# taz.de -- Koloniale Gewalt in Chile: Das Gebäude und sein Salpeter | |
> Eine Hamburger Ausstellung beleuchtet, wie „Salpeterbaron“ Henry Sloman, | |
> Erbauer des Hamburger Chile-Hauses, zu Reichtum kam. | |
Bild: Verdunstungsbecken zur Lithiumgewinnung in Salar de Atacama, Chile. Aus: … | |
El Condor pasa – der Kondor zieht: Das Wappentier von Andenstaaten wie | |
Chile symbolisiert Stärke und Freiheit; um den Profit ausländischer Firmen | |
geht es nicht. Da wirkt es wie kulturelle Aneignung, dass ein Kondor die | |
Fassade des vom „Salpeter-Baron“ Henry Sloman finanzierten Hamburger | |
Chilehauses ziert. | |
Der Vogel fungiert als Galionsfigur am imaginierten Schiffsbug der 1924 | |
geweihten Ikone expressionistischer Backsteinarchitektur. Deren quer | |
gestellte Klinker formen einen feinen Rhythmus, Eisengeländer und Kacheln | |
im Inneren sind klug komponiert. In Szene gesetzter kolonialer Reichtum, | |
seit 2015 Teil des UNESCO-Welterbes. | |
Architekt war [1][Fritz Höger, NSDAP-Mitglied und Antisemit]. Den Kondor | |
schuf der NS-treue Bildhauer Richard Kuöhl. Auftraggeber das riesigen Baus | |
war mit Sloman der damals reichste Mann Hamburgs. | |
Möglich wurde das durch den Handel mit Salpeter, auf den die Schau „Weißes | |
Wüstengold“ in Hamburgs Museum am Rothenbaum (MARKK) zum 100-Jährigen des | |
Chilehauses blickt. Der weltweit größte Salpetervorrat lagerte unter der | |
Atacama-Wüste, einst zu Peru, Bolivien und Chile gehörig und nach dem | |
„Salpeter-Krieg“ 1884 von Chile einverleibt. Fortan vergab Chile, gegen | |
hohe Exportzölle, Abbau-Konzessionen an britische und deutsche Firmen wie | |
Sloman und Fölsch & Martin. | |
## Lebensgefährliche Knochenarbeit | |
Sie bauten Salpeterwerke in die trockenste Wüste der Welt. Dann warb man | |
Arbeiter an – verarmte Menschen aus Peru, Bolivien, Chile sowie Indigene. | |
Untergebracht wurden sie in Holz- oder Wellblechhütten, bei Temperaturen | |
zwischen 40 Grad plus und 20 Grad minus. | |
Zu leisten war ein gefährlicher Knochenjob: Das Gestein wurde | |
herausgesprengt, zerhackt, das Salpeter in heißen Wasserbecken durch | |
Verdunstung gelöst und zum Hafen transportiert. Kinderarbeit war üblich, | |
Arbeitsschutz nicht: Ohne Handschuhe und Mundschutz arbeiten die | |
„Ausschaufler“ der heißen Blechwannen auf den Fotos im MARKK. Und dass | |
Arbeiter oft von den Stegen in die heißen Becken fielen, zeigen die Fotos | |
gar nicht. Das weiß man aus Notizen europäischer Angestellter. | |
Hier liegt die Crux der Aufarbeitung: Die Fotos aus dem Sloman-Nachlass | |
sind einerseits die einzigen Abbildungen der Salpeter-Arbeiter. | |
Andererseits entstanden die Bilder zu Werbezwecken, aus Unternehmersicht. | |
Da stehen die Arbeiter brav aufgereiht wie „gezähmte Wilde“ an | |
Arbeitsgeräten, als sei dies ihre Berufung: für Europa fleißig sein. | |
Profitiert haben, neben dem chilenischen Staat, die ausländischen Firmen. | |
Die Arbeiterschaft wurde in fabrikeigenem Kunstgeld entlohnt, mit dem man | |
nur in teuren Werksläden zahlen konnte. So floss auch dieses Geld an die | |
Firmen zurück. | |
## Einschüchterung und Massaker | |
1907 reichte es den Arbeitern. Zu Tausenden belagerten sie die nördliche | |
Hafenstadt Iquique, wollten mehr Lohn und Arbeitsschutz. Gewalttätig wurden | |
sie nicht. Es folgte das bis heute traumatische Massaker von Iquique, bei | |
dem Chiles Militär 150 bis 3.000 Streikende erschoss; genau erfuhr man es | |
nie. Slomans Leute im Süden waren nicht dabei, aber die Einschüchterung | |
wirkte. | |
Vergrößert wird der Zynismus durch das Material selbst, war Salpeter nicht | |
nur als Dünger nötig, um die wachsende Bevölkerung Europas zu ernähren. | |
Auch für Schießpulver brauchte man den Rohstoff, also für Europas Kriege, | |
Sprengungen beim Salpeter-Abbau – und für das Massaker von Iquique. | |
Das Ende des Booms kam, als Fritz Högers expressionistisches Chilehaus in | |
Hamburg gerade fertiggestellt war, in den 1920er Jahren mit der Entwicklung | |
künstlichen, weit billigeren Salpeters in Europa. Die Arbeiter zogen weg, | |
in der Atacama blieben Industrie-Skelette und Hüttenreste. Wobei einige von | |
ihnen – etwa Chacabuco – in den 1970ern unter Diktator Pinochet zum | |
Folterort für politische Gegner wurden. In einem MARKK-Video berichten zwei | |
Überlebende. Andere fand man nie. Bis heute suchen Verwandte nach ihnen, | |
stellen Kreuze in die Wüste. | |
Deren europäische Profiteure übrigens nicht nur Salpeter mitnahmen: Auch | |
prähistorische Pfeilspitzen und präkolumbische Gefäße der seit 11.000 | |
Jahren besiedelten Region zeigt das MARKK. [2][Gesammelt und ins Museum | |
gegeben] wurden sie von europäischen Angestellten. Über Restitution sei man | |
im Gespräch, sagt Kuratorin Christine Chávez. | |
[3][Der Extraktivismus in der Atacama indes dauert an.] Denn in Chile, | |
Bolivien und Argentinien wird seit 20 Jahren unter hohem | |
Grundwasserverbrauch Lithium abgebaut. So trocknen die wenigen Lagunen der | |
Wüste weiter aus; ein ökologisches Desaster. Dabei symbolisiert Lithium, | |
nötig etwa für E-Auto-Batterien, doch Europas Verkehrswende. Das MARKK | |
zeigt Tom Hegens Fotografien von riesigen Verdunstungsbecken, im chemischen | |
Gelb, Grün oder Blau leuchten sie in der ausgezehrten Landschaft der | |
Atacama. | |
5 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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