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# taz.de -- Urteil nach tödlichem Schiffsunglück: Freispruch und viele Unklar…
> Hunderte Geflüchtete ertranken bei dem Schiffsunglück 2023 nahe der
> griechischen Küstenstadt Pylos. Neun Angeklagte werden freigesprochen.
Bild: Solidarität mit den Geflüchteten des Unglücks von Pylos
Kalamata taz | Um 11.18 Uhr Ortszeit ist es vorbei. Eine junge Frau umarmt
ihren Bruder, weint. Noch sitzt er an diesem Dienstag in dem vollen
Gerichtssaal neben den übrigen acht Angeklagten auf einem harten Holzstuhl.
Bald wird er frei sein. Nach mehr als elf Monaten in U-Haft in einem
griechischen Gefängnis.
Denn jetzt steht das Urteil im sogenannten [1][Pylos-Prozess] fest. Das
dreiköpfige Berufungsgericht in der südgriechischen Stadt Kalamata
befindet, dass es in der Strafsache nicht zuständig sei.
Bei dem Prozess ging es um ein [2][tragisches Schiffsunglück im Juni 2023]
im Ionischen Meer, bei dem etwa 600 Geflüchtete ertranken. Die Richter
sahen es an diesem Dienstag rund drei Stunden nach Prozessbeginn als
erwiesen an, dass ein mit Geflüchteten überfüllter Fischkutter nicht in
griechischen Gewässern fuhr oder Griechenland ansteuern wollte. Für das
Gericht war das entscheidend. Die neun Angeklagten – alle Ägypter, der
jüngste 20, der älteste 40 Jahre alt – hätten keine kriminelle Vereinigung
gegründet. Auch hätten sie nicht den Schiffbruch zu verantworten. Ferner
seien sie nicht illegal nach Griechenland eingereist und seien keine
Schleuser. Es ist der überraschende Schlusspunkt einer unfassbaren
Tragödie.
Am 10. Juni 2023 stach ein Kutter mit wohl bis zu rund 750 Menschen an Bord
vom ostlibyschen Tobruk in See. Das Ziel: Italien. Doch das Boot kenterte
am 14. Juni, mitten in der Nacht, auf offener See, 47 Seemeilen vor Pylos.
Die griechischen Gewässer enden zwölf Seemeilen vor Pylos.
## Elf Monate ohne Grund hinter Gittern
Gerettet wurden nur 104 Menschen, die vom Außendeck ins Meer springen
konnten. Für die meisten Passagiere kam jede Hilfe zu spät. Mehr als 80
Tote konnten geborgen werden.
Unklar ist bis heute, [3][wie viele Schutzsuchende ums Leben kamen]. Das
Meer ist an der Unglücksstelle bis etwa 5.000 Meter tief. Daher dürfte das
gesunkene Fischerboot kaum zu bergen sein. Den Geflüchteten, vor allem
Frauen, Kindern und alten Menschen wurde zum Verhängnis, dass sie sich
während der Fahrt nicht auf dem Außendeck, sondern im Zwischendeck und im
Rumpf des Bootes befanden.
Die 104 Geretteten waren ausschließlich Männer, darunter 47 Syrer, 43
Ägypter, 12 Pakistaner sowie zwei Palästinenser – aber auch 9 Ägypter, die
von den griechischen Behörden unmittelbar nach dem Unglück verdächtigt
wurden, als Schlepper fungiert zu haben. Alle neun wurden im Eiltempo dem
Staatsanwalt in Kalamata vorgeführt und kamen in Untersuchungshaft. Ihnen
drohten harte Haftstrafen.
Der Strafverteidiger Dimitris Choulis, der vier Angeklagte im Pylos-Prozess
vertrat, machte aus seiner Freude keinen Hehl. Noch im Gerichtssaal sagte
er der taz: „Vom ersten Moment an haben alle Angeklagten alle Vorwürfe
bestritten. Es ist schade, dass die neun elf Monate ohne Grund hinter
Gittern verbringen mussten.“ Und bereits jetzt denkt Choulis weiter.
„Gerichtlich ungeklärt bleibt, weshalb der Fischkutter unterging. Wir
wollen wissen, wie es dazu kommen konnte, dass so viele Menschen sterben
mussten.“
## Heftige Vorwürfe an die griechischen Behörden bleiben
Das öffentliche Interesse an dem Pylos-Prozess war enorm. Vor dem
Gerichtsgebäude in Kalamata fanden vor und während des Verfahrens
Soli-Kundgebungen statt. Es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei.
Mindestens eine Person wurde am Kopf verletzt, die Polizei nahm zwei
Personen in Gewahrsam.
Strafverteidiger Choulis richtet seinen Blick nun auf das Seegericht in
Piräus. Gut 50 Personen haben Strafanzeige gestellt. Die Ermittlungen
laufen noch. Dabei ist zu klären, ob die griechischen Behörden den
Massentod vor Pylos hätten verhindern können oder das Unglück sogar
verursacht haben.
Der heftigste Vorwurf gegen sie lautet, dass ein Schiff der
[4][griechischen Küstenwache] sich dem Fischkutter in der Nacht genähert,
keine Hilfeleistung erbracht und schließlich versucht hatte, das Boot mit
einem Seil womöglich in Richtung italienische Gewässer abzuschleppen, bevor
der Fischkutter sank.
Der Kapitän des Küstenschiffs sagte am Dienstag als Zeuge aus. Auf die
Frage der Vorsitzenden Richterin, ob sich der Fischkutter in
internationalen Gewässern befunden habe, sagte er klar: „Ja.“ Alle
Angeklagten gaben an, dass sie nach Italien fliehen wollten. Nach
Griechenland wollte keiner.
21 May 2024
## LINKS
[1] /Prozess-zu-Schiffsunglueck/!6011332
[2] /Bootsunglueck-im-Ionischen-Meer/!5940736
[3] /Nach-Bootsunglueck-vor-griechischer-Kueste/!5938713
[4] /Griechenland-nach-der-Bootskatastrophe/!5940288
## AUTOREN
Ferry Batzoglou
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Seenotrettung
Griechenland
Justiz
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