# taz.de -- Politik bei Social Media: Der Geist der zukünftigen Wahl | |
> Deutsche Parteien versuchen besonders auf Tiktok, junge Menschen für sich | |
> zu gewinnen. Dabei übersehen sie einen wichtigen Player mit Potenzial: | |
> Snapchat. | |
Bild: Snapchat: Die App mit dem kleinen Geist als Logo ist inzwischen eine Spie… | |
Die demokratischen Parteien in Deutschland haben die sozialen Medien | |
verschlafen. Anfangs taten sie die Plattformen als Randerscheinung ab. Erst | |
als sie dann merkten, dass Facebook, X (damals noch Twitter) und Instagram | |
nicht mehr wegzudenken waren, kam Bewegung in ihre digitale | |
Öffentlichkeitsarbeit: zu zögerlich, zu zaghaft und zu spät. Das Ergebnis | |
dieser ängstlichen Trägheit zeigt sich auf Tiktok. [1][Die in Teilen | |
rechtsextreme AfD ist dort stärkste Kraft]. Ihre populistischen Videos | |
gegen die Grünen, Migration, öffentlich-rechtliche Medien sammeln Millionen | |
von Likes. | |
Seit Ende 2023 versuchen die demokratischen Parteien, der Reichweite der | |
AfD etwas entgegenzusetzen, verstärken deswegen massiv ihre Präsenz auf | |
Tiktok. Aufmerksam blicken Öffentlichkeit und Politik auf die chinesische | |
App. Andere soziale Medien verlassen dabei teilweise das Sichtfeld. Ein | |
Kandidat für diese Unachtsamkeit der Politik: Snapchat. | |
[2][Laut der ARD/ZDF-Onlinestudie] 2023 liegt die US-App Snapchat bei der | |
Social-Media-Nutzung der 14- bis 29-Jährigen auf dem zweiten Platz. 37 | |
Prozent der Altersgruppe nutzten Snapchat täglich. „Das alles macht sie zu | |
einer relevanten Größe für die Politik, von daher wundert mich die aktuelle | |
politische Abstinenz sehr“, so der Social-Media-Experte und Politikberater | |
Martin Fuchs. „Auch wenn die Politik aktuell nicht über Snapchat redet, | |
gehört die App weiterhin zu den meist genutzten Social-Media-Apps in | |
Deutschland. Im Schatten der großen Plattformen nutzen mittlerweile 15 | |
Millionen Deutsche die App mindestens einmal monatlich.“ | |
Fuchs beobachtet das Auftreten der Parteien auf allen relevanten | |
Plattformen. Doch Auftritte auf Snapchat sieht er keine: „Die App spielt im | |
Jahr 2024 in Deutschland überhaupt keine Rolle mehr für die politische | |
Kommunikation. Alle relevanten politischen Akteur:innen haben sich | |
mittlerweile von der Plattform verabschiedet.“ 2015 habe das anders | |
ausgesehen. „Damals gab es einen ähnlichen Hype um Snapchat wie heute um | |
Tiktok.“ | |
Die Funktionen, die Charaktere von Snapchat und Tiktok unterscheiden sich | |
stark. [3][34 Millionen kurze Videos laden Menschen täglich auf Tiktok | |
hoch]. Musikvideos, Schminktipps, politische Propaganda, alles ist | |
vertreten. Und nahezu alles ist öffentlich. Snapchat hingegen ist ein | |
Instant Messenger. Ähnlich wie bei Whatsapp oder Telegram können | |
User:innen Nachrichten, Bilder und Videos direkt mit anderen Menschen | |
teilen. Das macht Snapchat persönlicher. Gleichzeitig können | |
Nutzer:innen andere User:innen, darunter auch Prominente, abonnieren und | |
im Alltag verfolgen. Snapchat wandelt zwischen privatem und öffentlichem | |
Raum. | |
## Wundermittel Augmented Reality | |
Die App mit dem kleinen Geist als Logo ist inzwischen eine Spielwiese mit | |
vielen Funktionen geworden. Videos können mit Filtern und Linsen verfremdet | |
werden. Plötzlich hat das eigene Gesicht Hasenohren oder einen üppigen | |
Bartwuchs. Oder man ändert gleich den gesamten Hintergrund. Denn mit „Snap | |
AR“, einer Augmented-Reality-Funktion, kann nahezu alles in die Welt | |
hineinprojiziert werden, die man durch die Kamera sieht. Plötzlich hängt | |
eine riesige Discokugel oder eine zweite Sonne in den Wolken oder ein | |
Krokodil beißt einem in den Fuß. | |
Gerade in „Snap AR“ sieht Martin Fuchs enormes Potential für die Politik: | |
„Dadurch könnte man sich in politische Räume beamen oder kreativ mit | |
politischen Inhalten interagieren. Politik kann durch die Linsen und Filter | |
von Snapchat eine bessere virtuelle Nähe zu politischen Akteur:innen | |
herstellen.“ | |
Wie eine solche Kommunikation geht, zeigt die AR-Linse von | |
„[4][PlasticGate]“. Sie soll auf Plastikmüll aufmerksam machen, indem sie | |
den Kunststoff direkt in das eigene Wohnzimmer projiziert oder das | |
Brandenburger Tor in einen großen Haufen Plastikmüll verwandelt. Diese | |
Funktion lässt sich weiterdenken. Eine von Autos überfüllte Innenstadt | |
könnte sich durch eine Linse in eine grüne Metropole mit Fahrradwegen | |
wandeln. „Snap AR“ könnte auch verdeutlichen, wie ein barrierefreier Zugang | |
oder ein neues Bauprojekt einmal aussehen werden. Politiker:innen | |
könnten ihre Projekte mit „Snap AR“ visualisieren und der Öffentlichkeit | |
präsentieren. Fuchs ist sich sicher, dass „das Thema Augmented Reality in | |
den nächsten Jahren auch auf anderen Plattformen noch größer wird. Und | |
Snapchat ist hier schon länger vorne mit dabei und sehr gut aufgestellt.“ | |
Wenn die Politik diese Kommunikation auf Snapchat umsetzt, ist es durchaus | |
möglich, dass sie damit auch andere Apps beeinflusst. Denn Snapchat hat in | |
den sozialen Medien eine Art Vorreiterrolle. In den 2010er Jahren trug der | |
Messengerdienst maßgeblich dazu bei, die sozialen Medien vom Desktop auf | |
die Mobiltelefone zu bringen. Und bis heute orientieren sich viele | |
Programme am Pionier, der sich anfangs nicht auf den Aufbau einer Marke | |
konzentrierte, sondern auf Funktionen. Lange vor den „Stories“ auf | |
Instagram gab es etwa bei Snapchat bereits „My Story“. Inzwischen hat | |
nahezu jede Social-Media-Plattform ein Äquivalent und auch Whatsapp | |
übernahm viele Funktionen für sich. | |
## Selbst Söder fehlt | |
Doch trotz der Potenziale gleicht die App politisch einer Wüste. Die | |
deutschsprachige Politik hat sich, bis auf einzelne grüne | |
Politiker:innen aus der Schweiz und Österreich, nahezu komplett von | |
Snapchat zurückgezogen. Einstige große Accounts wie der des früheren | |
CDU-Politikers Peter Tauber oder der Partei Die Linke sucht man inzwischen | |
vergebens. Selbst Markus Söder fehlt, der sonst doch soziale Medien so | |
gerne nutzt. Immerhin: Es gibt eine Linse, mit dem jedes Gesicht zu dem des | |
bayerischen Ministerpräsidenten wird. | |
Der Abzug der Politik ist verblüffend, hatte sie doch die Möglichkeiten der | |
App schon in den 2010er Jahren erkannt. Im Mai 2015 unternahm das | |
Europäische Parlament erste Gehversuche auf Snapchat. Um junge | |
Wähler:innen anzusprechen, startete das Parlament auch für die | |
Europawahl 2019 eine große Kampagne mit dem US-Unternehmen. Die App | |
erinnerte die User:innen an die Wahlen und leitete sie zu externen | |
Infoseiten. Wenn man sich mit der Wahl beschäftigte, bekam der Bitmoji, ein | |
Avatar, den jede Nutzer:in von sich erstellt, einen „I voted“-Button. | |
2024 hatte das Parlament keine Kooperation mit Snapchat. [5][Die App wurde | |
nicht einmal mehr unter den aktiven Kanälen aufgezählt]. Die Parteien | |
zeigen sich primär auf Instagram und Tiktok. Anderen Plattformen wird der | |
Rücken gekehrt. | |
Wenn Demokrat:innen in einem sozialen Medium fehlen, freut das | |
Extremist:innen. Aber trotz der Schnelllebigkeit in den sozialen Medien | |
dauert es lange, bis Räume zurückerobert werden. Das erfahren SPD, Grüne | |
und Co gerade bei Tiktok. Diese Erkenntnis sollte sie eigentlich dazu | |
animieren, reichweitenstarke Plattformen wie Snapchat nicht zu | |
vernachlässigen. | |
Auf Anfrage der taz, warum die FDP nicht auf Snapchat agiert, sagt sie nur: | |
„Demokratische Stimmen dürfen das mediale Feld nicht den Extremisten und | |
Populisten überlassen – sowohl in der analogen wie auch der digitalen | |
Welt.“ Die Pressestelle der SPD sagt zu ihrer Inaktivität auf Snapchat: | |
„Unsere Ressourcen sind natürlich begrenzt, insofern ist die Entscheidung | |
für einen bestimmten Kanal regelmäßig auch immer die gegen einen anderen. | |
Als Snapchat vor einigen Jahren verstärkt im Kontext politischer | |
Kommunikation diskutiert wurde, haben wir es als relevanter eingeschätzt, | |
zunächst das Engagement bei Instagram weiter auszubauen.“ | |
Von millionenschweren Parteien mit einem riesigen Personalapparat ist es | |
sicherlich nicht zu viel verlangt, eine Präsenz auf allen relevanten | |
Kanälen zu haben. Snapchat bietet mit seinen Funktionen Platz für | |
innovative und immersive Formate, die Politik nahbar und transparenter | |
machen können. Die Wähler:innen von heute und morgen sind nicht nur auf | |
einer App unterwegs, sondern auf mehreren. Und sie alle haben eigene | |
Ausdrucksformen, Ansprachen, Vorteile. Die politische Arbeit muss daher | |
endlich so vielfältig werden wie die moderne Mediennutzung. | |
28 Jul 2024 | |
## LINKS | |
[1] /AfD-auf-TikTok/!5979204 | |
[2] https://www.ard-media.de/fileadmin/user_upload/media-perspektiven/pdf/2023/… | |
[3] https://www.socialchamp.io/blog/tiktok-stats/#:~:text=General%20TikTok%20St… | |
[4] https://newsroom.snap.com/de-DE/plastic-gate | |
[5] https://berlin.europarl.europa.eu/files/live/sites/eplo-berlin/files/newsle… | |
## AUTOREN | |
Martin Seng | |
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