Songs, wieder andere im | |
Projektchor. Auch das sommerliche [3][Dünensingen auf Spiekeroog] ist Kult, | |
und in Köln gibt es samstags das Straßeneckensingen, zweckfrei und gut | |
besucht. | |
Weil es ein Bedürfnis ist – und weil es Gemeinschaft stiftet, sogar | |
revolutionäre Kräfte freisetzen kann. Man denke an die [4][„Singende | |
Revolution“] von 1989 – jene 620 Kilometer lange Menschenkette durch | |
Estland, Lettland und Litauen, mit der sich diese Völker von der | |
Sowjetunion befreiten. | |
26 Aug 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Bl%C3%A4ck_F%C3%B6%C3%B6ss | |
[2] https://sh-kunst.de/kuenstler/seven-deers-david/ | |
[3] https://www.spiekeroog.de/erleben/veranstaltungen/kalender | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Singende_Revolution | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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