| # taz.de -- Theaterstück über 7. Oktober in Israel: Die Grenzen der Mimesis | |
| > Doron Rabinovici hat einen Text über das Massaker der Hamas geschrieben. | |
| > „Der siebente Oktober“ besteht aus Protokollen und letzten Worten. | |
| Bild: Der Autor Doron Rabinovici im Januar 2022 | |
| „Wir haben noch keinen Begriff davon und wir haben noch keinen Begriff | |
| dafür“, schreibt der in Tel Aviv geborene österreichische | |
| [1][Schriftsteller Doron Rabinovici] zur Aufführung von „Der siebente | |
| Oktober“ im Kasino des Wiener Burgtheaters über den Angriff der Hamas am 7. | |
| Oktober 2023 und das Massaker an 1.200 israelischen Zivilisten. | |
| Es war mehr als ein singulärer Terroranschlag, nicht der anlassweise | |
| entfachte „Volkszorn“ in den Pogromen der Vergangenheit, vielmehr eine lang | |
| geplante komplexe militärische Operation, die eine Vielzahl von Tätern | |
| koordinierte, zivile Opfer dabei nicht als Kollateralschaden in Kauf nahm, | |
| sondern sie vielmehr ausdrücklich zum Ziel hatte. | |
| Genozid nicht als Kriegsfolge, sondern Krieg als Genozid. Einzigartig ist | |
| auch das globale Ausmaß seiner Wirkungen. Die Untaten, so Rabinovici, | |
| befeuerten in allen Teilen der Welt den „Hass gegen alles Jüdische | |
| schlechthin“. Entsetzen hinterlassen überwiegend paradoxe Reaktionen, in | |
| denen gerade die Wehrlosigkeit der Opfer weltweit Vernichtungsfantasien | |
| beflügelt, statt Mitgefühl hervorzurufen. | |
| „Der siebente Oktober“ ist eine Montage von Texten, Chat-Nachrichten, | |
| Telefonprotokollen, letzten Worten von Getöteten, vorerst letzten von | |
| Geiseln, Passagen aus Interviews aus der Zeit danach. Viele davon hat | |
| Rabinovici selbst geführt, als er die Tatorte in Israel wenige Wochen nach | |
| dem Massaker bereiste. | |
| Sein Theatertext hebt die einzelnen Stimmen, ihre Wahrnehmungen, Ängste, | |
| Haltungen aus der Abstraktion heraus, in der sie zum bloßen Objekt der | |
| Vernichtungsmission ihrer Mörder, Folterer und Vergewaltiger wurden. Und er | |
| hält für die Dauer der Aufführung die Zeit an, die für Geiseln, | |
| Überlebende, Angehörige anders vergeht als im Takt des allgemeinen | |
| Medienkonsums. | |
| ## Bilder als Trophäen der Täter | |
| Für die, die betroffen sind und waren, ist es, als sei es vorgestern | |
| passiert, für den Rest der Welt ballt sich immer mehr Alltagserfahrung | |
| zwischen dem auslösenden Ereignis und der Gegenwart. Das destabilisiert die | |
| ohnehin unerwartet brüchige Basis einer internationalen | |
| Solidarisierungsbereitschaft und vermittelt nicht zuletzt auch denen, deren | |
| Angehörige noch immer als Geiseln gefangengehalten werden, den Eindruck, in | |
| der Krise alleingelassen zu sein. | |
| Vier Schauspieler:innen, Philipp Hauß, Barbara Petritsch, Markus Schaumann | |
| und Andrea Wenzl, liefern den Text „brut“ am Tisch in der Sachlichkeit | |
| einer Leseprobe. Bilder verbieten sich hier. Die technischen Möglichkeiten, | |
| die Verbrechen kurzfristig oder sogar in Echtzeit medial zu verbreiten, | |
| haben aus den Bildern, die sie zeigen, Trophäen der Täter gemacht. Sie zu | |
| betrachten kann nur noch die Angelegenheit einer irgendwann einmal Platz | |
| greifenden Strafjustiz sein. | |
| Es gibt keine Requisiten, keine Toneinspielungen auf der leeren Bühne in | |
| Wien, keine Personifikation der Schauspieler:innen, keine | |
| Identifikationsangebote ans Publikum. Trotzdem ist Theater hier ganz bei | |
| sich, verhandelt es doch immer Abwesendes, auch wenn es sich sonst mit | |
| seinen spielästhetischen Mitteln einen Fetisch zusammenbaut, an dem es die | |
| Dinge stellvertretend abhandelt. | |
| „Das Stück, das kein Stück ist“, wie es im Text heißt, gibt selbst Ausku… | |
| über die Grenzen der Mimesis angesichts der Totalität des Terrors. In ihren | |
| Aussparungen erzielt die Aufführung dennoch jenen „Antigone-Moment“ | |
| (Rabinovici), in dem Platz ist für Trauer, ohne sich dafür vor dem | |
| Whataboutism einer „Palästinasolidarität“ rechtfertigen zu müssen, wo es | |
| aber auch möglich ist, Empathie für zivile Opfer in Gaza zu entwickeln. | |
| ## Der globale Furor | |
| Was an den gehörten Texten auf den Magen schlägt, ist die Abwesenheit von | |
| Rache, die Sehnsucht nach Frieden, wenn auch in ferner Zukunft. „I have | |
| friends in Palestine“ ist das Zitat einer später von der Hamas Ermordeten. | |
| Das setzt brutal den Kontrast zum globalen Furor gegen einen | |
| [2][vorgeblichen „Siedlerkolonialismus“,] der all jene, die in Israel | |
| leben, unabhängig von Lebensalter, Geschlecht oder Herkunft zu Kombattanten | |
| erklärt und die Opfer des 7. Oktobers „nicht humanisieren“ will. | |
| Das Burgtheater hat diesen Text vor Ende der Saison und vor einem | |
| Intendantenwechsel einmalig auf den Spielplan gesetzt. Man wünscht, es | |
| könnte ihn im Repertoire zeigen. Denn er ist nicht allein Ausdruck | |
| zivilgesellschaftlichen Engagements, sondern berührt das Kerngeschäft des | |
| Theaters. Seit der Aufklärung, letztlich seit der Antike handelt seine | |
| Erzählung vom Menschen als einer Gattung, deren Exemplare untereinander | |
| grundsätzlich des Mitfühlens fähig sind. | |
| Der reaktualisierte Wahn einer möglichen Auslöschung, jenes „Me Too Unless | |
| You’re a Jew“, stellt seinen universalistischen Anspruch wie den des | |
| gesamten Kulturbetriebs infrage. Das Burgtheater zeigt hier Kante für einen | |
| Raum der Differenzierungen. | |
| Der Abend fand fast schon unerwartet trotz kaum sichtbaren Polizeiaufgebots | |
| ohne Störung statt. Das zeigt, dass Kulturbetriebe es selbst in der Hand | |
| haben, wie viel sie zur Normalisierung des Ressentiments beitragen. | |
| 26 May 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Uwe Mattheiß | |
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