# taz.de -- Roderich Kiesewetter über Ukrainekrieg: „Hysterie ist fehl am Pl… | |
> Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter fordert mehr Waffenlieferungen. | |
> Ein Gespräch über Ängste vor einer Eskalation und Putins Kriegsführung. | |
Bild: Trauriger Kriegsalltag: Eine Frau macht Fotos von den Spuren eines russis… | |
taz: Herr Kiesewetter, am Montag ist eine russische Rakete in ein | |
[1][Kinderkrankenhaus in Kyjiw] eingeschlagen. 30 Zivilisten wurden | |
getötet. Gibt es aus Ihrer Sicht noch sichere Gebiete in der Ukraine? | |
Roderich Kiesewetter: Nein, Russland führt einen umfassenden Krieg gegen | |
die zivile Infrastruktur in der Ukraine. 90 Prozent der Angriffe Russlands | |
richten sich nicht gegen das Militär, sondern gegen Elektrizitätswerke, | |
Wasserwerke, Krankenhäuser, Schulen, Kultureinrichtungen, Kirchen. Insofern | |
gibt es keine sicheren Gebiete in der Ukraine. | |
Was folgt daraus? | |
Nicht umsonst haben Länder wie die baltischen Staaten und Skandinavien | |
angeregt, die Luftverteidigung des westlichen Teils der Ukraine mit eigenen | |
Mitteln zu unterstützen. Das würde der Ukraine helfen, ihren schon knappen | |
Zivilschutz in die besonders angegriffenen Gebiete im Osten und Süden zu | |
verlagern. | |
Damit wären Soldaten aus [2][Nato-Staaten] direkt am Ukraine-Krieg | |
beteiligt. Wollen Sie das wirklich? | |
Das ist keine Kriegsbeteiligung, sondern ist vom Boden von Nachbarländern | |
aus machbar! Das wäre eine „Koalition der Willigen“, an der sich | |
Deutschland aus verschiedenen Gründen leider nicht beteiligen würde. Die | |
Soldaten würden der Ukraine auf Grundlage der Charta der Vereinten Nationen | |
helfen, nicht des Nato-Vertrages. Laut UN-Charta darf jedes Land dem Opfer | |
eines Angriffskrieges helfen. | |
Ist das nicht etwas spitzfindig? In diesem Krieg unterstützt der Westen | |
Kyjiw gegen die russische Aggression. Ein Einsatz in der Ukraine wäre aber | |
doch eine gefährliche Eskalation. | |
Selbstverteidigung ist nie eine Eskalation. Die Eskalation geht immer von | |
Russland aus. Als Deutschland am Anfang des Krieges weder Panzer noch | |
Kampfflugzeuge lieferte, hat Russland das nicht als Zeichen der | |
Deeskalation gewertet, sondern als Zeichen der Schwäche. Putin hat damals | |
begonnen, die zivile Infrastruktur anzugreifen und 15 Millionen Menschen im | |
Jahr 2022 zur Flucht gezwungen. Die heutigen Verluste der Ukraine sind die | |
Versäumnisse von vor zweieinhalb Jahren. Wie von mir schon länger | |
gefordert, haben die Unterstützerstaaten Kyjiw inzwischen erlaubt, mit | |
importieren Waffen grenznah russische Stellungen anzugreifen – ohne dass | |
dies den Krieg entgrenzt hat. | |
Falls Polen oder Litauen militärisch westukrainischen Luftraum sichern, | |
könnte Russland militärische Stellungen dort angreifen … | |
Das ist hypothetisch. Russland würde dies nicht tun. | |
Wenn doch, dann wäre das der Bündnisfall, also ein Krieg zwischen der | |
[3][Nato] und Russland. Oder sehen Sie das anders? | |
Ja, das wäre der Bündnisfall. Aber ich will es zuspitzen: Wir wollen uns | |
nicht als Kriegspartei sehen, aber für Putin sind wir wegen der | |
Unterstützung der Ukraine schon Kriegsziel. Das zeigen die Zerstörung einer | |
tschechischen Munitionsfabrik vor zwei Jahren und die gezielten Tötungen in | |
Litauen. Putin bezeichnet uns als Feind. Deswegen gilt es sicherlich, | |
vorsichtig und überlegt zu handeln. Aber wir dürfen die Ukraine nicht sich | |
selbst überlassen. Gravierend wäre es, wenn wir ihren Zerfall zulassen | |
würden und es zu einer Massenflucht kommt. Das müssen wir verhindern. | |
Macht Ihnen das Szenario eines Krieges zwischen Russland und der Nato keine | |
Angst? | |
Nein, weil Putin nüchtern und rational kalkuliert. Er will zeigen, dass die | |
Nato nicht handlungsfähig ist, und nutzt dazu hybride Angriffe, die | |
unterhalb der Schwelle dessen bleiben, was wir als Krieg verstehen. Wir | |
begreifen nicht, dass Putin bei uns Ängste vor dem Bündnisfall schürt und | |
niedrigschwellig geschickt sein imperiales Projekt vorantreibt. Putins Ziel | |
ist die Ausweitung der russischen Föderation auf die früheren Gebiete der | |
Sowjetunion. Dafür versucht er, das Vertrauen in Nato und EU zu zerstören. | |
Sie haben gefordert, dass Deutschland die Ukraine mit Waffen versorgen | |
soll, mit denen sie auch russische Ministerien angreifen kann … | |
Nein. Das unterstellt mir Sahra Wagenknecht. Aber das ist falsch. | |
Was ist denn richtig? | |
Ich habe gesagt, wir müssen die Ukraine befähigen, den Krieg nach Russland | |
zu tragen. Mit genug Unterstützung ist die Ukraine fähig, solche Waffen | |
selbst zu produzieren. Gelieferte Waffen sind ohnehin ukrainische Waffen. | |
Das russische Verteidigungsministerium und das Geheimdienstministerium sind | |
natürlich legitime militärische Ziele. Kyjiw wird zerstört, Charkiw wird | |
zerstört und die Ministerien, die das organisieren, sitzen nun mal in | |
Moskau. | |
Glauben Sie wirklich, dass Raketenangriffe auf Moskau dabei helfen, dem | |
Ziel einer Beendigung des Krieges näherzukommen? | |
Es kann der Ukraine helfen, der russischen Aggression zu widerstehen. Die | |
Ukraine zerstört kriegswichtige Raffinerien, Munitionsfabriken und | |
militärische Infrastruktur – keine Schulen wie Russland. Ich räume | |
allerdings ein, dass die Wortwahl „Ministerien“ falsche Bilder provoziert | |
hat. Gemeint waren nicht das Bildungs- oder Kulturministerium, sondern die | |
Orte, an denen der Angriffskrieg gegen die Ukraine geplant wird. | |
Damit haben Sie Wagenknecht eine Steilvorlage geliefert. | |
Wagenknecht und die AfD verunsichern die Bevölkerung und schüren | |
Illusionen über ein mögliches Kriegsende. Damit nutzen sie Putins | |
Absichten. | |
[4][Laut ARD-Deutschlandtrend] gehen mehr als einem Drittel der Befragten | |
die Waffenlieferungen an die Ukraine zu weit, im Osten sieht das sogar die | |
Hälfte der Bevölkerung so. Beunruhigt Sie das nicht? | |
Wenn der Kanzler Orientierung geben würde, wie der seinerzeitige Kanzler in | |
Sachen Afghanistan, dann würde er größere Mehrheiten für eine Unterstützung | |
der Ukraine gewinnen. Ich unterstelle ihm keine Unredlichkeit, aber ich | |
glaube, er bleibt unter seinen Möglichkeiten. Es bringt nichts, diesen | |
Krieg aus dem Homeoffice zu beobachten, aus der Westentasche zu finanzieren | |
und gewisse Notwendigkeiten zu verschweigen. Mir fehlt in der öffentlichen | |
Debatte, dass es hier aus russischer Sicht um eine Systemauseinandersetzung | |
geht. | |
Sie sind also gegen jegliche Verhandlungen mit Russland? | |
Nein. Es wäre wünschenswert, dass am Ende Verhandlungen über ein Kriegsende | |
stehen. Aber wir sollten nicht Putins Gelüste befriedigen, indem wir | |
versuchen, die Ukraine so schnell wie möglich in Verhandlungen zu bringen. | |
Der Kernpunkt ist, dass wir nicht von ihr erwarten sollten, dass sie die | |
Annexion der Krim und die Annexion der vier Territorien einfach als gegeben | |
hinnimmt. Denn dann würden wir sagen, die Stärke des Rechts gilt nicht, | |
sondern das Recht des Stärkeren. Die Ukraine hält seit zweieinhalb Jahren | |
gegen die zweitstärkste Armee der Welt aus. Wir dürfen ihr nicht in den | |
Rücken fallen. | |
Sie haben gesagt, es gäbe ein „typisch deutsches, fast schon hysterisches | |
Eskalationsgerede“. Ist es nicht zu einfach, Ängste als irrational zu | |
denunzieren? | |
Putins Strategie ist es, immer weiter zu eskalieren. Unsere Verantwortung | |
ist es, mit Härte und Diplomatie zu antworten. Da bin ich ganz bei Annalena | |
Baerbock. Russland hält uns für einen Kriegsgegner, ob uns das passt oder | |
nicht. Wir sollten lieber ein starker als ein schwacher Gegner sein und | |
nicht glauben, mit Softpower den Konflikt einfrieren zu können. | |
Russland ist eine Atommacht. Laut Berichten von US-Geheimdiensten gab es im | |
Herbst 2022 in der russischen Armee ernsthafte Debatten, ob Russland kleine | |
Atomwaffen einsetzen sollte. Ist es hysterisch, die US-Geheimdienste | |
ernstzunehmen? | |
Hysterie ist fehl am Platz. Die russische Nukleardoktrin besagt, dass | |
Atomwaffen nur bei einer Bedrohung des russischen Kerngebietes eingesetzt | |
werden dürfen. Es gibt eine systematische Kontrolle über Nukleareinsätze | |
wie in den USA. Anders als die USA drohen die Russen aber mit ihren | |
Atomwaffen, darauf springen besonders die Deutschen an. Es geht um | |
Einschüchterung, mehr nicht. | |
Russland-Experten glauben, dass auch der Atomwaffeneinsatz inzwischen | |
völlig von Putin abhängt. Muss der Westen vorsichtiger, berechenbar | |
auftreten, um hysterische Übersprungshandlungen in Moskau auszuschließen? | |
Putin ist weder hysterisch noch paranoid, sondern ein kühl kalkulierender | |
Geheimdienststratege. | |
Woher wissen Sie das? | |
Das ist meine These, so wie das andere auch Thesen sind. | |
Und wenn Sie mit Ihrer Einschätzung falsch liegen? | |
Die russischen Atomwaffen stehen unter militärischer Kontrolle, und es gilt | |
ein Prinzip mit mehreren Schlüsseln. Laut russischer Militärstrategie | |
können aber taktische Nuklearwaffen wie normale Gefechtsfeldwaffen | |
eingesetzt werden. Deshalb haben China und die USA Russland 2022 klar | |
gemacht, dass Moskau bei einem Atomwaffeneinsatz global isoliert würde. Die | |
nukleare Eskalation sehe ich nicht, weil Putin sich damit tief ins eigene | |
Fleisch schneiden würde. | |
Während Sie sich für eine stärkere Unterstützung der Ukraine engagieren, | |
wird in Ihrer Partei über mögliche Koalitionen in Sachsen, Thüringen oder | |
Brandenburg mit Wagenknechts BSW diskutiert, das den Besuch des | |
ukrainischen Präsidenten [5][im Bundestag boykottiert] hat. Wie passt das | |
zusammen? | |
Das populistische Agieren des BSW sollte uns alle nachdenklich machen. Es | |
ist ein Bündnis zur Spaltung unserer Gesellschaft und des Westens. Da | |
wünsche ich mir Haltung, Orientierung, einen klaren Kompass. Meine ganz | |
persönliche Auffassung ist, dass es nicht darum gehen kann, um jeden Preis | |
zu regieren. Eine Zusammenarbeit mit dem BSW halte ich persönlich für | |
absolut untragbar und undenkbar. Aber jetzt gilt es erst mal, den Kräften | |
der demokratischen Mitte Zuversicht zu geben, dass es sich lohnt, für die | |
Stärke des Rechts und der Toleranz ebenso wie für eine vernünftige | |
Wehrhaftigkeit zu streiten. | |
Ihr [6][Fraktionskollege Alexander Dobrindt] fordert, Geflüchtete in die | |
Ukraine zurückzuschicken, wenn sie in Deutschland arbeitslos sind. Das BSW | |
sympathisiert mit dieser Idee. Was halten Sie davon? | |
Das ist ein Beschluss der CSU-Landesgruppe von ihrer Klausur vom Januar in | |
Seeon, der jetzt nach außen getragen worden ist. Ich glaube, dass es | |
hilfreicher ist, sowohl den Menschen hier eine Perspektive zu geben, als | |
auch ihnen den Weg in Arbeit deutlich zu erleichtern, zum Beispiel durch | |
raschere Anerkennung von Berufsabschlüssen. | |
10 Jul 2024 | |
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[4] https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-3416.html | |
[5] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/bsw-selenskyj-rede-100.html | |
[6] /Dobrindt-will-Ukrainer-ausweisen/!6016040 | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
Stefan Reinecke | |
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