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# taz.de -- Russen greifen ukrainische Kraftwerke an: Angriffsziel Blackout
> Kraftwerke, Umspannstationen, Wasserdämme: Die Russen greifen die
> Energieinfrastruktur der Ukraine an. Bunker und erneuerbare Energien
> sollen helfen.
Bild: Im DTEK's Kraftwerk gingen nach einem russischen Angriff am 2. April die …
Seit einigen Monaten gibt es eine neue Taktik, mit der die Russen die
Ukraine in die Knie zwingen wollen: Sie fliegen gezielt massive Angriffe
auf den ukrainischen Energiesektor. Ende März waren besonders Anlagen in
den Regionen Odessa und Lwiw im Westen des Landes sowie bei Kryvyi Rih und
Dnipropetrowsk im Zentrum Ziel.
Im April folgten Luftschläge gegen Kraftwerke im Industriezentrum
Dnipropetrowsk, sowie in den westlichen Regionen Iwano-Frankiwsk und Lwiw.
In dieser Woche griff Russland mit Raketen und Drohnen erneut Infrastruktur
in Lwiw und auch in Kyjiv an. Der ukrainische Energieminister rief die
Bevölkerung gerade zum Stromsparen auf.
Nach Angaben des Übertragungsnetzbetreibers Ukrenergo zerbombten die Russen
bei den Angriffen in diesem Jahr mindestens 6.000 Megawatt
Kraftwerksleistung. 50 Prozent der Energieinfrastruktur seien im März und
April zerstört worden, teilte der private Energiekonzern DTEK mit. Das Land
stehe kurz vor einem Blackout.
„Das waren die heftigsten Attacken auf unser Energiesystem seit
Kriegsbeginn“, sagt Ihor Syrota, Vorstandsvorsitzender von Ukrhydroenergo,
des größten Stromproduzenten aus Wasserkraft in der Ukraine. Er spricht vom
23. März. In dieser Nacht griff die russische Armee im ganzen Land
Kraftwerke, Verteilernetze, Umspannstationen, ja sogar Wasserdämme an. Zwar
konnte die Luftabwehr etliche Raketen und Drohnen zerstören. Dennoch gelang
es den Angreifern, etwa 150 Energieanlagen zu treffen, auch die von
Ukrhydroenergo.
## Besonders dramatisch sei die Lage in der Region Charkiw
Konzernchef Syrota zeigt einer Gruppe deutscher Besucher Fotos vom
Wasserkraftwerk Dnipro, vor dem Angriff mit fast 1.580 Megawatt Leistung
das größte seiner Art in Europa. „Fünf Raketen trafen das Maschinenhaus,
eine Rakete den Transformator, eine weitere zerstörte Infrastruktur wie die
Zufahrtsbrücke oder den Überlauf.“
Die Fotos erinnern an das zerstörte Atomkraftwerk Tschernobyl, das nach der
Reaktorexplosion 1986 einem Ruinenfeld glich. „Es wird mindestens
zweieinhalb bis drei Jahre dauern, bis das Kraftwerk wieder in dem Zustand
ist, in dem es vor dem Raketenangriff war“, sagt Syrota. Zuerst einmal
müsse man die Trümmer beiseite räumen, um sich überhaupt zu den Turbinen
vorarbeiten zu können.
„Es gibt kein einziges Kohle- oder Gaskraftwerk mehr in der Ukraine, das
von den Russen noch nicht bombardiert worden ist“, sagt Dmytro Sakharuk,
Geschäftsführer des privaten Energiekonzerns DTEK. Mit 55.000 Mitarbeitern
ist DTEK einer der größten Konzerne des Landes. Gleich vier seiner
Heizkraftwerke, die mit Kohle oder Erdgas betrieben werden, wurden in der
letzten April-Woche getroffen. Nicht jedes getroffene Werk lasse sich
wieder aufbauen, so schwer seien die Schäden. „Unser Unternehmen verfügt
noch über 8.000 Megawatt Kraftwerksleistung, vor dem Krieg war es doppelt
so viel“, sagt Sakharuk.
Besonders dramatisch sei die Lage in der Region Charkiw, wo die
Stromversorgung praktisch ausgefallen ist. „Je näher man der Front kommt,
umso weniger Infrastruktur ist noch übrig“, sagt der DTEK-Geschäftsführer.
Zwar würde ein Spezialistenteam von 300 Leuten, ausgestattet mit Helmen und
kugelsicheren Westen, täglich versuchen, die Leitungen bis zu zehn
Kilometer hinter der Front zu flicken. Ziel sei es, wenigstens eine
Notversorgung gewährleisten zu können. „Aber die Arbeit ist gefährlich und
hält meist nicht lange“, sagt Sakharuk. Charkiw liegt nur 30 Kilometer
hinter der Front. „16 unserer Leute sind schon erschossen worden.“
## Erneuerbare Energien sollen helfen
„Es geht nicht nur darum, die Bevölkerung zu treffen, die Russen wollen
unsere Wirtschaft schwächen“, sagt Ihor Syrota. Zwar arbeite Ukrhydroenergo
fieberhaft daran, die zerstörten Wasserkraftkapazitäten wieder aufzubauen.
Partner dabei ist der österreichisch-deutsche Konzern Andritz. „Aber dieser
Aufbau wird nur erfolgreich sein, wenn wir unseren Himmel besser schützen
können“, sagt der Konzernchef. Wasserkraftwerke ließen sich nicht
verstecken, „die liegen am Fluss hinter einem großen Damm. Deshalb brauchen
wir mehr Luftabwehr, mehr Unterstützung aus dem Westen“.
DTEK-Geschäftsführer Sakharuk glaubt, dass die alte Energieinfrastruktur
aus sowjetischen Zeiten den Russen in die Hände spielt: Strom wird in
großen Kraftwerken zentral an wenigen Orten produziert und von dort aus
verteilt. Nicht nur diese Kraftwerke sind leicht zu treffen. Werden
Umspannwerke zerstört, sind große Gebiete der Ukraine von der Stromzufuhr
abgeschnitten.
Deshalb setze sein Unternehmen auf [1][Erneuerbare Energien, die dezentral
erzeugt werden,] gut 2.000 Megawatt Leistung sind bereits am Netz oder kurz
vor dem Anschluss. „Natürlich können auch Windräder zerstört werden. Aber
Fossilkraftwerke sind kleine Einheiten mit großer Leistung“, sagt Sakharuk.
In Windparks hingegen würden kleine Einheiten auf großer Fläche arbeiten,
das sei viel aufwendiger zu zerstören.
Allerdings bleibt ein Dilemma: „Investieren können wir nur, wenn wir Strom
auch verkaufen“, sagt Sakharuk. Solange die Russen die Umspannwerke und
Überlandleitungen attackieren, so lange komme bei den Menschen kein Strom
an. Auch er wünscht sich deshalb mehr Möglichkeiten für die Luftabwehr –
auch um in den Umbau der Energieversorgung investieren zu können.
## Transformatoren durch Bunker schützen
Bei Ukrenergo, dem staatlichen Netzbetreiber, versuchen sie es erst einmal
mit gigantischen Stahlträgern, massiven Betonmauern und Hochbunkern: Eine
Autostunde von Kyjiw entfernt arbeiten zwei Transformatoren in einem
Umspannwerk, die hochkonzentrierten Strom in solchen umwandeln, den die
Menschen aus der Steckdose nutzen können. Mehrfach wurde das Werk
angegriffen und zerstört, ein verkohlter Transmitter steht noch auf dem
Gelände. „Transformatoren lassen sich nicht mal so eben neu kaufen, die
müssen extra hergestellt werden“, sagt Mariia Tsaturian,
Unternehmenssprecherin von Ukrenergo – und das dauere etliche Monate.
Deshalb bauen sie nun eine Art Hochbunker, in dem ein dritter
Transformator, der aus Südkorea stammt, gegen Drohnen und Raketen geschützt
werden soll. Mariia Tsaturian nennt das „unsere Art, sich an die Realität
anzupassen: Niemand sonst auf der Welt würde derartige Anlagen für seine
Umspannwerke bauen, nicht einmal die Israelis“.
Zehn Monate Bauzeit und einige Millionen Euro seien notwendig, bis die
Bunker fertig sind – um dann einen 10 Millionen Euro teuren Transformator
zu schützen. „Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, bis wir die
Russen besiegt haben. Was wir aber wissen: Sie werden wieder und wieder
unsere Energie-Infrastruktur angreifen. Deshalb müssen wir uns
vorbereiten.“ Wenn wenigstens einer der drei Transformatoren den Angriff
übersteht, kann nach der Reparatur des Werkes weiter Strom übertragen
werden.
Nicht nur bautechnisch sollte die Zukunft vorbereitet werden, sagt Inna
Romaniwna Sowsun, ehemals stellvertretende Wissenschaftsministerin und
heute Energiepolitikerin der oppositionellen Partei Golos. Sie ist
überzeugt: „Wir brauchen einen anderen Umgang mit Energie. Bis zu 30
Prozent jener Wärme, die in Kyjiwer Kraftwerken produziert wird, erreicht
beispielsweise nie den Konsumenten.“ Man könne das im Winter gut sehen,
wenn es schneefreie Stellen gebe, „weil unter der Erde eine schlecht
gedämmte Leitung verläuft“. Es gebe keinen Anreiz, sparsam mit Energie
umzugehen, Strom sei viel zu billig, „die Kilowattstunde kostet bei uns 6
bis 7 Eurocent“. Zum Vergleich: In Deutschland werden durchschnittlich 40
Cent vom Endkunden verlangt.
## Der Strom soll teurer werden
Inna Romaniwna Sowsun kritisiert Präsident Wolodymyr Selenskyj und dessen
Partei „Diener des Volkes“, die mit absoluter Mehrheit regiert: „Er ist
Schauspieler. In den ersten Monaten hat er seinem Land hervorragend
gedient.“ Aber jetzt sei man auf die lange Distanz eingebogen: „Wir werden
den Krieg nur gewinnen, wenn wir das Land reformieren.“ Und bei diesem
Reformprozess entpuppe sich Selenskyj als jemand, „der schwierige
Entscheidungen nicht angeht: Energie muss teurer werden. Nur so bekommen
wir ein Preissignal, das uns auch resilienter gegen die russischen Attacken
macht“.
2019 hatte das Parlament einen Fond für Energieeffizienz eingerichtet: Wer
etwa sein Haus dämmen wollte, konnte Mittel beantragen. „Der Fonds war ein
Gemeinschaftsprojekt der EU mit der Ukraine“, sagt Sowsun. Die Hälfte des
Geldes sollte die Ukraine einzahlen, die EU versprach, den Betrag zu
verdoppeln. „Weil aber die Ukraine nichts einzahlte, blieb der Fonds eine
Luftnummer.“
Auf der Kurzstrecke muss die Ukraine erst einmal über diesen Sommer kommen,
an den nächsten Winter mögen die meisten Experten gar nicht denken.
Schwierig wird die Lage, weil viele Atomreaktoren, [2][die aktuell mehr als
die Hälfte des ukrainischen Stroms produzieren], in die sogenannte
„periodische Sicherheitsüberprüfung“ gehen müssen: notwendige
Wartungsarbeiten. Sie werden abgeschaltet. Weil im Sommer wegen der vielen
Kühlanlagen der Stromverbrauch steigt, sehen die Experten schwarz.
## Im Sommer gibt es keine Atomkraft und weniger Wasser
Vor dem Krieg verbrauchte die Ukraine laut Ihor Syrota 24.000
Megawattstunden Strom pro Tag, aktuell sind es 12.300 Megawattstunden. „Wir
haben 20 Prozent unseres Territoriums verloren, weshalb auch der Verbrauch
um 20 Prozent zurückgegangen ist.“ Zudem seien große Verbraucher wie das
Stahlwerk Asow in Mariupol weggefallen. Die Russen haben das Werk, in dem
die Ukrainer lange Widerstand geleistet hatten, komplett zerstört. „Hier in
Kyjiv merkt man derzeit von der Stromknappheit nichts“, sagt Syrota, „aber
nur, weil es nach diesem Winter sehr viel Wasser gibt“.
Vor dem Krieg deckte die Wasserkraft 15 Prozent des Stromverbrauchs,
aktuell sind es – trotz der Zerstörungen – 25 Prozent. „Im Sommer gibt es
keine Atomkraft, weniger Wasser und wohl noch mehr Zerstörung von
Kapazitäten“, sagt Syrota. Ukrhydroenergo verhandle deshalb derzeit mit
großen Stromverbrauchern, damit diese ihre Produktion in die Nacht
verlegen.
„Bis zum 16. März 2022 war die Ukraine mit dem Stromnetz Russlands
verbunden“, sagt Mariia Tsaturian von Ukrenergo. Seitdem sind die Leitungen
gen Osten gekappt und Richtung EU eröffnet. Zwar laufe noch der
Testbetrieb, aber die Perspektive sei klar: „Wenn wir genug Strom
produzieren, können wir stündlich 100 Megawatt in die EU exportieren.“ In
diesem Sommer wird erst einmal die andere Richtung der Zusammenarbeit
wichtig: Importierter Strom aus der EU hilft der Ukraine, sich gegen den
russischen Aggressor zu verteidigen.
Diese Recherche wurde vom „Zentrum Liberale Moderne“ unterstützt.
10 May 2024
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## AUTOREN
Nick Reimer
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