# taz.de -- Ein Dorf wählt rechts: Idylle in Himmelblau | |
> Im Thüringer Dorf Manebach haben bei den Europawahlen 40 Prozent für die | |
> AfD gestimmt. Einfache Antworten auf den Rechtsruck sucht man hier | |
> vergebens. | |
Inmitten einer idyllischen Mittelgebirgslandschaft zieht sich das Dorf | |
Manebach an den Hängen des Ilmtals entlang. Direkt im Biosphärenreservat | |
Thüringer Wald gelegen, in dem Rotwild, Wildschweine, Wölfe und Luchse | |
leben. Die mit Schiefer beschlagenen Häuser sind in gutem Zustand, die | |
Gärten mit Liebe begrünt. Es riecht nach frisch gemähtem Gras und Lavendel. | |
Vor den Türen stehen Mittelklassewagen. | |
Die Idylle endet an den Laternenmasten entlang der Dorfstraße. Ein blauer | |
Schilderwald zieht sich hier den Berg hoch. „Sicherheit statt Multikulti“ �… | |
„Unser Land zuerst“ – „Wälder statt Windkraft“. Die Auszählung der … | |
nach den [1][Europawahlen am 9. Juni] hatte ergeben: 40,9 Prozent der | |
Manebacher haben AfD gewählt, eine Partei also, die in Thüringen vom | |
Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft ist. Manebach | |
hat rund 1.300 Einwohner, die Wahlbeteiligung lag bei 45,3 Prozent. | |
Die AfD ist in Manebach längst das neue Normal, und die Frage ist, ob die | |
rechten Realitäten im Alltag für Konflikte in der Dorfgemeinschaft sorgen. | |
Um das rauszufinden, geht man am besten als erstes zum alten Bahnhof von | |
Manebach, denn hier verändert sich gerade etwas, das auf den ersten Blick | |
nicht recht passen mag zu den letzten Wahlergebnissen. Girlanden und | |
Luftballons schmücken die Fassade eines klassischen Fachwerkbaus. Für | |
Kinder ist eine Hüpfburg aufgebaut. Vor dem Eingang brutzeln Rostbratwürste | |
auf einem Grill. Auf einer Tafel wird Havanna-Cola, Radler, Limo und Kaffee | |
zum Kauf angeboten. Und Pfeffi und Kirsch, roter und grüner Schnaps, von | |
alten Manebachern auch „Schlüpferstürmer“ genannt. Zwei junge Frauen mit | |
dunklen Haaren laufen geschäftig herum. Es sind Lisa Jimenez und ihre | |
jüngere Schwester Emely. | |
Die Zeiger der alten Bahnhofsuhr sind auf vier Uhr stehengeblieben. Nur an | |
Wochenenden und feiertags gibt es in Manebach noch Zugverkehr, für die | |
Wandertouristen, die von hier hoch zum Rennsteig wollen, Deutschlands | |
ältestem Höhenwanderweg. Das Bahnhofsrestaurant ist seit einem Jahr | |
geschlossen. Die 34-jährige Lisa, gelernte Gastronomin, will hier einen | |
Kulturbahnhof mit lateinamerikanischer Küche aufmachen, mit Livemusik, | |
Reisevorträgen und Tanzkursen. Am 1. August soll es losgehen. Und um sich | |
im Dorf schon mal ein bisschen bekannt zu machen, macht die neue Wirtin | |
jetzt manchmal bereits provisorisch auf. So auch an diesem Tag. | |
„Wir sind alle froh, dass da jetzt wieder etwas in Gang kommt“, sagt ein | |
Mann mit weißen Haaren, der rauchend auf einer Bank im Ortskern sitzt. | |
Andreas, ein 68-jähriger Rentner, in Manebach ist man schnell beim Du. Von | |
der Bank aus hat er alles im Blick. Mit seinen Freunden Olaf und Ralf | |
trifft sich Andreas dort mehrmals in der Woche zum Feierabendbier. Olaf, | |
ein 62-jähriger Mann, der meistens ein Käppi aufhat, und Ralf, mit 53 | |
Jahren der Jüngste des Trios, stellen sich beide als „Lokführer“ vor – | |
„heute heißt das ja Triebfahrzeugführer“. Mit dem „Regio“, dem | |
Regionalexpress also, sind sie auf den von Erfurt abgehenden Strecken | |
unterwegs. Die drei verbreiten gute Laune. Aus Manebach weggezogen hat es | |
sie nie. „Ist doch schön hier, uns geht’s doch gut“, sagt Olaf. | |
„Cali“ soll der Kulturbahnhof heißen, die Abkürzung für Casa Lisa. Lisa | |
Jimenez hat einen kubanischen Hintergrund. In Erfurt hat sie zuvor ein | |
mexikanisches Restaurant betrieben. Geboren ist sie in Suhl, einer | |
Kleinstadt, die von Manebach aus gesehen auf der anderen Seite des | |
Thüringer Waldes liegt. Lisa spricht weichen Thüringer Dialekt. Wenn sie | |
sage, sie stamme aus Suhl, komme meistens die Frage: Und woher kommst du | |
wirklich? „Mein Papa ist Kubaner“, sagt sie dann. Der Vater sei 1985 als | |
Vertragsarbeiter aus Kuba in die DDR gekommen, erzählt Jimenez, und er lebe | |
nach wie vor in Suhl. | |
Ende 2022 waren Lisa und ihr Freund Michael zu einer Motorradtour durch | |
Südamerika aufgebrochen. Ihre BMWs hatten sie von Hamburg nach Santiago de | |
Chile verschifft. Zwei Jahre waren geplant. Unterwegs erfuhr sie, dass das | |
Bahnhofsrestaurant in Manebach zu vermieten sei. Im März 2024 kam sie | |
vorzeitig zurück und unterschrieb den Vertrag. Die große Gastfreundschaft | |
und Offenheit, die sie auf der Südamerikareise erlebt habe, wolle sie nun | |
in den Manebacher Kulturbahnhof tragen, sagt Lisa. Die weite Welt zu Gast | |
in Manebach also, deren Bürger*innen allerdings mehrheitlich einer | |
Partei die Stimme gegeben haben, die nicht gerade für Weltläufigkeit steht. | |
Der Bahnhof Manebach wurde 1904 eingeweiht. Holz aus den Wäldern und | |
Produkte der Masken- und Porzellanindustrie, für die die Gegend berühmt | |
war, wurden dort verladen. Seit 1913 befand sich in dem Gebäude eine | |
Gastwirtschaft. Auch zu DDR-Zeiten war das so, als in Manebach noch der | |
Tourismus boomte. Bis zu 10.000 Gäste kamen pro Jahr. Sieben Bäcker, vier | |
Fleischer, Kneipen und eine Milchbar habe es in diesen Zeiten im Ort | |
gegeben, heißt es. | |
Heute sind im Gästeverzeichnis noch 17 Herbergsstätten mit 160 Betten | |
gelistet, die Auslastung ist aber insgesamt eher überschaubar. Einen | |
Fleischer gibt es noch im Ort und einen kleinen Lebensmittelladen. Daneben | |
steht die Bank, auf der Olaf, Ralf und Andreas ihr Feierabendbier trinken. | |
Ganz wichtig sei die Bahnhofsgaststätte immer gewesen, sagt Andreas: „Wenn | |
du was brauchst, bist du zum Bahnhof.“ Und was sagen sie zu den Plänen der | |
neuen Wirtin Lisa? „Lateinamerikanische Küche steht dran, wenn das hinhaut | |
– super.“ Hauptsache, es gebe wieder etwas im Ort. | |
Er selbst würde aber nicht ausschließlich auf „fremde Küche“ setzen, sagt | |
Ralf. Die anderen nicken. Ein Mittagstisch wäre auch nicht schlecht. Und | |
dann kommen die drei Männer ins Schwärmen: über die thüringische Küche, | |
über Rotkohl, Braten und selbst gemachte Klöße und „dem Udo seine Mutter, | |
die Brigitte“, die früher in der Bahnhofsküche gestanden habe. „Die | |
Brigitte, da gibt’s keine Diskussion, hat sehr gut gekocht.“ Sehr wichtig | |
in einer Gaststätte, sagt Olaf, sei auch „die Anschlussfinanzierung“. Was | |
ist denn das? Na, dass der Wirt eine Runde Schnaps schmeißt und sich die | |
Gäste mit weiteren Runden anschließen. Da komme jeder mit jedem in Kontakt. | |
Vier Kilometer Landstraße durch den Wald trennen Manebach von der | |
Universitätsstadt Ilmenau. Viele Manebacher arbeiten in Ilmenau und | |
Umgebung. Der Ilmkreis gehört zu den wirtschaftlich stärksten Regionen | |
Thüringens. Auch Stefan Schmidt gehört zu den Pendlern. Der 54-Jährige, im | |
Hauptberuf Ingenieur, ist seit 2015 Bürgermeister von Manebach. Bei den | |
Kommunalwahlen im Mai ist der Parteilose mit 96,1 Prozent wiedergewählt | |
worden. | |
Manebach habe einen gesunden Altersdurchschnitt, sagt Schmidt, ein | |
kräftiger, braungebrannter Mann mit kahlem Kopf. Das Gespräch findet im | |
Haus des Gastes statt, wo Schmidt sein Amtszimmer hat. Es gebe viele | |
Alteingesessene, aber eigentlich keinen Leerstand. Wenn ein Haus frei | |
werde, zögen oft junge Leute und Familien mit Kindern nach. | |
Was Manebach auszeichne: „Man wohnt dörflich, ist aber auch schnell in der | |
Stadt“, meint Schmidt. Auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist der Ort | |
gut erreichbar; tagsüber fährt alle zwei Stunden ein Bus. Im Herbst komme | |
ein ehrenamtlich betriebener Bürgerbus hinzu, der Manebach mit den höher | |
gelegenen Dörfern verbinden soll, sagt der Bürgermeister: „Abgehängt ist | |
etwas anderes.“ | |
Oft wird der Wahlerfolg der Rechten im Osten eben mit diesem Wort erklärt, | |
dass sich die Menschen dort „abgehängt“ fühlten: das Einkommensniveau | |
schlechter als im Westen, sterbende Dörfer, weil die Jungen wegziehen und | |
es keine funktionierende Infrastruktur gibt, von der Kita bis zum Rufbus. | |
In Manebach ist da alles nicht so. Also, Frage an den Bürgermeister: Hat | |
Schmidt eine Erklärung dafür, warum die Manebacher die AfD wählen? Das | |
liege vor allem an der Politik der Bundesregierung, sagt er. Die Ukraine- | |
und Energiepolitik „ist schlimm“. Auf kommunaler Ebene AfD zu wählen, mache | |
aber eigentlich keinen Sinn: „Die AfD müsste schon in der Bundesregierung | |
sein, um was zu ändern.“ | |
Über die neue Bewirtschaftung des Bahnhofs ist Schmidt froh. Ein staatlich | |
anerkannter Erholungsort wie Manebach brauche eine Gaststätte, findet er. | |
Allein von den Dorfbewohnern könne kein Wirt leben. Wirkt der große | |
Zuspruch für die AfD im Ort auf Touristen nicht abschreckend? Er finde | |
diesen Nazi-Vergleich bezogen auf die AfD „ziemlich grenzwertig“, sagt | |
Schmidt. Ihm werde da immer zu viel pauschalisiert. In Manebach gebe es | |
weder Rechts- noch Linksradikale. Und mit Ausländern habe man auch keine | |
Probleme, „schon deshalb, weil es hier keine gibt“. Einige ukrainische | |
Familien ja, aber da gebe es keine Konflikte. | |
Er selbst, sagt Schmidt, könnte jedenfalls nicht in Städten leben, wie es | |
sie in Westdeutschland zum Teil gebe, wo es in der Innenstadt „nur noch | |
Dönerbuden“ gebe. | |
Lisa Jimenez, die den Manebacher Bahnhof zu einem weltoffenen Ort machen | |
will, sagt, Rassismus habe sie in ihrem Leben noch nie erlebt. Eine | |
Freundin, auch Kind eines Kubaners, aber deutlich dunkler als sie, erlebe | |
da aber ganz anderes. Kubaner und Asiaten seien grundsätzlich mehr | |
akzeptiert als andere Migrantengruppen, sagt Jimenez: Asiaten würden als | |
fleißig und geschäftstüchtig gesehen, und Latinos als die mit der guten | |
Laune. Diese Unterscheidung zwischen guten und schlechten Ausländern ärgere | |
sie. | |
Ein junges Paar schiebt mit einem Kinderwagen die Dorfstraße hoch. Nein, | |
sie seien keine AfD-Wähler, sagt der Mann. 21,8 Prozent der Manebacher | |
haben bei den Europawahlen für die CDU gestimmt, 5,1 für die SPD, die | |
Grünen bekamen 4,9, die Linken 3,6 Prozent, die Koalitionspartei FDP | |
spielte mit 0,7 Prozent Stimmenanteil überhaupt keine Rolle. Wie lebt es | |
sich einem Dorf, in dem die Blauen in der Übermacht sind? In der | |
Nachbarschaft sei Politik kaum ein Thema, sagt der Mann, man komme gut | |
miteinander aus. Sie seien aber auch sehr mit ihrem Nachwuchs beschäftigt. | |
Im örtlichen Kindergarten seien zwei von rund 40 Kids dunkelhäutig, | |
vollkommen selbstverständlich sei das. | |
Karl-Keinz Kühn, ein rüstiger 80-Jähriger mit grauem Bürstenhaarschnitt | |
wohnt oben am Berg. Mit einem E-Bike kommt der gebürtige Manebacher zur | |
Verabredung mit der taz ins Haus des Gastes. Parteilos, aber auf der Liste | |
der CDU, war Kühn der erste Ortsbürgermeister nach der Wende. 24 Jahre | |
lang, bis 2014, hat er den Job gemacht. | |
[2][„Der Höcke ist doch ein Nazi] durch und durch“, sagt Kühn über den | |
Thüringer AfD-Landesvorsitzenden, der als Rechtsextremist vom | |
Verfassungsschutz beobachtet wird. Er führe am privaten Stammtisch manchmal | |
Diskussionen mit Anhängern des Höcke-Lagers, aber das habe keinen Zweck. | |
„Einige sind schon sehr verbohrt – besonders die mittlere | |
Altersgruppe.“Jammern auf hohen Niveau findet Kühn das Klagen der Leute. | |
„Sie haben ein Häuschen und ein Auto, dass das Leben teurer wird, ist doch | |
ganz normal.“ Zu DDR-Zeiten habe es mehr Zusammenhalt gegeben, sagt Kühn. | |
„Der eine hatte das Rad, der andere die Felge.“ Nach der Wende seien die | |
Leute immer schwieriger geworden. Bei Problemen gleich mit Rechtsanwälten | |
zu drohen, sei in Mode gekommen. „Wer kannte denn früher einen | |
Rechtsanwalt? Keiner!“ | |
Und dann erzählt er die Geschichte von dem roten Mercedes, der einmal, nach | |
der Wende, zufällig vor dem Kindergarten geparkt war. Sofort verbreitete | |
sich im Dorf das Gerücht, der Kühn wolle den Kindergarten verkaufen, der | |
Investor sei schon da. In Wirklichkeit, so Kühn, gehörte der Mercedes einem | |
Tiefbauunternehmer. Er sei mit dem Mann in den Wald gegangen, um zu prüfen, | |
wie die Starkstromleitung unter der Erde verlegen werden könne. „Aber die | |
Leute haben es geglaubt – wie bei der AfD“. | |
In den Wendejahren sind Hundertausende zumeist junge Menschen aus dem Osten | |
in den Westen abgewandert. Grund war eine drastisch zunehmende | |
Arbeitslosigkeit in Folge von Betriebsschließungen. Eine ganze Generation | |
ging so verloren, auch in Manebach. Viele seien in den Westen gegangen, | |
erzählen Olaf, Andreas und Ralf. Nie wieder habe man die gesehen, „da war | |
die Freundschaft hin“, sagt Olaf. „Das waren schon böse Zeiten damals.“ … | |
der DDR habe man alle Güter mit dem Zug gefahren. Kohle, Sand, | |
Lebensmittel, alles. „Und auf einmal waren die Güterzüge weg. Über Nacht | |
war Schluss, die Treuhand hat das erledigt.“ | |
Das Neue Porzellanwerk Ilmenau, auch bekannt unter dem Namen „Graf von | |
Henneberg Porzellan“, galt in den 1970er Jahren als das größte und | |
modernste in Europa. Über 3.000 Menschen arbeiteten dort. Nach der | |
Wiedervereinigung wechselte das Werk mehrmals den Besitzer, 2002 wurde der | |
Manufakturbetrieb eingestellt. Ähnlich erging es dem VEB Kombinat | |
Technisches Glas. Das Stammwerk Ilmenau war der größte Arbeitgeber im | |
Ilmkreis, bis 1994 verloren alle 5.000 Beschäftigten ihre Arbeitsstelle. | |
Alle umliegenden Dörfer hätten in der Porzellan- und Glasindustrie | |
gearbeitet, erzählt eine alte Dame aus Manebach. Bis heute seien Löhne und | |
Renten nicht zu 100 Prozent angeglichen. „Das Ungerechtigkeitsgefühl bei | |
den Alten lebt fort“, sagt die Frau, die sagt, sie hege keine Sympathien | |
für die AfD. | |
Am 1. September sind in Thüringen Landtagswahlen. Mit rund 30 Prozent führt | |
die AfD die Umfragen an. Ihn erinnere das an 1933, als die Menschen den | |
Nationalsozialisten hinterhergerannt sind, sagt Kühn. „Man weiß, wohin die | |
Euphorie geführt hat.“ Er kommt auf die Bundespolitik zu sprechen. Er | |
beneide keinen von denen in Berlin, sagt er. Aber „der Habeck mit seinem | |
ganzen Geschiss um die Heizung“ habe sich die Dinge selbst eingebrockt. | |
Kühn meint das Heizungsgesetz des grünen Wirtschaftsministers. Er sei | |
einer, der immer das Licht ausmache und er trenne seinen Abfall, sagt Kühn. | |
„Dazu brauche ich keinen Habeck.“ | |
Kühn hat sich warm geredet. In der DDR habe es manche Missstände gegeben, | |
„aber wir hatten Frieden“. Wenn er das sehe, „die Ukraine und die da unten | |
…“ – Kühn führt den Satz nicht zu Ende, er meint den Krieg in Gaza. Zwei | |
Brüder habe er gehabt, erzählt Kühn. Anfang des Zweiten Weltkriegs sei der | |
Erste gefallen, der zweite sei in diesem Krieg verschollen. Seine Mutter | |
habe das nie verwunden. Er, das einzige Kind, sei 1944 geboren. Eine späte | |
Schwangerschaft, für die sich seine 47-jährige Mutter auf dem Dorf sehr | |
geschämt habe. | |
Dann kommt Kühn auf das Thema Migration zu sprechen. 1990 sei er der erste | |
Bürgermeister gewesen, der in seinem Ort Flüchtlinge aufgenommen habe. 70 | |
russische Juden aus der ehemaligen Sowjetunion: „Wir mussten die | |
unterbringen.“ Im Unterschied zu den heutigen „Wirtschaftsflüchtlingen“ | |
seien das aber noch vernünftige Leute gewesen. Was heute so alles passiere, | |
nein, nicht in Manebach, denn „die wollen natürlich nicht in die Dörfer, | |
weil da ein bisschen mehr aufgepasst wird“ – aber trotzdem, sagt Kühn. | |
Man müsse doch nur nach Suhl gucken. In Suhl gibt es eine große | |
Erstaufnahmestelle, die wegen Überbelegung immer wieder in die Schlagzeilen | |
geraten ist. Das widerspreche doch jeglichem Gerechtigkeitsgefühl, dass | |
„die kleine Frau an der Kasse“, sagt Kühn, „unwesentlich mehr verdient a… | |
Leute, die den ganzen Tag rumlungern, außerdem noch die Wohnung | |
eingerichtet bekommen und die dann wieder runterwirtschaften“. Was | |
unterscheidet ihn bei solchen Reden eigentlich noch von der AfD? „Dazu | |
brauche ich keine AfD“, sagt Kühn. „Das sagt mir mein gesunder | |
Menschenverstand.“ Er sei, betont der Ex-Bürgermeister, Demokrat. | |
Die [3][taz hatte am 23. Juni in Erfurt zu einer Veranstaltung] geladen. | |
Aktivistinnen und Aktivsten, Initiativen für Zivilcourage, Wissenschaftler | |
und die demokratischen Spitzenkandidaten diskutierten darüber, was bei der | |
Landtagswahl im Herbst auf dem Spiel steht. Es wurde darauf hingewiesen, | |
dass es sich bei dem Rechtsruck ja nicht nur um ein ostdeutsches sondern um | |
ein globales Problem handele. Dass die AfD bei den Europawahlen mit 28 | |
Prozent im Osten Deutschlands zwar stärkste Partei geworden sei, es aber | |
auch im Westen Hochburgen gebe. Und dass es, im Westen wie im Osten, ein | |
starkes Stadt-Land-Gefälle gebe: Es brauche viel mehr Menschen, die mit | |
einer klaren, weltoffenen Haltung und menschenorientierter Sicht die | |
ländlichen Regionen mitprägen, war man sich einig. | |
Mit dem Projekt des Kulturbahnhofs erfülle sie sich einen Lebenstraum, sagt | |
Lisa Jimenez. „Ich möchte die Gaststätte nicht in die Politik reinziehen, | |
aber es ist erkenntlich, wo ich stehe: gegen Extremismus.“ Sie werde | |
versuchen, eine gute Mitte zu finden. Bunt solle die Kneipe werden: | |
„Bahnhof bedeutet Ankommen“. Menschen und Lebenswelten kämen an solchen | |
Orten in Kontakt, die sonst keine Berührung hätten. Gerade auf den Dörfern | |
sei das wichtig, wo nach dem Motto gelebt werde, „Was der Bauer nicht | |
kennt, das isst er nicht“. Jimenez verfolgt keine politische Mission, Spaß | |
solle das Ganze machen. Die Manebacher, so viel sei klar, bekämen im | |
Kulturbahnhof einen Stammtisch. | |
Es ist früher Abend. Es war ein Kommen und Gehen an diesem Probetag. Bis | |
zur richtigen Eröffnung am 1. August ist noch viel zu tun: Die Bahnhofsuhr | |
muss noch repariert und das Bahnhofsschild Manebach wieder beleuchtet | |
werden. Von allen Seiten werde ihr Hilfe angeboten, erzählt Lisa Jimenez. | |
Es gebe auch schon Anfragen für Feiern, nicht nur aus dem Dorf. Der | |
Porzellanverein aus Ilmenau will eine Kuba-Veranstaltung machen. Eigentlich | |
will die Gastwirtin jetzt schließen, aber es sind noch Leute da. Olaf, und | |
auch Ursula und Burkhard, ein Ehepaar aus Manebach, das auf Berghütten | |
thüringische Volkslieder und Schlager singt. Der Moosbacher und die | |
Waldkatz, wie sie sich nennen, wollen auch im Kulturbahnhof auftreten. | |
Kubanische Musik schallt aus der Box. Micha, Lisas Lebensgefährte, verteilt | |
Pfeffi und Kirsch. Dann holt er seine Trompete. Buena Vista Social Club | |
wird von Helene Fischer abgelöst, spontan entwickelt sich eine Party. Olaf | |
strahlt. „Man ist das schön“, sagt er und kippt sich den nächsten | |
Schlüpferstürmer ins Bier. | |
9 Jul 2024 | |
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