Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kevin Kühnert in Thüringen: Zwischen Kleingarten und Krieg
> Die SPD gibt sich im Thüringer Wahlkampf sachlich und solide. Ob sie
> damit punkten kann, bezweifeln selbst Genossen.
Bild: Entspannt in der Natur über Armut sprechen: Kevin Kühnert, SPD-Generals…
Altenburg taz | Anfang August, Altenburg in Ostthüringen. Ein warmer
Sommerabend. Rund 30 Leute sind gekommen, um mit Kevin Kühnert, dem
SPD-Generalsekretär, zu reden. Ein bürgerliches, mittelaltes Publikum. Nur
einer hat ein „Kein Bock auf Nazis“-T-Shirt an. Man kennt und duzt sich.
Die SPD hat im Kreis Altenburg, flächenmäßig so groß wie München, 100
Mitglieder. Wer aktiv ist, ist im Ortsbeirat, Stadtrat, Kreistag. Die
SPD-Basis, Funktionäre und Amtsträger, das sind hier die gleichen Leute. Am
Dienstagabend ist der harte Kern gekommen. Kein Sympathisant, keine neuen
Interessierten haben sich herverirrt.
Kühnert sagt, man könne über alles reden. Auch Migration und Ukrainekrieg
seien keine Tabuthemen. Das klingt wie ein Zugeständnis. Die GenossInnen
aber interessieren sich mehr für die Feuerwehr, den kaputten Sportplatz in
Altenburg und dass die Kleingärten wegen Mangel an Nachwuchs verwildern.
Die Kleingärten sind ein Symbol für das drängende demografische Problem. Um
sie in Schuss zu halten, müssen sie verkleinert werden. Auch das kostet
Geld.
## Der Spitzenkandidat spielt nur die zweite Geige
In schrumpfenden Regionen die Infrastruktur intakt und finanzierbar zu
halten sei eine zentrale Aufgabe, sagt Georg Maier, SPD-Spitzenkandidat und
Innenminister in Erfurt, der sich in Altenburg mit der Rolle als Kühnerts
Sidekick bescheidet.
Die Fragen sind kurz, die Antworten lang. Kühnert verteidigt die Ampel und
lobt den Mindestlohn. Ein Drittel der Beschäftigten im Altenburger Land
hätten von 12 Euro Mindestlohn profitiert. Für die sei das eine
Lohnerhöhung gewesen. Kühnert mag Statistiken. Egal, ob es um Güterverkehr
oder die Zukunftserwartungen von Ostdeutschen geht, er hat immer eine Zahl
parat.
Er redet schnell, dicht, ohne rhetorische Kniffe und klingt manchmal wie
ein Sozialkundelehrer, der es mit einer mäßig interessierten Klasse zu tun
hat. Er lobt das Handwerk der SPD in der Bundesregierung und sagt: „Ich
finde, es ist fast ein Kompliment, zu den Langweiligen zu gehören.“
Das hat eine doppelte Bedeutung. Nach dem Europawahlkampf, mit den
Aggressionen und Attacken, soll es bitte ziviler zugehen. Langweilig und
solide, das soll auch eine Grenzmarkierung zu den Populisten sein, die
alles Mögliche versprechen. Der Preis dafür ist aber: Es leuchtet nicht.
Kühnerts Lob der Sachlichkeit klingt, als würde Olaf Scholz reden.
## Niemand will mit Kühnert diskutieren
Es ist erstaunlich, wie rückstandfrei der damals so freche,
[1][blitzgescheite, originelle Juso-Chef Kühnert] in der Funktion des
Generalsekretärs verschwunden ist. Kühnert macht den Job seit zweieinhalb
Jahren. [2][Er ist im Alltag angekommen], vielleicht auch in einem
handfesten Pragmatismus versunken. Am Ende lobt er in Altenburg die
Diskussion. Man habe gezeigt, dass man sich dabei „nicht die Köpfe
einschlägt“. Doch eine Diskussion gab es eigentlich nicht, nur Fragen und
Antworten.
Am 1. September wird [3][in Thüringen gewählt]. Die SPD regiert seit 15
Jahren in Erfurt mit. In Umfragen liegt sie bei 7 Prozent. Die SPD setzt
auf Soziales. Wer Grundrente bekommt, soll 500 Euro Weihnachtsgeld pro Jahr
vom Land bekommen. Der Mindestlohn soll auf 15 Euro steigen. Wer Angehörige
pflegt und deshalb nicht arbeiten kann, soll Geld vom Land bekommen.
Und natürlich soll es mehr mehr Polizei geben. Das sind gute Ideen. Sie
sind auch im Landtag umsetzbar. Nicht wie bei der [4][Wagenknecht-Truppe].
Die, so Kühnert, suggeriere, dass der Weltfrieden in Erfurt beschlossen
werden könne.
Frank Rauschenbach, 37, roter Bart, arbeitet als Schichtleiter in einem
Chemiewerk und ist der SPD-Direktkandidat in Altenburg. Er selbst ist wegen
der niedrigen Löhne in die SPD eingetreten. Er hofft, sagt er der taz, dass
15 Euro Mindestlohn und Weihnachtsgeld für GrundrentnerInnen als Themen
zünden. Im Wahlkampf hat er bisher wenig Übles erlebt.
## SPDler als „Kriegstreiber“ beschimpft
„Der Frust gegen die SPD richtet sich eher nicht gegen mich, die Leute
kennen mich ja“. Neulich ist er auf dem Marktplatz mal als „Kriegstreiber“
beschimpft worden. Ukrainekrieg, Migration und [5][Bürgergeld, das sind die
Themen], über die die Leute im Wesentlichen reden. Das sagen auch viele
SPD-Leute.
Der Wahlkampf der Sozialdemokraten macht um diese drei Themen indes einen
Bogen. Offenbar glaubt man nicht, damit punkten zu können. Heike Taubert
ist SPD-Finanzministerin. „Die Diskussion um die US-Raketen nutzt uns als
SPD nichts.“ Aber Leute, „die früher glaubten, dass der Sozialismus
bewaffnet sein muss“ und heute Friedensparolen schwingen, findet sie
unglaubwürdig.
Kühnert wandert eine Woche lang durch Thüringen. Das passt. Wandern ist
sein Hobby. Er ist gerade aus dem Urlaub aus Österreich zurückgekommen und
sieht am Mittwochnachmittag müde aus. Generalsekretär der SPD zu sein
scheint derzeit keine gesundheitsfördernde Tätigkeit zu sein.
Am Mittwochnachmittag steht er dann auf der Schmirchauer Höhe, einem
künstlichen und soeben erwanderten Berg. Zu DDR-Zeiten war hier ein 240
Meter tiefes Loch, Uranerz-Tagebau. Einst wurden in dieser Gegend 13.000
Tonnen Uran für sowjetische Atomkraftwerke und Atomraketen gefördert. Heute
ist hier ein Naherholungsgebiet. Oben auf der Höhe mit hübschem Blick über
Ostthüringen und Sachsen.
## Alles ist für ihn ein Skandal
Uwe Meisner, Ende 50, mit Sonnenhut, ist mitgewandert. Er ist der einzige
Nicht-Sozialdemokrat, den Kühnert in den ersten beiden Tagen seines
Thüringen-Trips trifft. Meisner ist bei den den Freien Wählern, war im
Ortsschaftsrat aktiv und verfügt über gefestigte Ansichten.
Die Welt erscheint ihm als Skandal: ein durch Pflanzen verdecktes
Straßenschild in Greiz ebenso wie das Gehalt von ARD-Intendanten bis hin
zum Bürgergeld. Arbeit, sagt Meisner, lohne sich nicht mehr, weil das
Bürgergeld so hoch sei. „Es kann doch nicht sein“, ist der Refrain seiner
Sätze. Was denn Kühnert dazu zu sagen habe.
Der antwortet geduldig und zugewandt. Es sei völlig richtig: Der Abstand
zwischen Bürgergeldempfängern und Arbeitenden „sei zu gering“. Allerdings
habe, wer für Mindestlohn arbeitet, ja, anders als Konservative und Medien
behaupten, nichts davon, wenn Bürgergeldempfänger weniger bekämen. „Davon
wird der Kühlschrank ja nicht voller“. Daher müsse der Mindestlohn auf 15
Euro steigen, wie die SPD fordert, damit der Abstand wieder stimme.
Das ist zwar eine gute, sozialdemokratische Antwort. Aber das Bürgergeld,
gedacht als Ausweis ihrer Kernkompetenz, ist für die SPD im Wahlkampf eher
zum Klotz am Bein geworden. Seine Partei, sagt Kühnert beim Wandern, habe
„die Aufmerksamkeit zu sehr auf diejenigen gelenkt, die staatliche
Unterstützung bekommen“. So sei der Eindruck entstanden, die SPD würde sich
nicht mehr um die Normalverdienenden kümmern. Kurzum – kein Gewinnerthema.
Man mache eben einen antipopulistischen Wahlkampf, sagt ein führender
Thüringer Sozialdemokrat.
## SPD: bieder statt populistisch
Pragmatisch, sachlich, erdverbunden – so will die SPD auch in Thüringen
gesehen werden. Man wird sehen, ob dieses etwas biedere, freundliche,
lösungsorientierte Ethos des Sachlichen das richtige Mittel gegen die
Sirenengesänge des Populismus ist.
Mittwochabend in Saalfeld. Etwa 40 GenossInnen in einem Garten unter freiem
Himmel. Steffen Lutz, der örtliche SPD-Direktkandidat, will von dem
Promi-Gast aus Berlin wissen, warum die SPD so schlecht performt. Bei der
Bundestagswahl 2021 hätten in Thüringen 21 Prozent SPD gewählt, sagt
Kühnert, insofern gebe es Hoffnung. Und es gehöre zu seiner
Jobbeschreibung, „dass das Glas nicht halb leer, sondern halb voll ist“,
sagt er erstaunlich ironiefrei.
In Saalfeld dauert es eineinhalb Stunden, ehe ein Genosse fragt, was man
denn falsch gemacht habe, dass die AfD so stark sei. Kühnert sagt dazu
knapp, er sei „froh, dass wir nicht nur um die AfD kreisen“.
Bei der Europawahl, dem ersten Wahlkampf unter Kühnerts Führung, hat die
SPD auf Anti-AfD und Scholz als Friedenskanzler gesetzt. Funktioniert hat
das nicht. Jetzt scheint die SPD in Thüringen AfD und Frieden am liebsten
großräumig umfahren zu wollen. Ein SPD-Genosse glaubt, dass die Thüringer
Wahlkampfthemen Grundrente, Polizei, Mindestlohn und Pflege zwar wichtig
und richtig sind, aber nur wenige interessieren. Vielleicht riskiert die
SPD gerade, solide und sachlich, zu wenig.
9 Aug 2024
## LINKS
[1] /Kevin-Kuehnert-zum-Sozialismus/!5592214
[2] /Die-Berliner-SPD-und-die-Enteignungs-Initiative/!5856029
[3] /Wahl-O-Mat-fuer-Thueringen/!6028698
[4] /Wagenknecht-stellt-Koalitionsbedigungen/!6023928
[5] /Kuehnert-zu-Buergergeld-Verschaerfung/!6021939
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Wahlen in Ostdeutschland 2024
Schwerpunkt Landtagswahl Thüringen
Kevin Kühnert
Georg Maier
SPD
GNS
SPD
Kevin Kühnert
Wahlen in Ostdeutschland 2024
wochentaz
Kevin Kühnert
Mindestlohn
## ARTIKEL ZUM THEMA
SPD-Vorstandsklausur: Politik für Menschen, die schuften
Die SPD schwört sich auf die Konfrontation mit der Merz-Union ein. Sie will
den Spitzensteuersatz erhöhen, 15 Euro Mindestlohn und mehr Investitionen.
SPD-Generalsekretär Kühnert tritt zurück: Die Tür bleibt offen
Er galt als das Talent der SPD – nun ist Generalsekretär Kühnert aus
gesundheitlichen Gründen zurückgetreten. Nachfolger soll Matthias Miersch
werden.
Mario Voigt über Wahl in Thüringen: „Warum diese Koalitionspuzzles?“
Der CDU-Mann Mario Voigt will Ministerpräsident von Thüringen werden. Ohne
das BSW geht das kaum. Ein Gespräch über Wagenknecht und „Höcke ist doof�…
Linke Grüne über die Wahl in Thüringen: „Duckmäusertum hilft nicht“
Astrid Rothe-Beinlich hat viele Jahre für die Grünen in Thüringen Politik
gemacht. Dass sie jetzt aufhört, liegt auch an der politischen Lage im
Land.
Kevin Kühnerts Werdegang: Ein echter Sozialdemokrat
Er soll als Generalsekretär die SPD-Botschaft ins Land tragen. Wie der
einstige Scholz-Verhinderer nun den Kanzler promotet – und zu welchem
Preis.
Debatte um Mindestlohnerhöhung: Viel Luft um 15 Euro Mindestlohn
Arbeitsminister Heil unterstützt eher vage den Vorstoß des Kanzlers. Kevin
Kühnert erinnert an die zuständige Kommission. Die FDP macht nicht mit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.