# taz.de -- Symposium über Antideutsche: Im Schwitzkasten der Ideologien | |
> Unsere Autorin fragt sich schon lange, was antideutsch ist. Eine | |
> Veranstaltung in Berlin verspricht Antworten. Kann das gut gehen? | |
Bild: Heiß war es im Hörsaal der Humboldt-Universität in Berlin, und drauße… | |
Ist das ein Fiebertraum? Das werden sich manche bei der Podiumsdiskussion | |
gefragt haben, die Anfang August an der Humboldt-Universität zu Berlin | |
stattgefunden hat. Das Thema: [1][Antideutsche]. Vor der Veranstaltung | |
hatte ich große Hoffnungen. Endlich die Antwort auf eine politische Frage | |
zu finden, die ich mir gestellt habe. Ich bin links, ich mache Witze über | |
Deutsche, ich verteidige [2][manchmal Israel]. Bin ich deshalb antideutsch? | |
Der Titel, eine Enttäuschung: „Was waren die Antideutschen?“ Wie bitte? | |
[3][Die Strömung] soll schon tot sein, bevor ich sie verstanden habe. Da | |
auch die Linke öfter für tot erklärt wurde, als sie sterben kann, wollte | |
ich dem Event eine Chance geben. Schließlich wird ja antideutsch bzw. | |
Anti-D immer noch verwendet, meist beleidigend gemeint oder gar als | |
Feindbild: Bei der [4][International Queer Pride] wurden dieses Jahr | |
Antideutsche explizit ausgeladen. | |
Eingeladen wurden „die Antideutschen“ am 2. August von der [5][Platypus | |
Affiliated Society], um „auf die Bewegung zurückzublicken“. Platypus ist | |
eine Organisation, die mithilfe von Lesekreisen aufzeigen will, was | |
Marxismus mal war. | |
Meine besser gebildeten Freunde waren etwas aufgeregt wegen der Gäste: Das | |
Urgestein der Anti-Deutschen, Justus Wertmüller, wurde auf das Podium | |
eingeladen („Den wollte ich schon immer mal sehen“) sowie Detlef zum Winkel | |
(„einfach wholesome Linksliberaler“). Außerdem Jan (ohne Nachname) von | |
Platypus und Jan (ebenfalls ohne Nachname) von der Gesellschaft für | |
kritische Bildung. | |
250 Menschen schienen die Aufregung zu teilen, der Hörsaal war trotz circa | |
35 Grad Innentemperatur brechend voll. Die Holzbänke quietschen, die | |
feucht-fiebrige Hitze sorgt schon zu Beginn für einen unangenehmen | |
Schweißgeruch. | |
## Nur Männer | |
Ich bereue deshalb meine Entscheidung. Ich bleibe, wegen der amüsierenden | |
Kommentare des stabilen älteren Pärchens hinter mir. „Was, nur Männer?!“, | |
sagt der Mann empört zu der Frau. „Das trauen sich nur noch die | |
Antideutschen heutzutage.“ Ein Blick durch den Saal verrät: Viele sind | |
jung, männlich, intellektuell gebildet. | |
Ich habe noch nie so viele Polohemden mit Fred-Perry-Logo auf einmal | |
gesehen. Nun aber zum Inhalt: Der Moderator forderte die Teilnehmer auf, | |
über politische Wendepunkte in den letzten zwei Jahrzehnten zu sprechen, | |
die den Begriff antideutsch geprägt haben. Ein paar Mal macht es Klick, bei | |
den Ausführungen von Detlef zum Winkel. Antideutsch sein bedeutete die | |
Abneigung und Abgrenzung der Nationalbewegung zur Wiedervereinigung | |
1989/90. | |
Dann erwähnt er einen Punkt, der das Bezugsmerkmal der Antideutschen zu | |
sein scheint: bedingungslose Solidarität mit Israel. Wie kam es historisch | |
dazu? Eine Wurzel der antideutschen Positionen, so zum Winkel, liege im | |
Entsetzen über irakische Luftangriffe auf Israel im Golfkrieg 1991, der die | |
linksextremistische Friedensbewegung mit Gleichgültigkeit zugesehen habe. | |
Es sei daraus eine linke Position entstanden, die sich israelsolidarisch | |
und strikt antifaschistisch aufgestellt hätte. Einer der spannendsten | |
Punkte des Abends, über den ich gern mehr gelernt hätte. (Auch als | |
Argumentationsgrundlage, wenn es mal wieder wie so oft heute bei einem | |
lockeren Kneipenabend um die Israelfrage geht.) Auch 2,5 Stunden hitziges | |
Podium haben mir zum Verständnis nicht ausgereicht. | |
Der [6][Star des Abends] war Wertmüller, Anti-D seit der ersten Stunde, | |
Redakteur bei der Berliner [7][Zeitschrift Bahamas] – einst ein wichtiges | |
Organ der Antideutschen, heute ein Nischenblatt, das sich von linken | |
Positionen immer mehr entfernt. In der aktuellen Ausgabe wird etwa die | |
[8][Ramadanbeleuchtung] in Frankfurt am Main als Handreichung zur | |
Islamisierung gesehen. Die Zeitschrift gefällt sogar dem Rechtsextremisten | |
Martin Sellner. | |
Wertmüller spricht schnell, mit der Stimme eines Sportkommentators aus den | |
50ern. Es folgen Anschuldigungen gegen alles, was irgendwie links ist. Die | |
„Queeren“ seien alle propalästinensisch, die deutsche Linke würde sich den | |
„zweiten Holocaust gar sinnlich“ herbeiwünschen, sie seien außerdem für … | |
Regime in der UdSSR verantwortlich. | |
## Plötzliche Unruhe im Saal | |
Bei all dem Durcheinander mögen die Zuhörenden fast vergessen, dass er die | |
Frage „Was waren die Antideutschen?“ überhaupt nicht angeschnitten hat. Es | |
ist still im Saal, wenn Wertmüller redet. Teils, weil niemand die Shitshow | |
verpassen will, aber auch, weil sich Wertmüller-Fanboys im Publikum | |
befinden. | |
Jan von Platypus ist differenzierter und versucht, die Aussagen von | |
Wertmüller einzuordnen, will aufzeigen, wo Anti-Ds an der Linken | |
erfolgreich Kritik geübt haben. Die beiden Jans zitieren ein Stück eines | |
anderen Jans, nämlich Jan Gerbers „Die Antideutschen – ein Nachruf“, der | |
dieses Jahr in der Bahamas erschienen ist. Mentale Notiz: Das sollte ich | |
auch mal lesen. Zum Winkel weist auf Erfolge der Antideutschen hin, etwa | |
dass es so viele heute schaffen, gemeinsam gegen die AfD aufzustehen. | |
Im Saal kommt Unruhe auf, nicht aber wegen des Gesagten, sondern weil | |
draußen ein palästinasolidarischer Autokorso die Veranstaltung stört. Wegen | |
des Huplärms müssen die Fenster geschlossen werden und die Luftfeuchtigkeit | |
katapultiert einen auf die Bahamas. | |
## Theatralischer Abgang | |
Als Jan von Platypus sagt, dass sich Linke nicht „plump auf die Seite einer | |
Regierung schlagen“ dürfe, tritt Wertmüller – von Zwischenrufen begleitet… | |
theatralisch vor das Pult: Von Jan will er wissen: „Auf die israelische – | |
ja oder nein?“ Als Jan mit „Nein“ antwortet, stürmt Wertmüller mit den | |
Worten „Yallah Intifada, ich gehe“ aus dem Hörsaal. | |
Im Schlepptau hat er rund 30 jüngere Wertmüllers aus dem Publikum, die | |
Fred-Perry-Cap-und-Polohemden-Fraktion. Sein Abgang wirkt inszeniert, | |
gerade passend nach dem Propalästinakorso vor der Tür und gerade | |
rechtzeitig vor möglicher Kritik aus dem Publikum an seinen Darstellungen. | |
Vielleicht, denke ich, ist das schon die Offenbarung, die ich mir vom Panel | |
erhofft habe. | |
Obwohl auf dem Podium nur Menschen sitzen, die sich mit der antideutschen | |
Strömung identifizieren oder sie durchdringen wollen, kann Wertmüller eine | |
Diskussion offenbar nicht aushalten. Schade. | |
Nach seinem Abgang erfrischt sich die Luft etwas und es gibt eine | |
Fragerunde. Es geht um Erfolge und die Zukunft der Anti-Ds. Zum Winkel rät | |
zur Unterstützung von Omas gegen rechts. Viele junge Menschen stellen kluge | |
Fragen. | |
Wenn man sich die so anhört, dann gibt es noch Hoffnung für eine Linke, die | |
sich konsequent gegen Antisemitismus und Nationalismus positioniert. Ob sie | |
sich nun antideutsch nennt oder nicht, ist mir eigentlich egal. So lang mir | |
niemand erklären kann, woran die Anti-Ds gestorben sein sollen, erkläre ich | |
sie noch nicht für tot. | |
20 Aug 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Linke-in-Sachsen/!6026800 | |
[2] /Nahost-Konflikt-in-der-Linken/!6011818 | |
[3] /Mobbing-bei-der-Hamburger-Linken/!5866631 | |
[4] /Queere-und-der-Nahost-Konflikt/!6024046 | |
[5] https://platypus1917.org/ | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=WLWm2DZwgAY&t=27s | |
[7] https://redaktion-bahamas.org/ | |
[8] /Ramadan-Beleuchtung-in-Frankfurt/!5996022 | |
## AUTOREN | |
Ann-Kathrin Leclere | |
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