# taz.de -- Flucht durch den Gazastreifen: Wohin denn jetzt noch? | |
> Wael al-Madhoun ist Dialysepatient. Sechs Mal ist er mit seiner Familie | |
> schon geflohen. Von Klinik zu Klinik. Auch Rafah ist jetzt nicht mehr | |
> sicher. | |
Bild: Erneute Flucht am 9. Mai, in einen Teil von Rafah, der mehr Sicherheit ve… | |
RAFAH/AL-MAWASI/JERUSALEM taz | Das temporäre Zuhause der Familie | |
al-Madhoun in al-Mawasi im südlichen Gazastreifen misst nicht mehr als 16 | |
Quadratmeter. Es ist ein Zelt, die Wände aus grauem Plastik, auf dem Boden | |
ein dünner Teppich, ein paar Matratzen. Zu acht leben sie hier: der | |
53-jährige Familienvater Wael al-Madhoun, seine Ehefrau Mona, die fünf | |
Söhne und eine Tochter. Auf einem kleinen Stück Boden vor dem Zelt wäscht | |
und kocht die Familie. Mit Plastikplanen versuchen sie ein Stück | |
Privatsphäre für sich zu schaffen. Und weil im Zelt selbst kein Platz ist, | |
bewahren sie davor auch ihre Kleidung und Nahrungsmittel auf. | |
Die Familie musste – so erzählt es Mona al-Madhoun – nun zum sechsten Mal | |
flüchten, seit dem Beginn des Kriegs gegen die Hamas nach den [1][Angriffen | |
vom 7. Oktober]. Ursprünglich stammen sie aus einer Wohnsiedlung namens | |
Sheikh Zayed, bei Beit Hanoun in Nordgaza. Von dort flohen sie Richtung | |
Süden, zunächst in das Ballungsgebiet Jabalia, dann in die Mitte des | |
Gazastreifens nach Az-Zawaida, von dort aus in die südliche Großstadt Khan | |
Younis und von dort schließlich nach Rafah. So wie über eine Million | |
weitere Menschen, die den Aufrufen des israelischen Militärs zur | |
Evakuierung aus Nord- und Zentralgaza folgten und schließlich in Rafah | |
landeten. | |
An der Reise der Familie al-Madhoun lassen sich auch die verschiedenen | |
Phasen des Krieges ablesen und der Weg des israelischen Militärs: aus dem | |
Norden, wo die Offensive begann, bis ganz in den Süden des Gazastreifens. | |
Vier Monate lang harrte die Familie in Rafah aus. Am vergangenen Sonntag | |
dann warf das israelische Militär Flugblätter über dem Osten Rafahs ab, | |
warnte mit Anrufen, SMS und Medienansprachen: Alle Zivilistinnen und | |
Zivilisten sollten die Gegend verlassen. In der Nacht zum Montag begann | |
schließlich die Bodenoffensive. Geschätzt 30.000 Menschen sind in der | |
vergangenen Woche aus Ostrafah geflohen. Auch aus den weiter westlich | |
gelegenen Teilen der Stadt haben sich die ersten aufgemacht, die Angst vor | |
einer Ausweitung der Kampfzone treibt sie an. | |
## Kaum Infrastruktur | |
Auch die Familie al-Madhoun ist dem Aufruf des Militärs gefolgt und von | |
Rafah nach al-Mawasi gezogen – Flucht Nummer sechs. Über dreieinhalb | |
Stunden dauere die Fahrt mittlerweile, erzählt Mahmoud al-Madhoun, einer | |
der Söhne der beiden, vor dem Krieg habe sie etwa 15 Minuten gedauert. Der | |
Grund: die über eine Million Menschen, die nach Rafah und Umgebung geflohen | |
sind – „in eine sehr kleine Region“, sagt er. | |
Auf dem Gebiet von al-Mawasi stand bis 2005 ein israelischer | |
Siedlungsblock, genannt Gush Katif. Damals wurde er, im Rahmen des | |
israelischen Rückzugs aus Gaza, geräumt und an die Palästinenserinnen und | |
Palästinenser übergeben. | |
Das Land wurde sowohl vor als auch nach der Räumung der Siedlungen vor | |
allem landwirtschaftlich genutzt. Vor dem Krieg sah es so aus: ein paar | |
Straßen, Felder, Sand, ein paar Gebäude und Gewächshäuser bis zum Strand. | |
Bis zum vergangenen Oktober wurden dort etwa Mangos und Paprika angebaut, | |
deswegen gibt es grundsätzlich wenig städtische Infrastruktur. Nur ein | |
einziges Solarpanel dient den Menschen, die nach al-Mawasi geflohen sind, | |
nun dazu, ihre Smartphones zu laden – gegen Bezahlung. | |
Auch nach einer Toilette oder Dusche muss die Familie al-Madhoun lange | |
suchen. Vater Wael ist nierenkrank und Dialysepatient, er muss täglich | |
Tabletten schlucken. Sein Körper kann Giftstoffe nicht selbst ausscheiden, | |
eine Maschine ersetzt die Funktion seiner kranken Nieren. Eigentlich müsste | |
er für die Blutwäsche alle zwei Tage ins Krankenhaus. Seit Beginn des | |
Kriegs kam er zur Behandlung in viele verschiedene Krankenhäuser entlang | |
seiner Fluchtroute. Bisher, erzählt er, konnte er zumindest zweimal | |
wöchentlich behandelt werden. Doch nun wurde auch das | |
Abu-Youssef-al-Najjar-Krankenhaus in Rafah, in dem ihm seit seiner Ankunft | |
in Rafah geholfen wurde, auf Anweisung des israelischen Militärs evakuiert. | |
## Seit Tagen keine Dialyse | |
Eine Sprecherin der Weltgesundheitsorganisation warnte: Sollte das | |
Krankenhaus geschlossen werden, seien mindestens 200 Dialysepatienten in | |
akuter Gefahr. Nach Angaben der Organisation ist es die einzige Klinik, die | |
überhaupt noch Dialysebehandlungen in Gaza durchführt. Zwar bleibt die | |
Dialyseabteilung des Krankenhauses nach Angaben der Nachrichtenagentur | |
Reuters noch geöffnet. Doch al-Madhoun und seiner Familie, die Rafah längst | |
verlassen haben, hilft das nicht. | |
Al-Madhoun sagt, das Al-Aksa-Märtyrer-Krankenhaus in Deir-el-Balah sei nun | |
seine Hoffnung. Dort sollen noch Dialysepatienten behandelt werden, sagt | |
er. Deswegen will er al-Mawasi erneut verlassen, und in die Stadt in | |
Mittelgaza weiterziehen, in die Nähe der Klinik. „Ich bin krank, ich kann | |
nicht zwischen Städten hin- und herreisen“, erklärt er. „Vor dem Krieg gab | |
es Programme in Gaza für Menschen, die mit Nierenschäden leben.“ Doch die | |
Programme, sagt al-Madhoun, gibt es alle nicht mehr. | |
Schon seit Tagen war er nicht mehr bei der Dialyse, erzählt er. „Mein | |
Körper ist voller Giftstoffe. Ich habe Wassereinlagerungen in den Füßen.“ | |
Bald könne er nicht mehr richtig laufen, sagt er. In der vergangenen Woche | |
sei sein Hämoglobinwert – der Anteil roter Blutkörperchen im Blut – als | |
Folge der vielen Gifte in seinem Körper auf fünf Gramm pro Deziliter | |
abgesackt. Bei einem gesunden erwachsenen Mann sollten es sonst zwischen | |
etwa 13 und 16 Gramm sein. Er habe dringend eine Bluttransfusion gebraucht, | |
erzählt er. In den Krankenhäusern gebe es aber keine Blutkonserven mehr. | |
Sein Sohn und sein Neffe haben ihm Blut schließlich gespendet. | |
Ob das Al-Aksa-Märtyrer-Spital in Deir el-Balah ihn als Patienten | |
überhaupt aufnehmen kann, wisse er nicht, sagt er. Doch er will zumindest | |
versuchen, sich dort registrieren zu lassen. Eine anderen Option hat er | |
nicht. | |
## Wieder keine Einigung | |
Vier Stunden, sagt al-Madhoun, dauere die Fahrt von al-Mawasi nach Deir | |
el-Balah, eine Strecke von etwa 16 Kilometern. Ein Auto besitzt die Familie | |
nicht. Um weiterzuflüchten, müssen sie eines mieten, sagt al-Madhouns Frau | |
Mona. 1.000 Schekel – etwa 250 Euro – koste das. „Ich habe Angst“, sagt | |
sie, „ich bin müde, körperlich und geistig.“ | |
„Wir leben seit sieben Monaten in einem Zelt“, sagt ihr Sohn Mahmoud | |
al-Madhoun. „Es gibt kaum Wasser, kaum Essen, nicht einmal das Nötigste zum | |
Leben.“ Vor dem Krieg arbeitete der 27-Jährige als Verkäufer in einem | |
Mobileshop, der Telefone und SIM-Karten vertreibt. Die Familie war auch in | |
ihrer Heimat Sheikh Zayed nicht wohlhabend, Vater Wael konnte aufgrund | |
seiner Nierenkrankheit nicht arbeiten. Doch zum Leben reichte es. „Wenn ich | |
nun Wasser brauche“, sagt sein Sohn, „muss ich 15 Minuten laufen, um nur | |
fünf Liter zu bekommen.“ | |
Weil al-Mawasi eigentlich wenig besiedelt sei, gebe es dort kaum | |
Infrastruktur, sagt er, auch keine Klinik. Nur vertriebene Menschen. „Es | |
wäre besser, wenn wir nach Deir el-Balah weiterziehen“, sagt er. Es seien | |
zu viele, die aus Ostrafah nach al-Mawasi kämen. Seine Hoffnungen setzt er | |
auf die Verhandlungen in der ägyptischen Hauptstadt Kairo. Dort liefern | |
sich die Hamas und Israel über ihre Vermittler USA, Katar und Ägypten seit | |
Wochen ein Gezerre um einen Geiseldeal. Israel soll die nach Gaza | |
entführten Geiseln zurückbekommen und dafür palästinensische Häftlinge | |
entlassen. Bisher scheiterte ein Deal aber vor allem an der Forderung der | |
Hamas nach einem dauerhaften Waffenstillstand. Israel will lediglich eine | |
Feuerpause akzeptieren. | |
Als die Hamas am vergangenen Wochenende vermeldete, man gehe auf einen der | |
vielen Vorschläge für den Deal ein, wurden die Hoffnungen vieler gleich | |
wieder enttäuscht. Nach israelischen Angaben handelte es sich dabei nämlich | |
nicht um den Vorschlag, den sie zuvor gesichtet hätten. Eine Einigung gab | |
es wieder nicht. | |
## Flucht Nummer sieben | |
Die Menschen in Gaza sind meist sehr vorsichtig, sich über die Hamas zu | |
äußern. Mahmoud al-Madhoun sagt: „Ich möchte ein Wort an die Delegationen | |
der Verhandelnden in Kairo richten. Um den Tod, dem wir hier ins Auge | |
blicken, noch aufzuhalten, sollten sie ihre Forderungen ein wenig | |
aufweichen.“ Zur Hamas sagt er: „Sie sind seit 17 Jahren für uns | |
verantwortlich. Sie müssen diesen Krieg beenden.“ Und er fügt hinzu: „Auch | |
die Regierung Israels bitte ich: Schützt uns. So schützt ihr auch eure | |
eigene Bevölkerung. Ich hoffe, dass dieser Krieg bald vorbei ist.“ | |
Am Freitagmorgen schickt Familie al-Madhoun ein Bild. Es zeigt Sohn Mahmoud | |
auf einem kleinen Pick-up-Lastwagen. Er sitzt auf den verbliebenen | |
Besitztümern der Familie: Matratzen und Bettzeug, gestapelte Plastikstühle, | |
ein Kanister und ein Eimer. Die Familie ist nun auf dem Weg nach | |
Deir-el-Balah. Es ist Flucht Nummer sieben. | |
10 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Lisa Schneider | |
Sami Ziara | |
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