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# taz.de -- „Ausreisezentrum“ in Brandenburg: Im Abseits
> Auf einer kleinen Oder-Insel in Brandenburg sollen Geflüchtete in einem
> Ausreisezentrum untergebracht werden. Die Pläne sind wenig willkommen.
Bild: Die Oder-Insel mit der ehemaligen Kaserne bei Küstrin-Kietz
Küstrin-Kietz taz | Etwas mehr als eine Stunde braucht man [1][mit dem
Regio von Berlin nach Küstrin-Kietz], einem kleinen Ort ganz im Osten
Brandenburgs. Aus staubigen Bahnfenstern blickt man auf Getreidefelder und
Wellblechscheunen. Die Grenze zu Polen ist nah, im Zug werden die
Stationen auf Deutsch und Polnisch angesagt.
Trotz der Nähe zu Berlin wirkt der Ort an der Oder etwas abgekoppelt. Zur
Hauptverkehrszeit sind hier zwar viele polnische Pendler unterwegs, jetzt,
an einem sonnigen Mittwochvormittag Ende Juni, aber ist es auf der
Hauptstraße ruhig. Nur die Vögel zwitschern.
Ein Mann auf einem eisblauen Mifa-Fahrrad fährt vorbei, ein altes
DDR-Modell. Von der Seite wird er zum Gruß angehupt, hier in dem Ort mit
750 Menschen kennt man sich. Wenn es nach dem Landkreis Märkisch-Oderland
und dem Land Brandenburg geht, sollen in der Gegend bald noch mehr leben:
Geflüchtete, die man abschieben will. Die Anwohner:innen sind dagegen
und organisieren sich in einer Bürgerinitiative.
Geplant ist eine Sammelunterkunft für Geflüchtete, die Deutschland bald
verlassen sollen. Als [2][„Ausreisezentrum“] wird so eine Unterkunft
bezeichnet, praktisch handelt es sich um eine Abschiebeeinrichtung. Der
vorgesehene Standort dafür findet sich mitten im Grenzfluss: die Oder-Insel
zwischen Küstrin-Kietz und Kostrzyn nad Odrą auf der polnischen Seite.
## Historischer Ort
Auf der Insel stehen historische Kasernen, die ersten wurden 1903 erbaut.
Ab den dreißiger Jahren wurden sie von der Wehrmacht verwendet, nach dem
Krieg dann bis 1991 von sowjetischen Truppen. Nun, mehr als 30 Jahre
später, ist alles zugewachsen, die einst mal durchaus ansehnlichen
Liegenschaften gammeln vor sich hin.
Wolfgang Henschel ist 68 Jahre alt und hat sein ganzes Leben in
Küstrin-Kietz verbracht. Seit der Kommunalwahl am 9. Juni ist der frühere
Diplomsportlehrer der neue Ortsvorsteher. Henschel ist parteilos, er gehört
der Wählergruppe [3][„Schöner leben in Küstriner Vorland“] (SLK) an.
Gemeinsam mit der SLK-Vereinsvorsitzenden Katrin Balk spricht er bei einem
Rundgang über die Insel mit der taz.
Der Ortsvorsteher erinnert sich noch gut an die Zeit, in der die Sowjets
auf der Insel gelebt haben. Manchmal, erzählt er, habe er Lkws gesehen, auf
denen Atomraketen gelagert wurden: „Das werden schon keine Badewannen
gewesen sein.“ Früher, als er mit seinen Freunden in Faltbooten um die
Oder-Insel rumgeschippert ist, habe man oft dort angelegt. „Dann haben die
Freunde uns mit Zigarettenpapierchen versorgt“, erzählt Henschel über die
sowjetischen Soldaten. Das Verhältnis sei gut gewesen.
## Große Hoffnung nach der Wende
Seit 1991 ist auf der Insel nichts passiert. Nach der Wende gab es große
Hoffnung: Man wollte ein Gewerbe aufbauen, deutsch-polnische Kooperationen
waren geplant. Natürlich alles unter Berücksichtigung des Naturschutzes.
Blühende Landschaften eben. „Damals wurde uns das Schlaraffenland
angekündigt“, sagen Henschel und Balk.
Daraus sei aber nie etwas geworden, wohl aus finanziellen Gründen. „Wir
haben dann im Prinzip auch einfach irgendwann aufgegeben.“ Aber jetzt, wo
es um das Abschieben von Geflüchteten gehe, sei auf einmal Geld für die
Insel da.
Zu den 750 Menschen, die heute in Küstrin-Kietz, leben – darunter auch ein
paar polnische Familien –, sollen gut 200 junge Männer dazukommen.
Geflüchtete ohne Pässe, die man aus Deutschland ausweisen möchte, sollen in
der Unterkunft auf der Oder-Insel untergebracht werden.
Ohne Papiere ist eine Abschiebung aber nicht ohne Weiteres möglich. Die
Bewohner:innen solcher Zentren dürfen sich, anders als in der richtigen
Abschiebehaft, frei bewegen, werden aber durch Isolation und „beratende
Gespräche“ zur Ausreise gedrängt.
Ein Teil der Insel steht unter Denkmal- und Naturschutz, in einem
nichtgeschützten Bereich sollen die Container für die Unterbringung der
Geflüchteten aufgebaut werden. Das Geld dafür soll aus dem Landeshaushalt
2025 kommen, rund 10 Millionen Euro sind eingeplant.
## Kritik vom Flüchtlingsrat Brandenburg
Auch abseits der Region gibt es Kritik an den Plänen für die Insel. Kirstin
Neumann vom Flüchtlingsrat Brandenburg sagt auf Anfrage der taz: „Das
sogenannte Ausreisezentrum auf der Oder-Insel lehnen wir ab. Die Leute
werden in die Perspektivlosigkeit verbannt“, das Vorhaben sei ein
„menschenfeindliches Abschottungsprojekt“. Sie verweist auch auf einen
bedeutsamen Punkt, der den Landkreis zu dem Projekt motiviert.
Denn mit einer Unterbringung von Geflüchteten auf der Oder-Insel käme der
Kreis Märkisch-Oderland seinem vom Land Brandenburg vorgegebenen
Aufnahmesoll näher. Das „Praktische“ für den Landkreis an der Sache: Die
Geflüchteten in dieser Unterkunft müssten nicht integriert werden, da sie
sowieso bald abgeschoben würden. Der Landkreis bestätigt gegenüber der taz
die Anrechnung der Geflüchteten, sollte das Ausreisezentrum Realität
werden.
Offiziell informiert darüber wurden die Anwohner:innen in einer
Gemeinderatssitzung Ende März. Der Landrat des Landkreises
Märkisch-Oderland Gernot Schmidt (SPD) und der Sozialdezernent Friedemann
Hanke (CDU) waren anwesend. „Wir haben uns einen der unattraktivsten Orte
rausgesucht, damit die Leute einfach nur noch wegwollen“, sagte Hanke
dabei.
Nach diesem Kommentar über Küstrin-Kietz sei die Stimmung gekippt,
berichtet Katrin Balk. Wut sei aufgekommen, bei einigen Anwesenden auch
Furcht vor kriminellen Geflüchteten.
## Sprungbrett für die AfD
Nach der Sitzung sei es so richtig zur Sache gegangen, erzählt
Ortsvorsteher Henschel. „Die AfD dachte, sie kann das Ganze als Sprungbrett
nutzen.“ Sofort stellte sie in Küstrin-Kietz eine Veranstaltung auf die
Beine, zu der auch gut 100 Leute gekommen seien. Zwar ist die AfD in der
Gemeindevertretung bisher nicht vertreten, bei der Europawahl im Juni
wählten allerdings 50 Prozent AfD.
Henschel sagt: „Ich möchte mich nicht am Ende bei der AfD dafür bedanken
müssen, dass das Ding gestoppt wird.“ Er bedauert, dass die Linke vor Ort
leider nicht mehr so stark sei. Und über die SPD müsse man ja gar nicht
erst reden.
Henschel und die anderen Bürger:innen waren nicht in die Entscheidung
involviert: „Wir hatten nur formell zuzustimmen.“ Henschel und Balk sind
anders als einige der Anwohner:innen aus humanitären Gründen gegen das
Abschiebeprojekt, sagen sie. Außerdem sei der Oder-Insel-Standort für ein
solches Zentrum ungeeignet. „Es sind verschiedene Nationalitäten,
zusammengepfercht, perspektivlos, deprimiert“, meint Balk.
Auch wenn die Menschen sich frei bewegen könnten, gäbe es vor Ort nichts
für sie. Der nächste Supermarkt ist gut sieben Kilometer entfernt. Die
Küstrin-Kietzer gehen immer in Polen einkaufen. Nur einmal über die Brücke
rüber, dort reiht sich ein Supermarkt an den anderen, auch Tankstellen gibt
viele. Dort sei man „super ausgestattet“, sagt Henschel. Geflüchtete ohne
Papiere allerdings dürfen nicht die Grenze überqueren.
Auch auf der polnischen Seite fühlen sich die Anwohner:innen
übergangen. Sie seien auf offiziellem Wege nicht über das Ausreisezentrum
informiert worden, berichtet Wolfgang Henschel. Erst durch Medienberichte
habe man im Rathaus in Kostrzyn nad Odrą von dem Projekt erfahren. Kurz vor
dem Gespräch mit der taz war Henschel dort und hat mit dem polnischen
Bürgermeister geredet. Zusammen wolle man sich nun grenzübergreifend
organisieren.
## Hochgezogene Augenbrauen
Denn auf der polnischen Seite habe man „mit hochgezogenen Augenbrauen
reagiert“. Der polnischen Verwaltung passe die geplante
Flüchtlingsunterkunft gar nicht in den Kram. Man will nämlich gerade mit
einem Sportboothafen den Oder-Tourismus stärker ausbauen.
Dass die deutsche Seite im Vergleich zur polnischen strukturell
hinterherhänge, sagt Henschel auch. Drüben hätte man EU-Gelder sinnvoller
eingesetzt. Mit Mitteln aus entsprechenden Fonds soll in Kostrzyn nad Odrą
ein Sportschwimmbad gebaut werden, zu dem dann selbst Schüler aus dem 30
Kilometer entfernten Frankfurt (Oder) zum Schwimmunterricht anreisen
sollen.
Trotz des Gegenwinds hat der Landkreis aber weiterhin „großes Interesse an
dem Projekt“. Auf Nachfrage der taz heißt es über den Zeitplan: „Vor dem
ersten Halbjahr 2025 wird nicht viel passieren.“ Höchstens eine Überprüfung
des Bodens auf der Insel könnte noch dieses Jahr stattfinden.
SLK-Vorsitzende Katrin Balk und Ortsvorsteher Wolfgang Henschel wären
glücklich über ein Scheitern des Projekts. Vielleicht, so hoffen sie, fällt
nach der Landtagswahl in Brandenburg im September auf, dass das nötige Geld
doch nicht da ist.
11 Jul 2024
## LINKS
[1] /Regionalbahnchaos-in-Brandenburg/!5885928
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Ausreisezentrum
[3] https://www.amt-golzow.de/politik/fraktion/6585/w%C3%A4hlergruppe-sch%C3%B6…
## AUTOREN
Luise Greve
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