| # taz.de -- Sportpsychologin über Fußball: „Den Leitwolf braucht es nicht“ | |
| > Fußball ist Kopfsache, gerade bei Turnieren und K.-o.-Spielen, sagt die | |
| > Sportpsychologin Babett Lobinger. Sie weiß, was ein High-Performance-Team | |
| > auszeichnet. | |
| Bild: So was sieht Deutschland gern: Kampfgeist und Schmerzensmänner, wie hier… | |
| wochentaz: Frau Lobinger, bei Großturnieren hat immer auch die | |
| Küchenpsychologie Konjunktur. „Die haben den Sieg nicht genug gewollt“, | |
| „die müssen mehr dran glauben“ oder „da stimmt die Einstellung nicht“.… | |
| man einen Sieg genug wollen, um ihn zu holen? | |
| Babett Lobinger: Kein kategorisches Nein, aber als Kommentaraussage ist es | |
| eher eine Worthülse. Man muss den Sieg schon wollen, aber das ist keine | |
| Frage der Einstellung auf dem Platz allein. Man kann so ein Turnier als | |
| Projektaufgabe sehen. Etwa wie: Ich plane einen Umzug, und ich will, dass | |
| an diesem Tag alles reibungslos klappt. Man sollte schon ein Jahr vorher | |
| den Sieg wollen. Dann überlegt man sich: Welche Spielertypen brauche ich | |
| dafür? Wann bereite ich was vor? | |
| Sie forschen seit 1998 an der Sporthochschule Köln und bilden seit 2006 | |
| Spitzentrainer:innen beim DFB psychologisch aus. Was hat sich in den | |
| Jahrzehnten verändert? | |
| Vor 15 Jahren gab es zumeist den Cheftrainer, den Torwarttrainer und zwei | |
| Co-Trainer. Jetzt haben wir immer mehr Spezialisten in den Teams. Die | |
| Expertise hat sich aufgefächert, auf den Cheftrainer kommt viel mehr | |
| Führungsarbeit zu und viel Öffentlichkeitsarbeit. Auch [1][die | |
| Sportpsychologie] hat sich enorm geändert. Wir haben Jürgen Klinsmann sehr | |
| viel zu verdanken, der aus den USA kam und gesagt hat: Sportpsychologen | |
| gehören einfach dazu. Oder einem Dirk Nowitzki. Die Amerikaner waren uns | |
| weit voraus, indem Sportpsychologinnen nicht nur in Extremsituationen | |
| dazugehören, sondern auch in der Trainingsroutine. | |
| Haben heute alle Profiteams Sportpsycholog:innen? | |
| Von den Vereinen der ersten drei Ligen haben alle mindestens einen | |
| Psychologen. Es steht auch einzelnen Spielern frei, mit einem eigenen | |
| Sportpsychologen zusammenzuarbeiten. Vor fünf, sechs Jahren ist es uns auch | |
| gelungen, Kolleginnen und Kollegen in den U-Mannschaften des DFB und in den | |
| Nachwuchsleistungszentren zu installieren. Ein 15-jähriger Fußballer trifft | |
| heute eine Psychologin eher beim Leistungssport als in der Schule. Das ist | |
| eine gute Nachricht für den Sport, eine schlechte für die Schulen. | |
| Was macht eine Teampsychologin bei so einem Großturnier? | |
| Man ist Teil des Teams und macht ein Angebot. Dieses kann ein Spieler | |
| aufgrund einer Verletzung, aufgrund von Problemen beim Verein oder in der | |
| Familie wahrnehmen. Oder weil er eine Rolle im Team ausfüllen muss, mit der | |
| er weniger zufrieden ist. Und es gibt sehr ausgefeilte Teammaßnahmen. 2010 | |
| in Südafrika zum Beispiel die Tour auf dem Segelboot, als Metapher: Es | |
| klappt nur, wenn eine Hand der anderen hilft. | |
| Wie viel Prozent macht die Psyche im Fußball aus? | |
| Der Anteil nimmt zu, wenn das Leistungsvermögen der Konkurrenten relativ | |
| gleich ist. [2][Die kompletteste Mannschaft], die am besten vorbereitet | |
| ist, aber trotzdem flexibel bleibt und die zudem an sich glaubt, gewinnt. | |
| Es spielt auch eine Rolle, ob ich mich auf die Gelegenheit freue – denn wie | |
| oft gibt es schon ein Heimturnier in einem Fußballerleben? | |
| Gibt es denn den Heimvorteil wirklich? | |
| Bei den vergangenen Fußball-Großturnieren in Deutschland gab es einen | |
| eklatanten Unterschied: Die Männer wirkten 2006 total beflügelt, [3][den | |
| Frauen schien 2011] die Erwartungshaltung wie Blei auf den Schultern zu | |
| liegen. Es gibt relativ viel Forschung zum Vorteil im eigenen Stadion. Der | |
| Tenor ist, dass es ihn im Grunde statistisch nicht gibt. Es scheint schon | |
| einen Einfluss von den eigenen Fans zu geben, aber das hat auch mit der | |
| Körpersprache zu tun, die ich als Platzherr habe. Der Trainer steht noch | |
| mehr unter Beobachtung und trifft vielleicht auch mutigere Entscheidungen. | |
| Es kann aber auch ins Gegenteil kippen, wenn die Erwartungshaltung lähmt. | |
| Auch wenn wir es nicht im Detail messen können, wird so ein Heimturnier | |
| einen Effekt haben. Mit den rosafarbenen Trikots und dem neuen Trainer | |
| Julian Nagelsmann ist die Stimmung wirklich ins Positive gekippt. | |
| Wie hat Nagelsmann das geschafft? Im Herbst war noch gefühlt Land unter, | |
| viele Fans fühlten sich völlig entfremdet vom DFB. | |
| Nagelsmann steht symbolisch für diesen Umschwung, aber es war sicherlich | |
| nicht nur er. Es gibt eine Reihe [4][von jungen Spielern wie Florian | |
| Wirtz], wo es einfach wahnsinnig Spaß macht, denen zuzugucken. Wir hatten | |
| eine Bundesliga-Saison, wo Mannschaften wie der VfB Stuttgart vorne | |
| mitgespielt haben, und es sind Spieler für den DFB nominiert worden, die | |
| quasi auf dem zweiten Bildungsweg kamen. Vielleicht waren die Menschen auch | |
| ausgehungert nach positiver Stimmung inmitten der ganzen schlechten | |
| politischen Nachrichten. Julian Nagelsmann hat deutlich gemacht, dass ihm | |
| die Stimmung unglaublich wichtig ist. Das ist ein Tross von 60 Leuten, und | |
| man darf nicht vergessen: Viele haben die vorherigen Turniere noch in den | |
| Knochen. Und es war ein kluger Schachzug, Kroos zurückzuholen. | |
| Die Rückkehr von Toni Kroos war emotional extrem wichtig, die | |
| Leitwolf-Metapher ist ein Lieblingsthema der Deutschen. Braucht es den auf | |
| dem Platz? | |
| Ich glaube, den braucht es nicht. Leverkusen zum Beispiel spielt unter Xabi | |
| Alonso ein Stück weit spanischen Fußball. Da passt eher eine | |
| Schwarm-Metapher. Diese deutschen Tugenden und die öffentliche Suche nach | |
| dem Leitwolf, die braucht es nicht. Jede Gruppe hat ihre Hierarchie. | |
| Hierarchie tut einer Gruppe auch gut, weil Spieler Verantwortung | |
| übernehmen. | |
| Der Stammtisch sagt dann gern: „Da muss jetzt jemand vorangehen“, „ein | |
| Zeichen setzen“. Wie geht das konkret? | |
| Superspannende Frage. Die Forschung aus jüngerer Zeit sagt: | |
| High-Performance-Teams haben vier Arten von Führungsspielern. Es gibt den | |
| taktischen Leader, der die rechte Hand vom Trainer sein kann. Es gibt einen | |
| emotionalen Leader, der insgesamt für gute Stimmung sorgt. Es gibt einen, | |
| der, wenn es schlecht läuft, sagt: Come on, let’s go! Und es gibt ein | |
| Gesicht der Mannschaft nach außen, einen, den man immer in die | |
| Pressekonferenz schicken kann und mit dem sich die meisten Fans | |
| identifizieren können. | |
| Wer sind diese Typen im DFB-Team? | |
| Joshua Kimmich hat eine sehr professionelle Einstellung, er will immer | |
| gewinnen, auch wenn es schlecht läuft. Antonio Rüdiger oder Toni Kroos sind | |
| als Gesichter der Mannschaft international bekannt. Wenn die auflaufen, | |
| werden sie von der Hälfte der Spieler der anderen Nationalmannschaften | |
| begrüßt. So was gibt einer Mannschaft ein anderes Gewicht. In deren | |
| Windschatten haben wir viele neue Nationalspieler, die mit großem | |
| Selbstbewusstsein zum Turnier anreisen. | |
| Von Marco Reus gibt es das berühmte Zitat: „Kommt mir jetzt nicht mit eurem | |
| Mentalitätsscheiß.“ Gibt es mental starke und schwache Teams? | |
| Es gibt Teams, die über ihrem Leistungsniveau performen. Aber das ist keine | |
| Frage der Mentalität. Das hat man sich erarbeitet. High-Performance-Teams | |
| haben klare Regeln: Man wertschätzt den anderen mit seinem | |
| Leistungsvermögen, man klärt, was einem als Team wichtig ist. Das braucht | |
| Zeit. Die Leverkusener zum Beispiel hatten Geduld. Das haben in diesem | |
| schnelllebigen Geschäft nicht viele. | |
| Im WM-Finale 2014 galt Bastian Schweinsteiger als Held, weil er „für | |
| Deutschland geblutet“ habe, Mesut Özil wurde für angeblich hängende | |
| Schultern kritisiert. Ist das ein deutsches Ding, den Mangel an | |
| Fußballwissen so stark mit Pseudopsychologie zu kaschieren? | |
| Wenn ich die internationale Presse lese, finde ich schon, es ist | |
| differenzierter. Am Ende eines Spiels wissen wir bei deutschen | |
| Kommentatoren zumeist wenig darüber, wie etwa Einwechslungen die taktische | |
| Ausrichtung verändert haben. Man könnte viel stärker fachlich berichten. | |
| Verhindert die Mentalitätsobsession analytischen Fortschritt in | |
| Deutschland? | |
| Ich glaube, das sind zwei Welten. Das eine ist die Berichterstattungsblase | |
| und das andere ist der Profifußball, der schon analytisch genug ist. Da | |
| droht manchmal schon fast Paralyse durch Analyse. Wenn wir im Vorfeld eines | |
| Elfmeters eine psychologische Routine erarbeitet haben, braucht der | |
| Spieler niemanden mehr, der ihm Details erklärt und damit unter Umständen | |
| Automatismen kaputt macht. | |
| Hatten Sie eigentlich Julian Nagelsmann in der Trainerausbildung? | |
| Ja. | |
| Welchen Eindruck hatten Sie von ihm? | |
| Er ist schon als Trainertalent gekommen, daran hat eigentlich keiner | |
| gezweifelt. Er war fachlich klar und sprachlich klar, vom Fußball | |
| fasziniert und mit dem Anspruch an sich, ein Top-Experte zu sein. Sehr | |
| interessiert und differenziert. | |
| Gibt es einen wichtigsten Ratschlag, den Sie Trainer:innen mit auf den | |
| Weg geben? | |
| Meistens mehr als bloß einen. Der wichtigste wäre: Manchmal neigen wir | |
| dazu, Leute besser machen zu wollen, indem wir sie mit ihren Schwächen und | |
| Fehlern konfrontieren. Das finde ich schon typisch deutsch. Und es gerät | |
| völlig in Vergessenheit, worin wir stark sind. Wenn man ein sehr guter | |
| Trainer ist, sieht man die verborgenen Stärken eines Spielers. Ich bin mir | |
| ziemlich sicher, dass wir bei der EM den einen oder anderen Spieler erleben | |
| werden, der uns positiv überrascht. | |
| 13 Jun 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alina Schwermer | |
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