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# taz.de -- Schlagermove in Hamburg: Hossa!
> Der Schlagermove ist Hamburgs eigener Karneval. Ziel ist eine friedlich
> alkoholisierte Massenparty. Kann das klappen? Eine Nahbetrachtung.
Bild: Mit dem Schlager unterwegs durch St. Pauli: die Massen beim Schlagermove
Hamburg taz | Im Grundsatz ist es einfach: Köln hat [1][den Karneval],
München hat [2][das Oktoberfest], Hamburg hat den Schlagermove. Die
Menschen kommen zu Tausenden, verkleiden sich, betrinken sich, tanzen. In
Köln passiert das im Winter, und beim Verkleiden herrscht Narrenfreiheit.
In München feiert man im Herbst und verkleidet wird sich in dem stilistisch
schmalen Korridor der Tracht. In Hamburg ist der Schlagermove alljährlich
an einem Tag im Sommer, und alle tragen Schlagerklamotten.
Dieses Jahr wurde der Move wegen der Fußball-EM in den Mai vorverlegt,
wichtiger als Fußball ist er dann doch nicht. Außerdem gelang es dem
Schlagermove nicht, [3][an der Causa Sylt] vorbeizukommen. Einen Tag vor
dem Move startete die Berichterstattung über junge Fascho-Schnösel, die in
einem Sylter Schickimickiladen rassistische Parolen zu Gigi D'Agostinos
Schlager „L’amour toujours“ gegrölt hatten. Dazu zeigten sie den
Hitlergruß.
Beim Schlagermove ist laut Augenzeugen das Gleiche passiert – nur ohne
Schickimicki und ziemlich kurz, die Veranstalter berichten von 28 Sekunden,
die der Song auf der Playlist des Truck-DJs verzeichnet sei. Rund 50 Leuten
hätten um 17.38 Uhr „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ mitgegrö…
dazu hätten acht junge Männer den Hitlergruß gezeigt. So erzählte es der
Moderator von „Radio Fischmarkt“ dem Hamburger Abendblatt. Nun ermittelt
der Staatsschutz und die Polizei sucht Zeug*innen. Die Veranstalter
distanzieren sich heftig. Den Besucher*innen möchte man unterstellen:
Sie würden sich zu einem großen Großteil auch distanzieren, wenn man sie
fragen könnte. Kann man aber nicht. Man kann sich nur erinnern an den
Schlagerfan, der zwei Stunden vor dem Vorfall ein Schild hochhielt auf dem
stand: „FCK Sylt!“
Rund 400.000 Menschen waren laut Veranstalter auf den Straßen von St. Pauli
unterwegs, und was sie eint, das ist das Verkleiden. In der U-Bahn vom
Stadtrand nach St. Pauli grüßen sich einander fremde Verkleidete mit
„Hossa!“. Es ist ein Verkleiden, das einerseits zweifelsfrei Zugehörigkeit
signalisiert, andererseits Spielraum für Individuelles lässt. Es ist das
gleiche Konzept wie das der Pizza im Bereich der Kulinarik. Wenn es jemand
erfunden hätte, man würde sagen: genial.
Aber das Schlager-Outfit hat niemand erfunden, es hat sich im Lauf der
Jahre entwickelt: Im Kern ist es eine Parodie auf die Kleidung von
Schlager- und Discostars der 60er und 70er Jahre. Die Bad-Taste-Partys der
80er kommen als Katalysator hinzu. Und sicher auch der Internethandel:
Schlagerklamotten gibt es für kleines Geld in großer Auswahl zu bestellen.
100 Prozent Polyester, made in China.
Und dann versuchen alle, möglichst bescheuert auszusehen. Es gilt: Je
größer die Geschmacksverirrung, desto größer die Liebe zur Sache. Diese
allseits gelebte Ironie erhöht die Anschlussfähigkeit auch für jene, die
Schlager zum Davonlaufen finden.
## Fransen-Hippies mit Plateauschuhen
Tatsächlich gibt es viel zu sehen. Männer, deren Kopf nach Bankangestelltem
aussieht, tragen vom Brustbein abwärts hautengen, synthetisch gefärbten
Catsuit. Frauen, die im Alltag Dauerwelle und Beige bevorzugen dürften,
erscheinen als Fransen-Hippies mit psychedelisch gemusterten Oberteilen.
Viele Menschen kommen mit Plateauschuhen, schlecht sitzenden Perücken und
überdimensionalen Brillen. Es gibt Blumen und Peace-Zeichen überall. Viel
Glitzer-Schminke im Gesicht. Hawaiiketten in schreienden Farben. Und viele
bunte Getränke in schmalen Dosen – auch das in einer Vielfalt, die
überrascht.
Keineswegs erschließt sich bei oberflächlicher Betrachtung, was drin ist in
den bunten Dosen. Klar ist nur, dass es sich nicht um Saftschorle handelt.
Eher alle möglichen Spielarten von Sektschorle, verpackt in damenhaft
vornehmen Pastellfarben.
Generell ist es so, dass der Schlagermove etwas Damenhaftes hat. Die Frauen
sind so in der Mehrzahl, wie bei der [4][Aufstiegsfeier des FC St. Pauli]
eine Woche vorher die Männer in der Mehrzahl waren. Altersmäßig liegt ein
Schwerpunkt im Bereich Ü45.
In der Summe ergibt das eine grundsätzlich angenehme Atmosphäre: Die
Ü45-Frauen können in der Regel gut mit Alkohol umgehen, besser als die
Jungen und besser als die Männer, von denen vor allem die heterosexuellen
betrunken auf offener Straße zur Affigkeit neigen. Drei Oberaffen kamen
laut Polizei auf die Idee, in aller Öffentlichkeit nackt Frauen anzutanzen.
Tatzeit gegen 16.30 Uhr. Die Polizei schritt ein und die Männer zogen ihre
Hosen, die sie durchaus dabeihatten, wieder an.
## Tanzend hinter den Trucks
Im Wesentlichen geht es beim Schlagermove darum, dass 49 Trucks, auf denen
Menschen aus dem deutschsprachigen Raum stehen (unter anderem Winsen
(Luhe), Duisburg, Kitzbühel), langsam von Hamburgs zentralem Rummelplatz
auf St. Pauli, dem Heiligengeistfeld, runter zur Elbe, dann auf die
Reeperbahn und zurück zum Heiligengeistfeld fahren. Auf jedem Truck gibt es
ein Dixi-Klo, einen DJ und eine Anlage, aus der Musik dröhnt.
Die Trucks fahren in einigem Abstand, und die Menschen gehen tanzend
hinter den Trucks her. Es wird viel gewunken, von den Trucks runter zu den
Leuten am Straßenrand und umgekehrt. Ein Truck ist barrierefrei für
Rollstuhlstuhlfahrer*innen. Alles ist sehr kommunikativ. Immer wieder gibt
es Stopps.
Bei einem davon, mitten auf der Reeperbahn, wird klar, wie der Schlagermove
tickt. Der DJ nimmt das Mikro und ruft: „Wir gratulieren dem FC St. Pauli
zum Aufstieg in die erste Bundesliga!“ Dann spielt er die Hymne der
HSV-Fans „Hamburg, meine Perle“. Alle singen mit, alles bleibt friedlich.
So will er sein, der Schlagermove: Eine Veranstaltung für HSV-Fans, deren
Herz groß genug ist, dem FC St. Pauli zum Aufstieg zu gratulieren.
Das Trinken führt zu einem Problem, das den Schlagermove fast schon aus der
Stadt vertrieben hätte: Wildpinkelei. St. Paulis Bewohner*innen fühlten
sich im Wortsinn angpisst von der seit 1997 abgehaltenen Veranstaltung, so
sehr, dass hart debattiert wurde über ein Verbot oder eine Verlegung in
einen anderen Stadtteil.
## Viele Pisser*innen und viel Geld
Weil aber mit den vielen Pisser*innen auch viel Geld nach St. Pauli
kommt, haben sich die Befürworter*innen des Schlagermove durchsetzen
können.
Die Veranstalter versuchen, das Problem klein zu halten, indem sie rund 500
Dixi-Klos aufstellen. [5][Und auf ihrer Website] so politisch korrekte
Sätze formulieren wie: „Zum Wohle der Anwohner St. Paulis positioniert sich
der Schlagermove klar gegen das Wildpinkeln im gesamten Stadtteil.“
Das mit der Musik ist übrigens nicht so schlimm wie befürchtet. Natürlich
kommen die 70er-Klassiker wie „Ein Bett im Kornfeld“, „Fiesta Mexicana“…
„Er gehört zu mir“, allerdings nicht in Dauerschleife und in der Regel als
Remix-Version mit neuem Beat. Das macht es einfacher mitzuwippen, ohne den
Schmalz an sich ranzulassen. Daneben gibt es viel Neue Deutsche Welle, also
Songs, die in den 80ern alles, bloß kein Schlager sein wollten und doch
Schlager geworden sind. „Völlig losgelöst …“, „Hurra, hurra, die Schu…
brennt“ und dann natürlich „Tausendmal berührt“.
Erfreulich selten gibt es Ballermann-Beiträge, bei denen Oberweiten und
Beischlafbereitschaft besungen werden. Der Song „Layla“ zum Beispiel war
2022 meistgespielter Song auf dem Oktoberfest und hatte eine
Sexismusdebatte ausgelöst. Die Schlagermove-Veranstalter hatten die
Truckbetreiber vorab wissen lassen, dass Ballermann-Musik nicht erwünscht
sei. Die DJs halten sich größtenteils daran.
## Die integrative Kraft an ihren Grenzen
Trotz aller musikalischen Abweichungen, der Kern des Schlagermoves sind der
deutsche Schlager und alkoholische Getränke, und das bedeutet auch:
Menschen mit Migrationshintergrund bleiben dieser Veranstaltung fern. Die
integrative Kraft des Schlagers kommt hier an ihre Grenzen.
Zwar gab es in den 70er-Jahre etliche nichtbiodeutsche Schlagerstars wie
Roberto Blanco oder Bata Illic in den hiesigen Hitparaden, in den
migrantischen Communitys hat das aber keine Spuren hinterlassen.
Nichtbiodeutsche Schlagerfans kann man beim Schlagermove an einer Hand
abzählen.
Bata Illic ist dann einer der wenigen live auftretenden Sänger*innen
einer ansonsten von Festplatten beschallten Veranstaltung. Er singt in
einem Zelt auf dem Heiligengeistfeld, auch hier kommt die Musik von der
Festplatte, aber immerhin steht mal jemand auf einer Bühne.
Illics Auftritt gehört zur Aftermove-Party: Die findet statt in einem
abgesperrten Areal mit zwei Musikzelten, dazwischen Fressbuden und
Bierzeltgarnituren. 25 Euro an der Abendkasse kostet das Ganze, und die
drei Jungs aus Bargteheide im Hamburger Umland sind unzufrieden mit ihrer
Investition. „Draußen ist es auch nicht anders“, sagt der eine. Und der
andere: „Die wirklich coolen Leute sind draußen.“
Tatsächlich stehen vor dem Partyareal auf dem Heiligengeistfeld noch zwei,
drei Trucks, die Musik läuft, die Leute tanzen, am Bierstand ist wenig los,
an den umliegenden Kiosken umso mehr.
Die Schlagergemeinde zerfällt jetzt langsam. Die
Sektschorletrinker*innen steigen in die Bahn nach Hause, die Jungen
gehen irgendwann rüber auf den Kiez, mischen sich mit
Junggesell*innenabschieden, Hundepunks, Musicaltourist*innen und den
vielen unverkleideten Karnevalist*innen, für die jedes Wochenende
Schlagermove ist, solange der Pegel stimmt.
2 Jun 2024
## LINKS
[1] /Pferde-im-Karnevalsumzug/!5988641
[2] /Rikschafahrer-ueber-das-Oktoberfest/!5961803
[3] /Nach-dem-Skandal-Video-von-Sylt/!6010381
[4] /Fanfestival-und-Demokratiedemo/!6008852
[5] https://schlagermove.de/
## AUTOREN
Klaus Irler
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