# taz.de -- Russische Autorin über Leben im Exil: „Die Propaganda funktionie… | |
> Die russische Autorin Alissa Ganijewa lebt seit zweieinhalb Jahren im | |
> Exil. Repression in ihrem Heimatland machte sie früh zur | |
> Regimekritikerin. | |
Bild: Alissa Ganijewa wurde 1985 in Moskau geboren und ist in Dagestan aufgewac… | |
taz: Frau Ganijewa, Sie stellen sich seit Jahren öffentlich gegen Putin und | |
die Politik des Kreml und leben seit zweieinhalb Jahren im Exil. Wie ist | |
Ihr Kontakt nach Russland? | |
Alissa Ganijewa: Viele meiner Freunde sind Schriftsteller wie ich. Mit | |
denjenigen, die meine kritische Haltung zum Überfall Russlands auf die | |
Ukraine teilen, stehe ich im Austausch. Sie können in Russland ihre Meinung | |
nicht laut sagen und leiden darunter. Sie haben sich zurückgezogen und ihr | |
früheres sehr aktives kulturelles Leben verloren. Das ist wirklich hart. | |
Aber ich kenne auch Schriftsteller, die sich quasi bestechen lassen. Sie | |
nehmen an offiziellen Kulturveranstaltungen wie zum Beispiel Buchmessen | |
teil und halten so die Fassade Russlands aufrecht, dass alles in Ordnung | |
sei. Das sehe ich sehr kritisch. | |
taz: Als Sie mich vorhin am Empfang des Wissenschaftskollegs abgeholt | |
haben, hatten Sie Ihr kleines Kind dabei. Wie ist es, mit Kind im Exil zu | |
sein? | |
Ganijewa: Ich hatte meine Emigration aus Russland nicht wirklich | |
vorbereitet, ich bin erst mal mit meinem Mann zu Freunden nach Estland | |
gefahren. Danach sind wir nach Kasachstan gegangen, dort habe ich meine | |
Tochter bekommen. Dadurch bin ich vorsichtiger geworden, weniger mutig | |
vielleicht. Aber ich kann auch nicht schweigen. | |
taz: Sie sind in der russischen Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus | |
aufgewachsen. [1][Ende Juni wurden dort islamistische Terroranschläge auf | |
Kirchen und eine Synagoge verübt], unter anderem in Ihrer Heimatstadt | |
Machatschkala. Kam das für Sie unerwartet? | |
Ganijewa: Leider nicht. Dagestan ist eine muslimisch geprägte Region, auf | |
die islamistische Akteure aus anderen Ländern in den letzten 25 Jahren | |
vermehrt Einfluss genommen haben. Terroristische Angriffe auf Polizisten | |
kamen früher häufig vor, da sie von den islamistischen Gruppen als | |
Vertreter des säkularen Staats abgelehnt werden. | |
Ab 2014 wurde es eigentlich ruhiger, weil der sogenannte Islamische Staat | |
die meisten Extremisten eingezogen hat. Oft waren die Täter ungebildet und | |
leicht zu beeinflussen. Deshalb hat es mich überrascht, dass die | |
mutmaßlichen Täter dieses Mal aus wohlhabenden Familien kommen. Sie haben | |
eigentlich vom korrupten Staat profitiert. Und auch, dass Kirchen und die | |
Synagoge angegriffen wurden, ist neu. Das steht sicher auch im Zusammenhang | |
mit den judenfeindlichen Vorfällen im Herbst. | |
taz: Im Oktober letzten Jahres kam es in Dagestan zu antisemitischen | |
Unruhen. Unter anderem [2][stürmte ein Mob den Flughafen von | |
Machatschkala], um Jagd auf jüdische Passagiere einer aus Tel Aviv | |
gelandeten Maschine zu machen. | |
Ganijewa: Genau. Dabei war es lange sehr untypisch für Dagestan, | |
Minderheiten gegenüber intolerant zu sein, weil dort Menschen vieler | |
verschiedener Ethnien leben, auch Juden. Aber Dagestan ist eine arme, | |
abgehängte Region, immer mehr Menschen radikalisieren sich. Das | |
widerspricht natürlich dem Bild, das die Regierung nach außen zu vertreten | |
versucht, dass Russland ein tolerantes, mehrsprachiges und | |
multikonfessionelles Land sei. | |
taz: In Ihrem Buch „Eine Liebe im Kaukasus“ schreiben Sie über das | |
alltägliche Leben in Dagestan, über die Ödnis einer Siedlung und die | |
konservativen, patriarchalen Einstellungen ihrer Bewohner:innen. Wie stehen | |
diese sozialen Strukturen im Zusammenhang mit der islamistischen | |
Radikalisierung? | |
Ganijewa: Diese Siedlungen gibt es erst seit den 1960er Jahren. Früher | |
wohnten die Leute im Nordkaukasus in Dörfern in den Bergen, sie hatten ihre | |
eigene jahrhundertelange Tradition. Während der Sowjetherrschaft wurden die | |
Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und erst nach Tschetschenien und dann | |
in diese Siedlungen nach Dagestan gebracht. | |
Die neuen Generationen sind bis heute entwurzelt. Sie führen kein | |
bäuerliches Leben wie ihre Vorfahren, aber sie sind auch nicht zu modernen | |
Stadtmenschen geworden. Deswegen wenden sich viele einem strengeren Islam | |
zu. Dadurch sind die jungen Leute heute viel konservativer als ältere | |
Generationen. | |
taz: Sie sind nach dem Abitur nach Moskau gezogen, um am | |
Gorki-Literaturinstitut zu studieren. Wurden Sie dort zur Regimekritikerin? | |
Ganijewa: Das geschah schon vorher, das hat auch mit Dagestan zu tun. Viele | |
Liberale und Oppositionelle in Russland waren am Anfang von Putin | |
verzaubert. Endlich ging es den Leuten besser, es gab Wohlstand. [3][Aber | |
ich hielt es schon immer für eine Illusion, dass Putin ein friedlicher | |
Demokrat sei.] Denn in Dagestan wurde schon früh die Art von Repression | |
erprobt, die heute in ganz Russland angewendet wird. Unschuldige Menschen | |
wurden des Extremismus beschuldigt, ihnen wurden zum Beispiel Waffen | |
untergeschoben. | |
Diese Menschen waren politische Gefangene, aber das war schwer zu erkennen, | |
da sie nicht als solche verurteilt wurden. Ihnen wurden andere | |
Strafverfahren angehängt. So konnte Putin sich außerhalb von Dagestan, in | |
Russland und auch in Europa als gemäßigt darstellen. Diese Verurteilung von | |
Unschuldigen in Dagestan hat übrigens auch dazu geführt, dass | |
islamistische Gruppen Zulauf bekamen. | |
taz: Können Sie Tendenzen ausmachen, wer heute in Russland gegen Putin ist | |
und wer ihn und die Regierung unterstützt? | |
Ganijewa: Ich denke, der Großteil der Bevölkerung ist nicht unbedingt ein | |
Fan von Putin, aber sie sind auch nicht gegen ihn. Die russische | |
Gesellschaft ist seit der Zeit der Sowjetunion sehr paternalistisch, viele | |
Leute wollen einfach eine Person an der Macht sehen, die scheinbar ihre | |
Probleme für sie löst. Was den Krieg angeht, sagen viele, sie wären lieber | |
nicht in die Ukraine einmarschiert, aber jetzt, wo der Krieg angefangen | |
wurde, muss man ihn auch zu Ende bringen. Die Propaganda funktioniert gut. | |
Es gibt diesen inoffiziellen Vertrag zwischen Putin und der Bevölkerung: | |
Das Niveau des Lebensstils hat sich verbessert, dafür wird der Machthaber | |
nicht kritisiert. Das funktioniert vor allem in den großen Städten. Niemand | |
kümmert sich um die Landbevölkerung, sie kann als billiges Fleisch an den | |
Krieg verfüttert werden. Die meisten Leute haben einfach keine Meinung. | |
taz: Aber es gibt doch Menschen in Russland, die gegen Putin und den Krieg | |
sind. | |
Ganijewa: Ja, [4][für Regimegegner wird es immer gefährlicher]. Als ich | |
noch in Russland lebte, habe ich mich am Straßenaktivismus beteiligt. Zum | |
Beispiel konnten wir noch vor fünf Jahren Solidaritäts-Mahnwachen | |
organisieren. Einige von uns wurden inhaftiert, aber es war nicht so | |
repressiv wie heute. Aber die Coronaregelungen haben sehr geholfen, | |
politischen Aktivismus zu unterbinden. | |
Heute ist es sehr leicht, sich strafbar zu machen, man braucht nur Geld an | |
einen falschen Fonds zu spenden oder öffentlich zu sagen, dass Russland | |
kein großartiges Land ist. Aber es gibt noch Wege, politisch aktiv zu sein, | |
man kann zum Beispiel ukrainischen Flüchtlingen helfen oder Briefe an | |
Gefangene schreiben. | |
Es ist auch nicht immer eindeutig, ob etwas verboten ist oder nicht, das | |
führt zu einer großen Unsicherheit. Manche Leute sind sehr radikal in ihrer | |
Kritik und sehr aktiv, und ihnen passiert nichts. Andererseits kannst du | |
für banale Kleinigkeiten ins Gefängnis kommen. | |
taz: Ihre Zeit als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin geht bald zu | |
Ende. Worum geht es in dem Roman, an dem Sie in der Zeit hier gearbeitet | |
haben? | |
Ganijewa: Es geht um die Vergangenheit, die Gegenwart und vielleicht die | |
Zukunft Russlands und Dagestans, um eine reale Utopie. Nach der | |
bolschewistischen Revolution 1917, als das russische Reich zusammenbrach, | |
entstand im Kaukasus eine Gebirgsrepublik. | |
Ihr Ziel war es, eine demokratische, säkulare Konföderation aller Ethnien | |
zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer zu schaffen. Sie vertrat | |
sozialistische Werte, aber verurteilte die Gewalt der Bolschewiken. Zwar | |
brach die Gebirgsrepublik nach zwei Jahren zusammen. Aber ich finde es sehr | |
spannend, dass die Geschichte zeigt, dass es für die Zukunft des Kaukasus | |
auch andere Alternativen geben könnte als ein autoritäres Russland oder ein | |
islamisches Regime. Es braucht nur andere Werte, die die Menschen | |
verbinden. | |
6 Aug 2024 | |
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