Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Dokutheater bei den Wiener Festwochen: Mythen, Trugbilder und Verbr…
> Die Wiener Festwochen schicken das Theater auf Grenzgänge zur
> Wirklichkeit in den Spuren von Hamlet, Medea und dem Fall der Götter.
Bild: Auf schmalem Pfad zwischen Dokument und Fiktion: „Making of Berlin“ v…
Die Zeit ist aus den Fugen“, heißt es in Shakespeares „Hamlet“. Und sie
wirft Falten, ihr einst linearer Verlauf biegt sich in Parallelen und
Spiegelungen. So geschieht es jedenfalls in Christiane Jatahys „Hamlet.
Dans les plis du temps“ (Hamlet in den Falten der Zeit). In ihrer
Annäherung an den Dänenprinzen lässt sie diesen aufs Heftigste
raumzeitliche Haken schlagen.
Die Koproduktion der Wiener Festwochen mit dem Odéon – Théâtre de l’Euro…
(Paris) befördert ihn (Clotilde Hesme) aus dem zugig-kalten Helsingör in
eine moderne Pariser Stadtwohnung von Besserverdienenden. Dort wird er
weich landen, „hyggelig“ auf schadstoffarmen Polstermöbeln – das Design
bleibt skandinavisch.
Und doch ist etwas passiert: plötzlich Prinzessin! Hamlet wechselt wie
Virginia Woolfs Orlando während seiner Zeitreise die Zuschreibungen und
Zumutungen des Geschlechts. Das ist nicht neu, passt aber. Über seine
Aufführungsgeschichte hinweg verweist das bleiche elisabethanische
Zauderwesen immer schon auf das Unbehagen der Geschlechter und zeugt von
den Schmerzen der Subjektkonstitution, ganz gleich ob Letzteres auf einer
der unzähligen queeren oder straighten Seiten landet.
Auch Ophelia (Isabel Abreu) ist nicht mehr „Nymphe“, sie zitiert kraftvoll
ihr zugedachte Sätze aus Heiner Müllers „Hamletmaschine“. Bald aber ist d…
dramaturgischen Selbstverpflichtung Genüge getan, von der Gewalt des
Patriarchats zu handeln, vom blinden Fleck der literarischen Überlieferung
und ebenjenes (männlich-)bürgerlichen Subjekts.
## Shakespeares' Punchlines
Es entfaltet sich eine wohlinszenierte Familienkonversation, die die
bekanntesten Punchlines von Shakespeare nicht auslässt. Stiefpapa Claudius
(Matthieu Sampeur) brodelt in der offenen Küchenzeile kein königsmordendes
Gift, sondern leichte Mittelmeerkost für die Gäste. Gertrude (Servane
Ducorps) trinkt als Sinnbild ihrer Ichschwäche den Wein schon aus der
Flasche, noch bevor Hausfreund Polonius die Gläser auftischt.
Die Theaterszene, mit der Hamlet bei Shakespeare die Ermordung seines Vater
aufdeckt, ist ein Gesellschaftsspiel mit Ereigniskarten, die Rosencrantz
und Guildenstern gleich mitgebracht haben. Worum geht es eigentlich?
Geister – die flackern unscharf über die halbdurchlässige
Projektionsfläche, der alte Hamlet und die frevelhafte Hochzeitsszene des
Nebenbuhlers mit Gertrude.
Aber es könnte genauso gut der Flashback eines schlechten Trips sein.
Burschikos in der Sitzlandschaft lümmelnd rebelliert Hamlet, aber wogegen?
Dass jetzt Claudius die monatliche Überweisung tätigt?
Krieg ist auch noch irgendwo, aber nur im Fernsehen. Alles nur zu bekannt.
Shakespeares Monster ducken sich, bis sie unter den Horizont der Gegenwart
passen – in einem Theater, das sich das Ende der Welt eher vorstellen kann
als das Ende der dysfunktionalen Kleinfamilie.
## Fabel oder Form
[1][Für Milo Rau, den Festwochenintendanten,] geht es im Theater immer auch
um die Wette, was darin sticht – die Fabel oder die Form. Meist gewinnt die
Fabel, steht die literarische Form doch im Verdacht, allein durch die
Bedingungen ihrer Entstehung herrschaftsförmig überlagert zu sein. Sie soll
deswegen mit dokumentarischem Material angereichert werden. Das ist auch
bei „Medeas Kinderen“ so, einer flämischen Produktion, die Rau direkt vor
seinem Beginn in Wien noch am NT Gent herausgebracht hat.
Medea, die muss man erst mal verdauen. Die Fremde im „zivilisierten“
Korinth, von Jason ausgebeutet und aus politischer Opportunität verlassen,
tötet in Verzweiflung und Rache die beiden gemeinsamen Söhne. Der Mythos
tradierte den Stoff über Generationen, bis eine mögliche initiale Bluttat
daraus entschwunden war.
Als multipler Tragödienstoff von Euripides bis in die frühe Neuzeit, als
literarische Material bis in die Gegenwart scheinen ihre Facetten noch
immer nicht vollständig ausgedeutet. Was Tragödiendichter und wandernde
Sänger in der Antike so schreckte, war zweierlei, die Brutalität des
Infantizids, aber auch die selbstschädigende Revolte der Frau gegen die
Kolonisierung ihrer Fortpflanzungsfähigkeit im Patriarchat. Sie nimmt dem
Helden seinen Beziehungsgewinn, die möglichen Erben.
## Kriminalfall in Oostende
Rau schließt Euripides mit einem Kriminalfall im belgischen Oostende kurz.
[2][Eine Frau schlachtete, nachdem sie verlassen war, ihre fünf Kinder mit
einem Küchenmesser] auf brutalste Weise ab. Am anschließenden Suizid
scheiterte sie, viele Jahre später nahm sie aktive Sterbehilfe für sich in
Anspruch, nicht ohne Selbstbestrafungsabsicht.
Mit Euripides unterm Arm und der Handkamera im Anschlag begibt sich das
Theater am nachgebildeten Nordseestrand auf die forensische Erkundung. Ein
Verfremdungseffekt ist dabei. Eine Gruppe Kinder von acht bis vierzehn
Jahren erzählt und spielt die Rekonstruktion des Infantizids.
Das lässt zunächst aufhorchen, funktioniert dramaturgisch erst einmal ganz
gut. Angeleitet von einem wohl bewusst zwiespältig angelegten, bisweilen
ziemlich drängend agierenden erwachsenen Spielleiter erzählen sie die
Geschichte in illusionsloser Klarheit und stellen sie nach. Die Jüngsten
sind die Besten, schieben altkluge Pointen unterspannt [3][wie Wednesday
Addams] reihenweise heraus. Irgendwann kommt der anfängliche Zweifel
wieder.
Liefern Kinder hier nicht nur Deadpan Jokes für das Ironiebedürfnis von
Erwachsenen? Inwieweit gehören diese Sätze wirklich ihnen, würde ein
weniger gescripteter Arbeitsprozess nicht zu ganz anderen Ergebnissen
führen? Hingegen weckt das, was manche Erwachsene verstört und sogar aus
dem Saal treibt, bei den Kindern eher freudiges Interesse: mit dem
Küchenmesser in falsche Hälse schneiden, das Theaterblut aus
Silikon-Aorten pulsieren lassen. So muss es beim Film zugehen.
## Verstrickungen in deutsche Geschichte
„Making of Berlin“ von Yves Degryse und der flämischen Kompanie BERLIN,
deren Name sogleich ihre Obsession für die Verstrickungen im unwegsamen
Gelände deutscher Geschichte verrät, bewegt sich virtuos auf dem schmalen
Pfad zwischen Dokument und Fiktion. Die Arbeit ist ein weiteres
Referenzstück für Grenzgänge zwischen Theater und Wirklichkeit, zu denen
die Festwochen ihr Publikum verführen und auf denen sie es künftig
entlangführen wollen.
Der Abend besteht aus ca. 80 Prozent Roadmovie, 20 Prozent Theater und
handelt von einer Fitzcarraldo-haften Obsession aus den letzten Tagen des
Zweiten Weltkriegs. Kein Opernhaus am Amazonas, kein Schiff, nur um zehn
Minuten Siegfrieds Trauermarsch aus Wagners „Götterdämmerung“.
Ein ehemaliger Orchesterwart der Berliner Philharmoniker träumt vom
Reenactment eines Plans, den es kurze Zeit vor der Kapitulation des
Nazireichs wohl gab, der aber nie verwirklicht wurde: das Stück ein letztes
Mal auf mehrere Bunker verteilt aufzuführen. Es soll in Belgien seinen
Wunsch erfüllt sehen. Dazwischen aber ist nichts, wie es scheint.
Identitäten verblassen, hinter der Lüge verbirgt sich möglicherweise eine
höhere Form von Wahrheit, in jedem Fall aber unauflösbar schuldhafte
Verstrickung.
In einer Art Mockumentary zeigt Degryse, wie sein Team und er sich bei
diesem Projekt in den Widersprüchen deutscher Geschichte verirren und
verfahren, schließlich doch noch einen politisch wie künstlerisch adäquaten
Ausgang finden. Die Vergangenheit vergeht noch lange nicht.
4 Jun 2024
## LINKS
[1] /Milo-Rau-Aktivist-und-Kuenstler/!5960851
[2] https://www.n-tv.de/panorama/Mutter-toetet-fuenf-Kinder-article215872.html
[3] /Serie-Wednesday/!5901315
## AUTOREN
Uwe Mattheiß
## TAGS
Wiener Festwochen
Theater
Dokumentartheater
Milo Rau
Wiener Festwochen
Theater
Wiener Festwochen
Politisches Theater
Theater
René Pollesch
Oper
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kulturfestival in Wien: Die Kunst der Dauermobilisierung
Bei den Wiener Festwochen sammelt Milo Rau die Widersprüche der Zeit ums
Lagerfeuer. Einige Produktionen versuchen Klassiker im Theater neu zu
erfinden.
Theaterstück „Hier spricht die Polizei“: Halbnackt eine Polonaise tanzen
ACAB oder Freund und Helfer? Das Dokumentartheaterstück „Hier spricht die
Polizei“ feiert am Staatstheater Hannover Premiere.
Theaterstück „Rohtko“ über Kunstmarkt: Die Garküche der Moderne
Łukas Twarkowski untersucht das Verhältnis von Kunst und Geld, Original und
Fälschung. Das Theaterstück „Rohtko“ lief bei den Wiener Festwochen.
FPÖ vor Gericht bei Wiener Festwochen: Wie Rechte ticken
Die Wiener Festwochen stellen Rechtspopulisten vors Theatergericht. Die FPÖ
sei eine Gefahr für die Demokratie, Sanktionen soll es aber nicht geben.
Vorwürfe gegen Philosoph Omri Boehm: Eklat vor Rede an historischem Ort
Der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm trat bei den Wiener Festwochen
auf. Seine Rede sorgte schon im Voraus für Kontroverse.
Zum Tod von René Pollesch: „Ich kann allein nicht denken“
Stirbt jemand, hinterlässt er eine Leerstelle: Ein paar Gedanken zum
verstorbenen Volksbühnen-Indendanten René Pollesch von einem Wegbegleiter.
George Lewis bei den Wiener Festwochen: Drei Toms und eine Messermoritat
E-Musik-Dekolonisierung. Zur Uraufführung von „Song of the Shank“, der Oper
des US-Komponisten George E. Lewis, bei den Wiener Festwochen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.