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# taz.de -- Streit um Neutralitätsgebot: Legal, illegal, nicht neutral
> In Sachsen fürchten zivilgesellschaftliche Projekte mit politischer
> Haltung um ihre Förderung. Ein Gutachten sagt nun: Sie müssen nicht
> neutral sein.
Bild: Demo für Demokratie im Juni in Leipzig: Wer darf zu Anti-AfD-Protesten a…
Berlin/Freiburg taz | Zivilgesellschaftliche Organisationen dürfen auch
dann die AfD kritisieren, wenn sie staatlich gefördert werden. Zu diesem
Schluss kommt der Mainzer Rechtsprofessor Friedhelm Hufen [1][in einem
Gutachten], das an diesem Mittwoch in Dresden vorgestellt wurde und das der
taz vorliegt.
Anlass von Hufens Gutachten war ein [2][Sonderbericht des sächsischen
Landesrechnungshofs] aus dem März 2024. Der Rechnungshof kritisierte dabei
die Förderung von Projekten für „integrative Maßnahmen“ für Flüchtling…
Migrant:innen als „in einem hohen Maße rechtswidrig“. Die
Auswahlkriterien seien unklar gewesen. Fachlich geeignete Projekte hätten
keine Gelder bekommen, während Projekte gefördert wurden, die dem
sächsischen Sozialministerium von Ministerin Petra Köpping (SPD) politisch
nahestünden.
Umstritten waren vor allem die Ausführungen des Rechnungshofs zur
Neutralität. Danach dürfe das Ministerium seine eigene Verpflichtung zur
politischen Neutralität nicht dadurch umgehen, dass es
zivilgesellschaftliche Gruppen finanziere, die dann andere Parteien auf
eine Art und Weise angriffen, die dem Ministerium verboten wäre. Die
geförderten Vereine und Projekte bildeten außerdem, so der Rechnungshof,
„nicht die Vielfalt des Meinungsspektrums“ ab. Politische Bildung und
politischer Lobbyismus würden nicht sauber getrennt.
Das sächsische Sozialministerium hatte eingeräumt, dass manche
„Zuwendungsempfänger“ die Projektarbeit nicht ausreichend von ihrer
sonstigen Vereinstätigkeit unterschieden und „Fördermittel in unzulässiger
Weise für ihre politische Arbeit verwendet haben“. Das Ministerium selbst
habe aber keinen Einfluss auf den Parteienwettbewerb genommen. Die
geförderten Projekte hätten „ausschließlich integrationspolitische
Zielsetzungen“ gehabt.
## Mangelnde Kompetenz
Die sächsische Zivilgesellschaft war jedoch alarmiert und sah eine Gefahr
für die Förderung von gesellschaftspolitischen Projekten weit über die
Integration von Flüchtlingen hinaus. So entstand die Idee, ein Gutachten
zum Sonderbericht des Rechnungshofs in Auftrag zu geben, insbesondere zu
dessen Ausführungen zum Neutralitätsgebot. Finanziert wurde es im
wesentlichen von der Cellex-Stiftung des Kölner Medizintechnik-Unternehmens
Cellex. Unterstützt wurde es von der Amadeu-Antonio-Stiftung, der
Freudenberg-Stiftung und der Schöpflin-Stiftung.
Rechtsprofessor Hufen zweifelt zunächst die Kompetenz des Rechnungshofs an,
sich überhaupt zur Auslegung des Neutralitätsgebots zu äußern. Dies gehe
über seine Aufgabe hinaus, die Haushalts- und Wirtschaftsführung des
Freistaats Sachsen zu prüfen. Der Rechnungshof habe durch seine einseitige
Stellungnahme selbst seine Pflicht zur Neutralität verletzt.
Aber auch inhaltlich lehnt der Rechtsprofessor die Prämissen des
Rechnungshofs ab. Das Neutralitätsgebot hält er für überholt, relevant sei
eher ein Gebot der sachlichen Auseinandersetzung. Jedenfalls seien
zivilgesellschaftliche Organisationen nicht zur Neutralität verpflichtet,
auch wenn sie staatliche Fördergelder erhielten.
Das Ministerium müsse bei der Auswahl der zu fördernden Projekte auch nicht
die gesamte Vielfalt des politischen Spektrums berücksichtigen, so das
Gutachten, sondern dürfe sich auf politisch nahestehende Initiativen
konzentrieren. Organisationen, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgten
(er nennt dabei nicht die AfD) oder sonst wichtige Verfassungswerte
ablehnten, müssten ohnehin nicht finanziell gefördert werden.
## Kritik, aber sachlich
Der Rechnungshof, so die Kritik von Hufen, wende das Neutralitätsgebot
viel zu formal an. Zu berücksichtigen seien auch andere Verfassungswerte,
etwa das Prinzip der wehrhaften Demokratie, das den Einsatz gegen Feinde
der freiheitlich demokratischen Grundordnung verlange. Eine Trennung
zwischen politischer Bildung und politischem Engagement sei künstlich.
Aus diesen eigenen Prämissen leitet Hufen Empfehlungen für das Verhalten
von staatlich geförderten zivilgesellschaftlichen Initiativen ab. So
könnten sie in ihrer Arbeit durchaus auch politische Parteien kritisieren.
Sie müssten dabei aber sachlich bleiben; NS-Vergleiche hält Hufen für
unsachlich.
Bei Veranstaltungen müssten grundsätzlich alle relevanten Parteien
eingeladen werden, außer dies widerspreche dem Ziel der Veranstaltung. So
müssten zu einem Europafest keine Europagegner eingeladen werden. Aufrufe
zu Boykottmaßnahmen, ja selbst zu Gegendemonstrationen, müssten staatlich
geförderte Projekte unterlassen, so Hufen.
Mit dem Gutachten hätten sie und die anderen beteiligten Stiftungen mehrere
Punkte klären wollen, sagt Eva Sturm von der Cellex-Stiftung: Wann und wie
das Neutralitätsgebot zu interpretieren und wer dafür eigentlich zuständig
sei. Sie beobachte deutschlandweit eine „verunsicherte Zivilgesellschaft“,
so Sturm: „Es wird massiv darum gestritten, wie das Neutralitätsgebot
ausgelegt werden sollte, es wabert da herum und die Träger der
Demokratiearbeit fragen sich: Was dürfen wir überhaupt sagen? Da wollten
wir eine verfassungsrechtliche Klarstellung.“
## Freie Träger unter Druck
Der Rechnungshof habe sich „sehr weit aus dem Fenster gelehnt – seine
Auslassungen zum Neutralitätsgebot sind geradezu übergriffig“, so Sturm.
„Die inhaltliche Prüfung ist nicht die Aufgabe des Rechnungshofs.“ Das
Gutachten arbeite nun heraus: „Politische Arbeit und politische Bildung,
der Einsatz für Demokratie, das kann nicht neutral sein.“ Beim Schutz von
Minderheiten müssten „demokratiegefährdende Tendenzen wie
Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus oder Homophobie benannt werden
dürfen – ebenso wie jene, von denen diese Gefahr ausgeht“.
Auch Michael Nattke vom [3][Kulturbüro Sachsen begrüßt das Gutachten]. Es
gebe „Sicherheit – nicht nur für die freie Trägerlandschaft in Sachsen,
sondern bundesweit“. Viele freie Träger seien durch den Sonderbericht des
Rechnungshofs unter Druck geraten, so Nattke. So sei die Förderrichtlinie
des sächsischen Sozialministeriums entsprechend angepasst worden.
„Besonders die Punkte zur politischen Neutralität müssen nun dringend
wieder rückgängig gemacht werden.“
So sieht es auch Mamad Mohamad, Co-Vorsitzender der Bundeskonferenz der
Migrantenorganisationen (BKMO) wie auch Geschäftsführer des Landesnetzwerks
der Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (Lamsa). „Sollte die Auslegung
des Rechnungshofs Bestand haben, wäre die Arbeit aller Verbände von einem
Tag auf den anderen nicht mehr fortsetzbar“, sagt er. „Was dürfen wir denn
dann noch machen, Erbsen zählen und Nachhilfe geben?“
## Auftrag in der Satzung
Gemeinnützige Organisationen seien auf Förderung angewiesen. Die Debatte um
das Neutralitätsgebot und seine Interpretationsspielräume versetze Träger
in der Demokratiearbeit „nicht nur in Sorge, sondern in Panik“.
Die Verbände vor Ort entstünden in Reaktion auf konkrete Anlässe, häufig
als Reaktion auf bestehende Missstände. „Ihre Satzungen verpflichten sie,
die Interessen spezifischer Gruppen zu vertreten, darunter Migrant*innen,
Geflüchtete und Menschen mit Behinderung“, so Mohamad. „Politische Arbeit
kollidiert per se mit der von Rechnungshof angeführten Definition von
Neutralität. Die Arbeit für Demokratie, also für Teilhabe,
Gleichberechtigung oder Selbstbestimmung, kann folglich nicht als neutral
bezeichnet werden.“
Ob das sächsische Sozialministerium der Auffassung des Gutachtens folgen
wird, ist allerdings unklar. Auf Anfrage der taz wollte sich das
Ministerium nicht äußern.
15 Aug 2024
## LINKS
[1] https://www.cellex-stiftung.org/de/news/rechtsgutachten
[2] http://www.rechnungshof.sachsen.de/SonderberichtIntegrativeMassnahmen.pdf
[3] https://kulturbuero-sachsen.de/rechtsgutachten-zum-sogenannten-neutralitaet…
## AUTOREN
Christian Rath
Dinah Riese
## TAGS
Zivilgesellschaft
Demokratieprojekte
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