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# taz.de -- Analyse zum Gazakrieg: Netanjahus riskantes Spiel
> Einen Geisel-Deal mit der Hamas schlägt Israels Premier aus, stattdessen
> lässt er die Grenze zwischen Gaza und Ägypten besetzen. Was ist sein
> Kalkül?
Bild: Gegen Netanjahus Regierung, für die Freilassung der in Gaza gefangenen G…
Netanjahu pokert hoch – vielleicht so hoch wie noch nie. Am vergangenen
Wochenende [1][ließ die Hamas verlauten, sie stimme einem
Waffenstillstandsangebot zu]. In Rafah, wo seit Monaten 1,5 Millionen
Binnenflüchtlinge unter katastrophalen Bedingungen und auf engstem Raum
zusammengedrängt Schutz suchen, waren die Jubelstürme groß. Doch kurz
darauf kam die Ernüchterung, als die israelischen Panzer auf Rafah
zurollten. Wenige Stunden zuvor waren aus Rafah Geschosse auf Israel
abgefeuert worden und hatten vier Soldat*innen getötet.
In Tel Aviv hatten sich die Familienangehörigen von Geiseln und
Protestierende den Jubel gleich gespart. Als hätten sie geahnt, dass
Netanjahu den Deal ablehnen und stattdessen das israelische Militär
veranlassen würde, den Rafah-Grenzübergang nach Ägypten zu besetzen und zu
schließen.
Dabei war der Druck auf Netanjahu, diesen Schritt nicht zu gehen, denkbar
hoch – und jetzt liegt die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf der Frage,
was als nächstes in Rafah passieren wird. Bislang ist das Militär noch
nicht in die Stadt selbst eingedrungen. Aber wird es noch zu der lang
geplanten, großangelegten Invasion kommen?
Die Vereinten Nationen und mehrere Hilfsorganisationen drängen Israel
darauf, den Angriff auf Rafah zu beenden. Aus der Europäischen Union kamen
heftige Verurteilungen. Auch auf den Straßen in Tel Aviv entlädt sich der
Zorn: Viele Angehörige von Geiseln fürchten um das Leben ihrer Liebsten
angesichts der Invasion und glauben, dass diese einen erneuten Deal
verunmöglichen könnte.
## Amerikas Unterstützung brökelt
Vor allem aber riskiert Netanjahu einen handfesten Bruch mit den USA.
US-Präsident Joe Biden hatte immer wieder moniert, dass Israel keinen Plan
habe, wie die Zivilist*innen bei einer Bodenoffensive ausreichend
geschützt werden könnten. Rafah sei eine rote Linie. Wie ernst es ihm damit
ist, zeigte sich am Mittwoch, als die [2][Meldungen über den Stopp von
Waffenlieferungen aus den USA die Runde machten].
Bereits in der Woche zuvor war bekannt geworden, dass die USA eine
Lieferung von ungelenkten 2.000-Pfund-Bomben ausgesetzt haben, deren Abwurf
in dicht bevölkerten Gegenden viele Todesopfer fordert. Am Mittwoch
erklärte sich Biden dann persönlich gegenüber CNN: Seine Regierung werde
Israel weder unterstützen noch mit Angriffswaffen versorgen, falls das
Militär eine Operation gegen die Hamas in bewohnten Teilen von Rafah im
südlichen Gazastreifen startet: „Ich habe Bibi und dem Kriegskabinett
klargemacht: Sie werden unsere Unterstützung nicht bekommen, wenn sie in
diese Bevölkerungszentren eindringen.“
Netanjahus rechtsextreme Minister reagierten prompt. Der Minister für
Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, setzte auf X ein Herz zwischen Hamas
und Biden: „[3][Hamas liebt Biden]“ war seine Botschaft.
Den radikal-religiösen Zionisten kauft man ihre Verachtung für die
Warnsignale der USA ab. Sie interessiert vor allem eins: Gott. Und mit Gott
folgen sie dem ihnen von ihm vermeintlich verliehenen Auftrag, Erez Israel
zu besiedeln, vom Fluss bis zum Meer. Was irgendwelche Großmächte, und
seien es die USA, zu sagen haben – es könnte sie nicht weniger kümmern.
## Die eigenen Interessen im Kopf
Und Netanjahu? Man kann die schärfste Kritiker*in Netanjahus sein und
sich doch fragen: Nimmt er wirklich einen Bruch mit den USA hin, um seine
Regierungskoalition zu retten? Wird er in Kauf nehmen, die Existenz seines
Landes aufs Spiel zu setzen? Wie weit wird er, der das Land Israel so lange
anführt wie kein Ministerpräsident zuvor, noch gehen?
Dass Netanjahu nur seine eigenen Interessen im Kopf hat, ist unter seinen
Kritiker*innen Common Sense. Seine größte Sorge gilt in ihren Augen:
Neuwahlen. Netanjahu kennt die Umfrageergebnisse. Seinen Posten wäre er
los; auch wenn seine Beliebtheit nach einer dramatischen Talfahrt nach dem
7. Oktober wieder zu steigen beginnt. Für Netanjahu, der in drei
Korruptionsfällen vor Gericht steht, ist es ein albtraumartiges Szenario.
Tatsächlich wäre mit einem Deal wie dem vom vergangenen Wochenende ein
Koalitionsbruch wohl ausgemacht. „Keine Existenzberechtigung“ habe die
Regierung, schrieb der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich Ende
April auf X, sollte Netanjahu das kursierende Waffenstillstandsangebot
annehmen.
Und Ben Gvir legte mit einer Videobotschaft nach: „Ich habe den
Ministerpräsidenten [vor den Folgen] gewarnt, wenn, Gott bewahre, Israel
nicht in Rafah einmarschiert, wenn, Gott bewahre, wir den Krieg beenden,
wenn, Gott bewahre, es eine unbedachte Übereinkunft geben wird.“
## Alles im Schwebezustand halten
Und so versucht Netanjahu, die Entwicklungen in einem Schwebezustand zu
halten. Keine großangelegte Invasion, zumindest bislang nicht, aber doch
eine Besänftigung seiner Hardliner-Koalitionspartner. Kein Abkommen, aber
die Gespräche weiter laufen lassen – mit einer Delegation ohne wirkliches
Mandat. Im Moment befinden sich die Verhandlungen wieder in einer
Sackgasse.
Für Gayil Talshir, Politikwissenschaftlerin und Netanjahu-Expertin, ist
dies das klassische Verhalten des Premierministers. „Netanjahu ist ein
Staatsführer, der verschiedene Optionen entwirft, sie in die Luft wirft und
dann in letzter Sekunde entscheidet, was er tun wird.“ Je nachdem, was für
ihn gerade opportun ist.
Doch was gerade opportun ist, ist für Netanjahu derzeit schwer zu erkennen.
Die Fragen, die die Israelis gerade umtreiben, sind existenziell, es geht
um das Leben der Geiseln, um die Frage, ob die von der Nordgrenze und von
den Gebieten in der Nähe zum Gazastreifen evakuierten Anwohner*innen in
ihre Häuser werden zurückkehren können – und nicht zuletzt um die Existenz
des Staates Israel selbst. Die Menschen stehen sich in ihren
Schlussfolgerungen zum Teil diametral gegenüber, aber gemeinsam haben sie:
Sie fühlen sich existenziell bedroht. Dementsprechend groß ist der Zorn.
„Die Straßen würden brennen“, sagt ein politischer Berater aus
Likud-Kreisen, der anonym bleiben will, „sollte Netanjahu einen solchen
Deal annehmen.“ Ob es wirklich dazu kommen würde, ist fraglich. Dafür ist
die Menge an radikalideologischen Hardlinern und religiösen Zionisten zu
klein. Doch möglicherweise würden ihm einige Wähler*innen, die noch oder
wieder bereit sind, ihm seine Stimme zu geben, einen solchen Deal nicht
verzeihen.
## Zu große Zugeständnisse
Für sie ist klar, dass die Ankündigung der Hamas kein ernstzunehmendes
Angebot war. Tatsächlich weicht der von der Hamas akzeptierte Deal in
einigen Punkten von dem ägyptischen Vorschlag ab, an dessen Entwicklung
auch Israel beteiligt war.
In dieser Version wären die Zugeständnisse an die Hamas viel zu groß, so
der Likud-Berater: „33 Geiseln, von denen unklar ist, wie viele schon tot
sind – das ist doch kein Angebot.“ Hinzu käme, dass sämtliche Menschen in
Gaza sich hätten frei bewegen und auch in den von Israel abgeriegelten
Norden hätten zurückkehren dürfen. Das würde einem Ende des Krieges nahe
kommen: „Wir hätten einige der Geiseln zurück, viele von ihnen bereits tot.
Die Hamas wäre weiter an der Macht – und könnte bald ihr nächstes Massaker
starten“, so der Politikberater. Mit dieser Logik setzt die Rechte weiter
auf militärische Stärke. Und auf eine Invasion in Rafah.
„Netanjahu hatte eigentlich keine andere Wahl. Er hat seit Langem –
unsinnigerweise – eine Invasion in Rafah als letzten Schritt auf dem Weg zu
einem ‚totalen Sieg‘ gezeichnet“, sagt Gayil Talshir.
Die ist aus der Sicht des Militärexperten Kobi Michael vom israelischen
Forschungsinstitut INSS weniger relevant wegen der vier Hamas-Bataillone,
die sich in der südlichen Grenzstadt in den Tunneln versteckt halten.
Zentral sei vielmehr das Tunnelsystem, das Ägypten und Gaza verbindet. Das
israelische Militär vermutet, dass dort Geld, Waffen und für den Bau von
Waffen verwendete Materialien über die Grenze geschmuggelt werden. „Sollten
wir den Krieg beenden, ohne die Tunnel blockiert zu haben, würden wir Hamas
oder jeder anderen Terrororganisation ermöglichen, ihre militärischen
Fähigkeiten neu aufzubauen“, sagt Michael gegenüber der taz.
## Kein Nachkriegsplan
Andere Analyst*innen betonen hingegen: Rafah wird kein Stalingrad sein.
Die Hamas wird in Rafah nicht endgültig besiegt werden, so wie sich die
Hamas überhaupt militärisch nicht besiegen lasse.
Bis heute hat Benjamin Netanjahu keinen Plan für ein Nachkriegsgaza
vorgelegt. Wie soll die Hamas besiegt werden? Was soll auf sie folgen? Wer
soll den Gazastreifen wieder aufbauen? Diese Fragen bleiben bislang
unbeantwortet.
Glaubt man Talshir, wird Netanjahu am Ende wohl nach einem der Bälle
greifen, die er in die Luft geworfen hat, in der Hoffnung, dass er damit
sein politisches Überleben sichern kann. Und wenn dabei der Landstrich
zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer nicht den Abgrund hinunterjagt, ist
dies für ihn gut. Notwendige Bedingung ist es für ihn – allem Anschein nach
– allerdings nicht.
10 May 2024
## LINKS
[1] /Geisel-Deal-zwischen-Israel-und-Hamas/!6008458
[2] /Angedrohter-US-Waffenstopp-fuer-Israel/!6006306
[3] https://twitter.com/itamarbengvir/status/1788458123436433783?t=ZzcgvvrFXuqO…
## AUTOREN
Judith Poppe
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