# taz.de -- Judenhass an Universitäten: Offene Briefe, aggressive Boykotte | |
> Antisemitismus an Hochschulen, mal subtiler, mal aggressiver, war nie | |
> weg. Israel droht eine wissenschaftliche Isolation ohnegleichen. | |
Bild: Protest vor der Universität in Lausanne im Mai 2024, die Studierenden fo… | |
Wenn es heute auf Demonstrationen, in Texten, auf Podien, um Antisemitismus | |
geht, dann fällt so gut wie immer das Wort Kontinuität. Auch ich verwende | |
den Begriff und bin doch davon genervt, nicht, weil es nicht zutreffend | |
ist, von Kontinuität im Zusammenhang mit Judenhass zu sprechen. Nein, | |
vielmehr stößt mir auf, dass ich mir sicher bin, viele, die von Kontinuität | |
sprechen oder davon hören, sind sich der Ereignisse, der historischen | |
Vergangenheit, die diese Kontinuität formt, nicht bewusst. | |
Der Judenhass im akademischen Milieu weist so eine Kontinuität auf, heißt | |
also: Der Judenhass an Universitäten war niemals verschwunden, er ging erst | |
über von einem Jahrhundert ins nächste, dann von der herbeigesehnten Stunde | |
Null bis ins Hier und Jetzt. Juden an den Hochschulen zu bedrohen, | |
auszuschließen und zu verfolgen war dabei nicht nur eine deutsche, | |
nationalsozialistische Erscheinung. Die antisemitische Praxis an den | |
Universitäten machte sich breit in ganz Europa. | |
Die Maßnahmen reichten von antijüdischen Gesetzen bis hin zu körperlicher | |
Gewalt. Schon 1920 führte Ungarn einen Numerus Clausus für jüdische | |
Student:innen ein. In Polen bekämpften antijüdische studentische | |
Verbindungen Juden an den Hochschulen mit Propaganda und Angriffen. | |
Die Sprache, mit der heute – besonders an den Hochschulen – ein Boykott | |
Israels gefordert wird, erinnere an die Sprache, mit der in den 1930er | |
Jahren in Polen separate Plätze in den Hörsälen für jüdische Studierende | |
gefordert wurden. Das erklärte die Professorin für Slawistische | |
Literaturwissenschaft in Leipzig, Anna Artwinska, [1][kürzlich in einem | |
Interview]. Die sogenannten „Ghettobänke“ wurden ab 1937 eingeführt und | |
waren Sitzplätze für Juden in besonders gekennzeichneten Bereichen. | |
## Mal subtiler, mal aggressiver | |
Der Antisemitismus hat die Hochschulen in den mitteleuropäischen Ländern zu | |
dieser Zeit nicht überrollt. Er hat sich Schritt für Schritt | |
eingeschlichen, mal subtiler, mal aggressiver. | |
[2][Israel] droht heute eine wissenschaftliche Isolation, davon [3][erzählt | |
ein Text der ZEIT]. Wissenschaftler berichten von persönlichen Boykotten, | |
europäische Universitäten stoppen die Zusammenarbeit. Auf Druck von | |
emotionalisierten Kollegen, die „den Konflikt“ voller Sorge beobachten, | |
werden Einladungen zurückgezogen oder Partnerschaften aufgekündigt. | |
Ich halte nichts von historischen Gleichsetzungen, sie sind analytisch | |
ergebnislos. Aber wie soll man bei wissenschaftlichen Boykottaufrufen | |
gegenüber israelischen Institutionen, die in offenen Briefen oder von | |
erregten Student:innen gefordert werden, nicht an eine frühere Zeit | |
erinnert werden? | |
Ist es ein „Verrat der Intellektuellen“ (Julien Benda), der Hang zu | |
Autorität, den wir gerade beobachten? Nichts anderes als ein autoritärer | |
Wunsch ist ein Boykottaufruf schließlich. Trägt solches Verhalten nicht | |
dazu bei, dass sich Antisemitismus weiter verbreitet? Etwas, da bin ich mir | |
sicher, ist verrückt. Und ich meine dies wörtlich: ver-rückt. | |
## Narzisstischer Akt | |
Ein offener Brief ist eine Selbstvergewisserung, vielleicht gar ein | |
narzisstischer Akt. Was bringt so ein Brief? Herzlich wenig. Und doch, so | |
glaube ich, braucht es ihn hier und da. Als Moment des Widerspruchs. Die | |
Möglichkeit, eine Debatte anzustoßen. Hunderte „Profs against Antisemitism�… | |
haben dies aktuell getan. Die Unterzeichner stellen sich „ohne Wenn und | |
Aber vor unsere jüdischen Studierenden und Kolleginnen und Kollegen“, | |
[4][heißt es in dem Schreiben]. Sie reagieren damit auf den Brief Berliner | |
Lehrender zu den Besetzungen an der FU Berlin und anderen Universitäten. | |
Ich hoffe, damit ist die Reihe der offenen Briefe beendet. Statt Energie | |
darauf zu verschwenden oder die nächste aggressive Besetzung zu | |
organisieren, täte es so manchem gut, sich der Kontinuität zuzuwenden. Sie | |
zu studieren, über sie aufzuklären. Die Universität scheint mir dafür ein | |
passender Ort. | |
6 Jul 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://magazin.uni-leipzig.de/das-leipziger-universitaetsmagazin/artikel/g… | |
[2] /Israel/!t5007708 | |
[3] https://www.zeit.de/2024/28/wissenschaft-israel-europa-zusammenarbeit-boyko… | |
[4] https://profs-against-antisemitism.de/ | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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