| # taz.de -- EU-Wahlkampf in Litauen und Lettland: Wahlmüde, aber ein Herz für… | |
| > In Litauen und Lettland ist der EU-Wahlkampf kaum ein Thema. Für viele | |
| > Menschen spielt vor allem eines eine Rolle: die Solidarität mit der | |
| > Ukraine. | |
| Bild: 23. August 1989: Menschenkette von Lettland über Litauen nach Estland | |
| Vilnius/Riga taz | EU-Wahlkampfstimmung sieht anders aus. Plakate von | |
| litauischen Spitzenkandidaten sind nur vereinzelt zu sehen. Immerhin wehen | |
| in der [1][Hauptstadt Vilnius] vor Ministerien und Behörden ein paar | |
| Europaflaggen. Die Litauer scheinen etwas wahlmüde zu sein. Kein Wunder, | |
| hat das Land doch gerade einen Präsidentschaftswahlkampf hinter sich, | |
| [2][den Präsident Gitanas Nausėda im zweiten Wahlgang gewann]. Aber: Was | |
| man stattdessen überall sieht, sind ukrainische Fahnen. Sie hängen an | |
| Balkonen in Schaufenstern und – neben der litauischen – an jedem | |
| öffentlichen Gebäude der Stadt. „Vilnius – Ukraina“ steht im | |
| Fahrtzielanzeiger in allen Bussen. | |
| Warum das so ist, erklärt Audrius Stonys, ein bekannter litauischer | |
| Dokumentarfilmer. Gerade mal 23 Jahre alt war er, als er einen Film über | |
| die größte Protestaktion in der Geschichte der baltischen Staaten drehte. | |
| Am 23. August 1989, fünfzig Jahre nach der Unterzeichnung des | |
| Hitler-Stalin-Paktes, bildeten Litauer, Letten und Esten eine 650 km lange | |
| Menschenkette, von Vilnius bis Tallinn. Eine Demonstration sei das nicht | |
| gewesen, meint Stonys, sondern eine Willensbekundung: Litauer, Letten und | |
| Esten wollten nicht länger zur Sowjetunion gehören, sondern als freie | |
| Menschen in unabhängigen Staaten leben. | |
| „Wir hatten keine Angst mehr“, sagt Stonys heute. „Wir waren Millionen, d… | |
| Miliz war auf unserer Seite. Der Staat hatte keine Möglichkeit mehr, zu | |
| intervenieren.“ Doch auch die Zeit sei eine andere gewesen als heute, gibt | |
| er zu. „Gorbatschow wollte damals sein Gesicht wahren. Aber Diktatoren wie | |
| Putin und Lukaschenko ist das alles egal. Was die Welt über sie denkt, ob | |
| Menschen sterben, das interessiert sie schlicht nicht.“ | |
| Eigentlich wollten wir über seinen Film reden. Doch schnell kommt Stonys | |
| auf die Gegenwart zu sprechen. Auf die niedergeschlagene Revolution im | |
| benachbarten Belarus. Auf den Krieg in der Ukraine. Und auf den | |
| Expansionsdrang von Russlands Präsident Wladimir Putin. „Es geht ihm nicht | |
| in erster Linie um Territorium. Er will die Ideen der Ukraine zerstören, | |
| die Zugehörigkeit zur EU, zur Nato. Er will auch die Nato zerstören, von | |
| innen.“ | |
| ## Was der Ukraine passieren könnten, kennen sie nur zu gut | |
| Litauen sei bedingungslos solidarisch mit der Ukraine. Gleich in den ersten | |
| Kriegstagen seien täglich eine Million Euro für das angegriffene Land | |
| gespendet worden, sagt Stonys. Die Litauer hätten nicht vergessen, was | |
| russische Besatzung bedeutet. Das, was der Ukraine passieren könnte, | |
| nämlich von Russland okkupiert zu werden, das kennen sie selber nur zu gut. | |
| [3][Auf die Anmerkung, dass in Deutschland Menschen davon sprechen, mit | |
| Putin zu verhandeln], schnaubt Stonys verächtlich. „Worüber denn? Mit Putin | |
| kann man nicht verhandeln“. Der Krieg hat ihn politisiert. Er zeigt seinen | |
| Youtube-Feed: „Nur noch Ukraine-Videos“. Er sei nie ein politischer Mensch | |
| gewesen, sein Interesse habe immer dem poetischen Dokumentarfilm, der Kunst | |
| gegolten. Sicher, er gehe wählen, das sei wichtig. Er habe liberale | |
| Ansichten, er sei für Europa. Aber nie habe er einer Partei angehört, nie | |
| ein politisches Amt bekleidet. | |
| Selbst dem Dienst in der Sowjetarmee habe er sich entzogen. Doch jetzt | |
| verfolgt er alle Frontbewegungen, kennt sämtliche eingesetzten Waffen. | |
| Niemand in seinem Bekanntenkreis sei mehr politisch neutral. „Als 1940 die | |
| Sowjets unser Land besetzt haben, hat sich Litauen nicht gewehrt, obwohl | |
| wir so eine moderne Armee hatten“, erklärt Stonys. „Aber wenn sie es jetzt | |
| wieder versuchen, werden wir kämpfen.“ | |
| „[4][Europa ist wichtig für uns]. Auch wegen des Krieges“, sagt Krista aus | |
| Riga. Sie ist Anfang 50, wir haben uns zu Studienzeiten kennengelernt. Fast | |
| dreißig Jahre haben wir uns nicht gesehen. Doch das Erste, worüber wir | |
| reden, ist der Krieg in der Ukraine. Krista war immer ein politischer | |
| Mensch. Schon sehr früh hat sie für Ministerien gearbeitet, zwei Jahre saß | |
| sie für die liberale, proeuropäische Partei „Kustība Par!“ (Bewegung | |
| Dafür!) in der Saeima, dem lettischen Parlament. | |
| In einem Café in der Rigaer Neustadt – an der Wand über hundert | |
| Kaffeedosen in Blau und Gelb – erzählt sie vom 24. Februar 2022. „Ich war | |
| damals gerade in Brüssel. Morgens um vier schrieben ukrainische Freunde, | |
| Kyjiw werde bombardiert“, erinnert sie sich. „Und ich dachte: Das hätten | |
| auch wir sein können. Sie hätten auch meine Tochter vergewaltigen, meine | |
| Eltern ermorden, mein Haus beschießen können. Uns war klar, dass wir durch | |
| die Zugehörigkeit zu EU und Nato geschützt sind“, erzählt sie. | |
| ## Riga ist schön geworden | |
| Krista wurde in der lettischen Sowjetrepublik geboren, sie hat eine | |
| sowjetische Schule besucht und spricht fließend Russisch. Aber wir reden – | |
| natürlich – Englisch miteinander. Sie hat in der Schweiz studiert, in | |
| Brüssel gearbeitet, ihre Freunde leben in der ganzen Welt. Mit dem | |
| Nachbarland Russland hat sie wenig Berührungspunkte. „Der Krieg hat die | |
| Menschen hier politisiert“, meint auch Krista. Deshalb hängen auch hier in | |
| der ganzen Stadt ukrainische Fahnen, kleben auf jedem Bus blau-gelbe | |
| Sticker. Den Menschen in Lettland sei jetzt klar, welche Bedeutung die EU | |
| für sie habe. | |
| Und was für die Ukraine auf dem Spiel stehe. Für die Russen in Lettland sei | |
| der Überfall ein Schock gewesen, sagt sie. Von den rund 1,8 Millionen | |
| Einwohnern Lettlands gehören etwa 27 Prozent der russischen Minderheit an. | |
| „Viele von den Älteren haben nur russisches Fernsehen geschaut, sie haben | |
| der Propaganda geglaubt.“ Jetzt sind die russischen Staatsmedien in | |
| Lettland blockiert. | |
| Später fahren wir mit dem Auto aus dem Stadtzentrum heraus. Krista will mir | |
| zeigen, wie schön Riga geworden ist: „Fahrradfreundlich, hundefreundlich, | |
| grün.“ Wir kommen an einem großen Park vorbei, in dem Menschen Fahrrad | |
| fahren und joggen. Seit 1985 stand hier ein sowjetisches Denkmal, das an | |
| den Sieg über Nazideutschland und die Befreiung Sowjet-Lettlands erinnerte. | |
| Alljährlich am 9. Mai gab es hier einen Festakt zum „Tag des Sieges“. Im | |
| August 2022 wurde es abgerissen. | |
| Abends schickt Krista noch eine Nachricht: „Komm ins Europa-Haus, da werden | |
| die Wahlergebnisse bekannt gegeben. Als Journalistin kannst du dich da | |
| einfach registrieren lassen“, schreibt sie. „Wir sind ein freies und | |
| sicheres Land.“ | |
| 9 Jun 2024 | |
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