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# taz.de -- Eurovision Song Contest: Politisch war der Wettbewerb immer
> 0 Punkte für Deutschland, Protest gegen Diktaturen, queere Emanzipation:
> Der Zoff um Israels Beitrag in Malmö schreibt die Rolle des ESC als
> politische Bühne nur fort.
Bild: Die Ukrainerin Jamala gewann den ESC 2016 mit einer wütenden Anklage geg…
Der Eurovision Song Contest ist wesentlich einer technischen Idee zu
verdanken: Wie lässt sich das neue Medium Fernsehen popularisieren? Und wie
schafft man es dabei zugleich, viele Länder miteinander synchron zu
verschalten? Es war Nachkriegszeit im westlichen Europa, und ein
BBC-Vertreter schlug schließlich der European Broadcasting Union (EBU), dem
Netzwerk öffentlich-rechtlicher Sender, vor, es mit einem Liederwettbewerb
zu probieren: Mit einem Wettstreit holt man das Publikum. So war der
Eurovision Song Contest geboren worden; der erste fand im schweizerischen
Lugano am 24. Mai 1956 statt.
Politisch, um einen [1][Kommentar aus der FAZ zu sidekicken], war der ESC
allein schon durch die Teilnahme der Bundesrepublik an der Premiere des
Events: Elf Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus, nach dem Holocaust
und der deutschen Verwüstung des halben europäischen Kontinents konnten
Deutsche teilhaben – eine nur durch den Kalten Krieg, der europäischen
West/Ost-Spaltung begründbare Situation. Der Österreicher [2][Freddy Quinn]
und [3][Walter Andreas Schwarz], ein Holocaustüberlebender, sangen für
Deutschland.
Die EBU hatte auch schon damals verlautbart, der ESC sei für politische
Einflüsterungen unzugänglich. Wer in der Senderkette Mitglied ist, dürfe
alle Dienstleistungen nutzen, also auch beim ESC mitmachen. Der Clou bei
diesem Lieder-, später Popwettbewerb war stets: Den Teilnehmerländern war
nicht erlaubt, sich selbst Punkte zuzuschanzen. Man musste die Beiträge der
Konkurrenz mit Gunst versehen. Für die politischen Aspekte blieb die
Illusion des ESC zentral, dass hier nur Lieder und Performances miteinander
rivalisierten. In der wahrsten Wahrheit der Wirklichkeit werden diese Acts
jedoch seit jeher als Länderrepräsentanten wahrgenommen: der ESC fungiert
als eine Art Europameisterschaft des Pop.
Es geht also immer auch um nationale Gefühle, Erregungen und Triumphgesten.
Deutschland schneidet schlecht ab, die Nachbarn sind so böse! Österreich
hat keine Freunde, deshalb der letzte Platz! Und später, als nach dem Fall
der Eisernen Vorhänge Russland dabei war, hieß es – Stefan Raab trötete
diese Fake Info nach dem seiner Meinung nach ungerechten achten Platz
[4][seines Schützlings Max Mutzke] besonders laut heraus –, die Osteuropäer
würden sich gegenseitig die Punkte zuschieben.
## Beitrag zur „Normalisierung“ nichtheterosexueller Lebensstile
Diese Gefühle entstammen politischen Kontexten und sie wirken sich beim ESC
unmittelbar aus. 1969 zum Beispiel blieb Österreich dem ESC in Madrid fern,
um nicht das Image der rechtsextremen Diktatur Francos zu verschönern,
Deutschland hingegen schickte die [5][Schwedin Siw Malmkvist] ins Rennen;
Spanien soll im Jahr zuvor gerüchteweise den ESC mit gekauften Stimmen
[6][gewonnen haben] – weil das Franco-Regime die Tourismusindustrie
ankurbeln wollte. Politisch war auch, dass 1973 [7][erstmals Israel] an
einem ESC teilnahm – nach dem Massaker an seinen Sportlern bei den
Olympischen Sommerspielen 1972 in München galt es, sich an europäische
Netze anzunähern.
Israels ESC-Präsenz mit einer Fülle von hervorragenden Resultaten und vier
Siegen, zuletzt 2018 [8][Netta], führte immer wieder zu Verwicklungen
politischer Art: [9][Marokko nahm 1980 nur teil], weil Israel aus
finanziellen Gründen aussetzte. Einige Jahre später lehnte Tunesien die
ESC-Zusage ab, weil es herausfand, dass die EBU Israel nicht hinauswirft,
wenn arabische Länder teilnehmen. Die EBU verstand sich nämlich immer als
inkludierend: Jene Länder, die zur Eurovisionskette gehören, können beim
ESC dabei sein, aber es darf kein Land den Wettbewerbsausschluss anderer
fordern – die EBU muss qua Ethikrichtlinie unpolitisch sein, bei Strafe der
eigenen Bedeutungslosigkeit und Zerstörung.
In der Genfer EBU-Zentrale ist man natürlich nicht naiv, dort weiß man seit
langem, dass Politisches immer an sie herangespült wird. Aber dort tut man
so, als sei man nicht zuständig. Was zählt, ist die Arbeit der Mitglieder.
Russland und Belarus wurden mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine vor
dem ESC 2022 einstweilen suspendiert, weil dort die TV-Sender nicht mehr
unabhängig arbeiten können. Bei Israels Sender KAN hingegen, ausweislich
seines Journalismus, der häufiger als diesem lieb ist, gegen
Premierminister Netanjahu Position bezieht, ist dies nicht der Fall. Mit
anderen Worten: Selbstbewusste (Schein-)Naivität in politischer Hinsicht
macht es möglich, sich nicht auf alle politischen Zwistigkeiten beziehen zu
müssen.
Mit dem Ende des realen Sozialismus und der Erosion Jugoslawiens kamen eine
Fülle neuer Länder in die EBU – und diese wollten allermeist nichts
sehnlicher, als Teil des ESC werden. Womit sich für die EBU, spätestens
seit [10][Aserbaidschans Sieg 2011 in Düsseldorf,] die Frage stellte, wie
man es mit autokratischen Regimen hält ([11][Kontroverse in der taz]). Aber
auch hier gilt: Eine gewisse journalistische Unabhängigkeit muss
gewährleistet bleiben. Der Rest kann, so sagte es ein EBU-Funktionär vor
acht Jahren, zum Ermessensspielraum werden.
Politischer ist indes der ESC in anderer Hinsicht geworden. Die Präsenz von
queeren Menschen im Wettbewerb hat europäisch erheblich zur
„Normalisierung“ nichtheterosexueller Lebensstile beigetragen, auch wenn
eben dies den türkischen Sender TRT bewog, den ESC erstens als dekant und
krank zu beschimpfen und, zweitens, sich zurückzuziehen ([12][der letzte
türkische ESC-Beitrag 2012]). Zwischen Istanbul und den östlichsten Teilen
des Landes war der ESC immer das Symbol eines Europas, das von Liberalen
und Nichtislamisten erhofft wird. Politisch nicht minder relevant, war der
[13][erstaunliche Sieg der Drag Queen Conchita Wurst 2014], das Signal
gebend: Ach, so zustimmungsfähig sind queere Performances! Zwei Jahre
später gewann die Ukrainerin Jamala [14][mit dem dramatischen Lied „1944“],
eine offene Anklage gegen die stalinistische Deportationspolitik und den
seit 2014 wütenden Krieg Russlands gegen sein Nachbarland.
Beim ESC 2009 in Moskau musste, anders als drei Jahre später im
aserbeidschanischen Baku, die ESC-Community an Ort und Stelle kennenlernen,
[15][was ein aggressives Putin-Regime bedeutet]. Der CSD am Eurovisionstag
– zerschlagen; Regenbogenflaggen – verboten; einander nicht
torjubelig-kumpelig berührende Männer unter den ESC-Fans –
Polizeiermahnungen; ein antiqueeres Klima dort schlechthin. Das hatte
allerdings jenseits der LGBT-Community kaum jemanden interessiert, das
Politische als Problem wurde erst im Kontext [16][der israelischen Präsenz
beim ESC] virulent. Die Mutter von Greta Thunberg, Malena Ernman, war in
Moskau [17][mit einer Opernariennummer] für Schweden am Start – und hatte
noch nicht ihre Menschenrechtsagilität wie in diesen Wochen gegen Israel
entdeckt. Von ihr zur russischen Homophobie damals: kein Wort.
Israel jedenfalls wird in Malmö nicht ausgeschlossen vom ESC. Es gehört
[18][zu den größten Leistungen der EBU], dem internationalen, wohl
orchestrierten Druck auf das Festival, Israel gar nicht erst anreisen zu
lassen oder es aus dem Wettbewerb zu werfen, nicht stattgegeben zu haben.
Das unterscheidet diese Institution von vielen anderen Kultureinrichtungen,
nicht nur in Schweden und Europa.
11 May 2024
## LINKS
[1] https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/eurovision-song-contest/der-esc-mu…
[2] https://www.youtube.com/watch?v=u3v3DMYIuds
[3] https://www.youtube.com/watch?v=raIx1AceQ8U
[4] https://www.youtube.com/watch?v=j6jSUb_RvXM
[5] https://www.youtube.com/watch?v=3qYJzDQPhpg
[6] https://www.youtube.com/watch?v=J4g5QYJOFzQ
[7] https://www.youtube.com/watch?v=6N8SwfYRGWU
[8] https://www.youtube.com/watch?v=84LBjXaeKk4
[9] https://www.youtube.com/watch?v=LMJrvObhPKM
[10] https://www.youtube.com/watch?v=_0tlQUW5X0U
[11] /ESC-Berichterstattung/!5093141
[12] https://www.youtube.com/watch?v=3Qa7_y21oOY
[13] https://www.youtube.com/watch?v=SaolVEJEjV4
[14] https://www.youtube.com/watch?v=B-rnM-MwRHY
[15] /Homosexuellen-Demo-in-Moskau/!5162945
[16] https://zeitung.faz.net/faz/top-themen/2024-05-11/be119f8e43f89e84e4897430…
[17] https://www.youtube.com/watch?v=xE9Pl3mqRbo
[18] https://eurovoix.com/2024/04/29/martin-osterdahl-weve-gone-past-what-we-ca…
## AUTOREN
Jan Feddersen
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