# taz.de -- Opposition in Moskau: Verborgene Illusionen | |
> Andrej Morar ist 24 und sehnt sich nach dem Sowjetkommunismus zurück. | |
> Seit dem Ukrainekrieg ist er mit politischer Repression konfrontiert. | |
Bild: Da war die Sowjetunion noch groß: Lenin-Statue vor dem Präsidentenpalas… | |
Als Andrej Morar auf die Welt kam, war [1][die Sowjetunion] schon seit neun | |
Jahren Geschichte. Trotzdem glaubt der heute 24-Jährige fest an den | |
Kommunismus und hat Sehnsucht nach einer Wiederkehr der Sowjetunion. Wie | |
kommt ein junger Mensch der Generation Z zu solchen Ansichten? | |
Das habe ich mich gefragt, als mir Pascha Nikulin von Andrej erzählt. | |
Nikulin lebt [2][in Moskau], leitet an der dortigen „Anti-Universität“ | |
Workshops und hat dort moloko plus gegründet, ein unabhängiges | |
Kulturmagazain, das die Macher als Almanach bezeichnen. | |
Weil ich Andrej unbedingt kennenlernen will, ein persönliches Treffen aber | |
aufgrund des russischen Krieges schwierig ist, treffen wir uns im Internet. | |
Andrej erzählt, dass Moskau immer im Zentrum seiner Sehnsüchte und seiner | |
Weltsicht stand. Das war Anfang 2022. Seitdem hat sich viel verändert. | |
Unter anderem studiert er heute in der moldauischen Hauptstadt und möchte | |
Regisseur werden. In Moskau studierte er Geschichte. Als es noch in Moskau | |
lebte, haben wir uns über Zoom kennengelernt. Er hockte in seinem WG-Zimmer | |
vor seinem Laptop. | |
Die grauen Betonwände tragen Reste von Tapeten und weißer Farbe, die | |
abblättert. Eine [3][Titelseite der Limonka], der nationalistischen Zeitung | |
aus den 1990ern mit einer Handgranate im Logo, ziert ungerahmt die Wand. | |
„Unser Lenin“ ist dort groß zu lesen. | |
Andrejs braune Haare sind in der Mitte gescheitelt, ein Ring schmückt sein | |
linkes Ohr, er trägt ein Hemd mit roten Vierecken. Die Uni-Leitung hat ihn | |
kürzlich exmatrikuliert, da er dem Studium fernblieb. Dabei hatte er als | |
talentierter Schüler einen Quotenplatz an der renommierten Higher School of | |
Economics in Moskau ergattert und Geschichte studiert. Doch er ist | |
inzwischen desillusioniert. Zu viel Theorie, Hierarchie und | |
Autoritätsgehabe im Studium haben seine Vorstellungen von Leben und Lernen | |
in Russland verändert. | |
## Militärische Grundausbildung in der fünften Klasse | |
Während unseres Treffens bricht die Internetverbindung ab, nur Bruchstücke | |
seiner Bewegungen sind zu erkennen, während er durch die Wohnung huscht: | |
„Könnt ihr mich hören? Hallo! Sorry, Leute. Das Internet macht wieder | |
Faxen. Vielleicht klappt’s besser hier im Treppenhaus.“ | |
Andrej lehnt sich an das neue, weiße Plastikfenster im Treppenhaus. Daneben | |
steht ein altes, braunes Holzfenster aus der Sowjetzeit auf dem Boden. Er | |
erzählt von seiner Schulzeit: „Schon seit der fünften Klasse hatten wir das | |
Fach NWP (Militärische Grundausbildung). Uns Jungs wurden da militärische | |
Dinge beigebracht. | |
Die Mädchen hatten dafür ein anderes Fach – OBŽ (Grundlagen der | |
lebensrelevanten Sicherheit) –, wo es um Erste Hilfe, Vergiftungen und so | |
weiter ging. Der Unterricht war ziemlich robust, unser Ausbilder auch. Er | |
war Feuerwehrmann. Bei uns sind alle Feuerwehrleute militarisiert, deshalb | |
hat er auch das Fach unterrichtet.“ | |
Wenn Andrej „bei uns“ sagt, meint er Transnistrien – die russischsprachige | |
Region, die sich unabhängig erkärte, aber international von den meisten | |
Staaten immer noch als Teil der Republik Moldaus gesehen wird. Andrej ist | |
in Transnistrien geboren und aufgewachsen. „Wir wurden an Kalaschnikows und | |
Makarows ausgebildet. Auch das Anwenden und Entschärfen von Minen, das | |
Überqueren von Minenfeldern und wie man einen Schützengraben anlegt, stand | |
auf dem Lehrplan. Wir waren so richtig im Feld und haben alles geübt. Sogar | |
Lehrbücher hatten wir dafür. Alte Schinken aus den 1960ern, aber immerhin | |
mit Abbildungen. Die Prüfungen wurden dann von Leuten des Innenministeriums | |
abgenommen.“ | |
Andrej wollte nicht nur an der Uni Geschichte begreifen. Er wollte Teil des | |
Zeitgeschehens sein. Das war das eigentliche Ziel seines Umzugs nach | |
Moskau: dem Machtort des sowjetischen Kommunismus näher sein. Er wollte | |
Teil des Moskauer Komsomol werden, der Jugendorganisation der UdSSR. | |
Vor Ort musste er feststellen, dass die Organisation nicht seinen | |
Erwartungen entsprach. „Meine Motivation war enorm. Ich dachte, ich könnte | |
mich etwas Größerem anschließen, etwas bewirken. Doch letztlich war alles | |
nur heiße Luft, Theorie des Kommunismus und irgendwelche Flugblätter. Das | |
ist kein echter Kampf gegen das Kapital!“ | |
## Oppositionelle Medien | |
So fand er sich schließlich in den Workshops der Anti-Universität wieder – | |
einer unabhängigen Moskauer Initiative von Studierenden und Journalisten | |
seit 2019. Creative Writing und die Arbeit in Small Media standen auf dem | |
Programm. Vor allem das Konzept der kleinen Medien, wie es eben auch moloko | |
plus ist, faszinierte Andrej: unabhängige, werbefreie und oft aus | |
Enthusiasmus funktionierende oppositionelle Medien, die trotz der | |
eingeschränkten Pressefreiheit weitermachen. | |
Andrejs Kommunismusverständnis rührt auch aus der Unbeschwertheit seiner | |
Kindheit. So nahm er beispielsweise 2009 mit seiner Schwester an „Ukrajina | |
mae talant“ teil. Die Talentshow lief im Fernsehen auf Ukrainisch und | |
Russisch. „Alle haben uns geliebt“, erzählt Andrej. „Grenzen schienen | |
unsinnig! Wir lebten in Transnistrien, fuhren zum Casting in die Ukraine | |
und sangen auf Russisch. Es schien alles so selbstverständlich.“ | |
Erst als Andrej seinen Ausweis bekommen sollte, wurde ihm zum ersten Mal | |
die Frage gestellt: Bist du Russe oder Moldawier? Diese Information sollte | |
in den Pass. „Mein Vater ist Moldawier, meine Mutter ist Russin und | |
Ukrainerin“, erläutert Andrej. Was sollte ich sagen? Ich entschied mich, | |
dass ich Russe bin. Meine Schwester sagte, dass sie Moldawierin sei. So | |
sind wir jetzt ein Russe und eine Moldawierin – zwei Kinder derselben | |
Eltern.“ | |
Ein Widerspruch? Nicht für Andrej. In der Schule wurde ihm beigebracht, | |
dass alle sowjetischen Völker Brüdervölker seien. Also machte es für ihn | |
keinen Unterschied, wie sich jemand identifiziert. In Moskau stieß er auf | |
eine Einladung zur Versteigerung von Originalausgaben der Limonka. | |
Vor Ort traf er viele Mitglieder der Partei Nowaja Rossija – Neues Russland | |
–, einer Fortsetzung der Nationalbolschewistischen Partei Russlands, von | |
der er glaubte, dass ihre Selbsteinschätzung – irgendwo zwischen | |
Kommunismus und Nationalsozialismus – halb ernst, halb ironisch gemeint | |
war. | |
Er sei Feuer und Flamme für diese Partei gewesen, weil er den Eindruck | |
gehabt habe, dass ihre Mitglieder wirklich etwas bewegen wollten. Sie | |
organisierten Proteste und Partys, Zeitungen und Lesungen und seien | |
zugleich eine Partei und eine Clique gewesen. Dann jedoch marschierte | |
Russland in die Ukraine ein, und Andrej verlor erneut alle Illusionen. | |
## Der Kommunismus wird kommen | |
Bei ihren Protestaktionen hätten die Mitglieder der Nowaja Rossija die | |
Intensivierung der Kämpfe in der Ukraine bis zum absoluten Sieg Russlands | |
gefordert und die Wiederherstellung des Imperiums. „Ich verstand, dass sie | |
es mit dem Imperium doch nicht so satirisch meinten.“ Andrej verließ die | |
Partei. „Wiedervereinigung unter sowjetischer Flagge – ja, aber nicht durch | |
Krieg.“ | |
Andrejs Weltanschauung war völlig aus den Fugen geraten. Doch das Netzwerk | |
aus der Anti-Universität brachte Licht in seine Moskauer Dunkelheit. Statt | |
sich seiner kompletten Desillusionierung hinzugeben, begab er sich in die | |
Workshops, um so viel wie möglich über die Realität in Russland zu lernen, | |
um Aufklärung betreiben zu können. Auf dass den Leuten wie ihm früher die | |
Augen geöffnet werden. | |
Sein Workshop-Leiter Pascha Nikulin spielte dabei eine zentrale Rolle. Er | |
sagt: „Es war großartig mit Andrej. Wir diskutierten, machten Musik, | |
gingen stundenlang spazieren und wurden Freunde. Der Krieg hat ihn | |
emotional stark mitgenommen. Er war am Boden zerstört. Ich hörte ihm zu, | |
versuchte ihn abzulenken. Schließlich beschloss er, nach Chișinău zu gehen. | |
Aber wir haben bis heute Kontakt.“ | |
Tatsächlich lebt Andrej heute in Moldau, wo er Regie studiert. Dort habe | |
ich ihn wieder online getroffen. „Früher dachte ich, dass etwas Großes wie | |
1917 passieren muss. Die vergangenen Jahre haben meine Sichtweise | |
verändert. Heute glaube ich, dass der Kommunismus kommen wird, jedoch auf | |
anderen Ebenen – in meinem Zuhause, unter meinen Freunden, in meinem Bezirk | |
oder meiner Stadt. Wir werden es wahrscheinlich kaum bemerken, weil sich | |
alles fließend verändern wird und nicht über Nacht passiert.“ | |
Für die Zukunft Transnistriens aber sieht Andrej trotzdem schwarz. Der | |
Hass zwischen Moldau und Transnistrien sei jahrzehntelang von beiden Seiten | |
geschürt worden. Die Coronapandemie und der Krieg Russlands gegen die | |
Ukraine hätten ihn nur verstärkt. Seit über einem Jahr war Andrej nicht | |
mehr zu Hause, obwohl es von Chișinău aus ein Katzensprung wäre. Immer | |
wieder höre er, dass Moldau die Transnistrien-Frage ein für alle Mal | |
beenden sollte. | |
Im Februar hatten ihn seine Verwandten in Transnistrien gebeten, nicht mehr | |
nach Hause zu kommen. Das Militär sei dagewesen und habe erklärt, dass | |
Andrej den transnistrischen „Kommunismus“ und die Unabhängigkeit der Region | |
gegen das westlich orientierte Moldau „verteidigen“ müsse. | |
Einen Einberufungsbescheid hat die Familie bis heute nicht erhalten. „Als | |
russischsprachiger Transnistrier bin ich zunehmend besorgt“, sagt Andrej. | |
Er bereitet sich auf das Schlimmste vor. | |
1 Aug 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Barbara-Skargas-Gulag-Bericht/!6024733 | |
[2] /Meduza-Auswahl-18--24-Juli/!6025830 | |
[3] /Militarismus-an-russischen-Schulen/!5953204 | |
## AUTOREN | |
Aleksej Tikhonov | |
## TAGS | |
Transnistrien | |
Republik Moldau | |
Militär | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Kommunismus | |
GNS | |
Social-Auswahl | |
Republik Moldau | |
Unser Fenster nach Russland | |
Wladimir Putin | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Besuch beim EU-Beitrittskandidaten: Scholz sichert Moldau Hilfen zu | |
Der Kanzler besucht als erster deutscher Regierungschef seit zwölf Jahren | |
das Nachbarland der Ukraine, das russischer Destabilisierung ausgesetzt | |
ist. | |
Meduza-Auswahl 18. – 24. Juli: Wer demonstriert, fliegt raus | |
Ein neuer Gesetzesentwurf sieht vor, dass Russland künftig Ausländer etwa | |
wegen Teilnahmen an Protesten ganz einfach abschieben kann. Texte aus dem | |
Exil. | |
Gedenken an das Kriegsende: Sowjetische Flagge mitverboten | |
Zum Tag der Befreiung dürfen Hammer, Sichel und Stern im Umfeld der | |
Mahnmale nicht gezeigt werden. Auch das Zeigen der Russischen Fahne ist | |
untersagt. | |
Schwere Waffen für die Ukraine: Militarismus ist unfeministisch | |
Feministische Außenpolitik kümmert sich um die Sicherheit der Menschen, | |
nicht der Staaten. Männlichkeitsnormen und Krieg gehen Hand in Hand. |