# taz.de -- Argentinien auf Sparkurs: Keine Kohle für Unis | |
> Das argentinische Bildungssystem hat einen guten Ruf. Doch nun überzieht | |
> es der neue Präsident Javier Milei mit drastischen Sparvorgaben. | |
Bild: „Ohne Wissenschaft gibt es keine Zukunft“ – Demonstration gegen Mil… | |
BUENOS AIRES taz | Ich kam gar nicht bis zur Plaza de Mayo“, sagt Guadalupe | |
Seia. Die Augen der Dozentin an der Fakultät der Sozialwissenschaften der | |
Universität Buenos Aires leuchten, wenn sie über den jüngsten landesweiten | |
Hochschulprotest, den [1][Marcha Federal Universitaria], spricht. „Ein paar | |
Häuserblocks davor ging es einfach nicht mehr weiter.“ Gut zwei Stunden | |
lang stand sie in der Diagonale, die zur Plaza de Mayo vor den | |
Präsidentenpalast führt. Und doch. „Es war unglaublich bewegend“, sagt si… | |
Vor zwei Wochen gingen in Argentinien rund 2 Millionen Menschen auf die | |
Straße. Es war eine der größten Mobilisierungen seit dem Ende der Diktatur | |
1983 und in den 40 Jahren Demokratie. Allein in der Hauptstadt Buenos Aires | |
marschierten schätzungsweise eine halbe Million Menschen vom | |
Kongressgebäude zum Präsidentenpalast. Es war eine generationen-, klassen- | |
und politikübergreifende Manifestation für das öffentliche und kostenlose | |
Bildungssystem in Argentinien. | |
Dazu aufgerufen hatte der Hochschulrat der öffentlichen Universitäten. „Die | |
öffentliche Bildung ist eine Säule der argentinischen Gesellschaft“, | |
erklärt die Soziologin Guadalupe Seia. Und an der hatte der [2][libertäre | |
Präsident Javier Milei] mit seiner rigorosen Sparpolitik gerüttelt. | |
Nach seinem Amtsantritt im Dezember kopierte Milei einfach den | |
Staatshaushalt 2023 und verlängerte ihn um ein Jahr. Obwohl die Zuweisungen | |
für die jeweiligen Bereiche in absoluten Zahlen konstant blieben, hatte die | |
jährliche Inflation [3][von über 280 Prozent] zu einem starken Wertverlust | |
der Haushaltsmittel geführt, mit direkten Auswirkungen auf die damit | |
finanzierten Löhne und Gehälter. Den rasanten Anstieg der schon vor seiner | |
Amtszeit grassierenden Inflation befeuerte Milei etwa durch die Abwertung | |
des Peso gegenüber dem Dollar. [4][Diese Maßnahmen sind Teil seines | |
neoliberalen Sparprogramms, das auch der Internationale Währungsfonds (IWF) | |
abgesegnet hat]. | |
„Allein in den letzten vier Monaten betrug die Inflationsrate 40 Prozent, | |
aber es gab nur eine achtprozentige Gehaltsanhebung“, erklärt Seia. | |
Inzwischen sei es üblich, dass Kollegen und Kolleginnen ihre angesparten | |
Dollar verkauften oder sich Geld liehen, nur um bis zum Monatsende über die | |
Runden zu kommen. | |
Dennoch war es weniger die bereits seit vielen Jahren bestehende prekäre | |
Gehaltssituation, die den Hochschulrat zum Handeln zwang. Die | |
Universitätsdirektor*innen warnten, dass die Universitäten Ende Mai | |
geschlossen werden könnten. Bald könne nicht einmal mehr der Minimalbetrieb | |
der Einrichtungen gewährleistet werden, allen voran die Unikliniken. Schon | |
jetzt werde der Stromverbrauch in einigen Fachbereichen eingeschränkt oder | |
die Beleuchtung der Räume und der Fahrstuhlbetrieb eingestellt. | |
## Kerzen im Hörsaal | |
„Ja, es war sogar die Rede davon, den Fachbereich zu schließen“, sagt die | |
36-jährige Soziologin, die dort seit zehn Jahren unterrichtet. „Ich habe | |
Kerzen zu der Vorlesung mitgebracht“, sagt sie. „Ich wusste nicht, ob es im | |
Hörsaal Licht gibt.“ Einfache Dinge wie Toilettenpapier und Seife in den | |
Toiletten oder Kreide für die Tafel fehlten schon seit Monaten. | |
Die Bildungspolitik war das kürzeste Kapitel im Wahlprogramm der Partei La | |
Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) von Javier Milei. In dürren | |
Sätzen sind neun Punkte aufgelistet, die einer Sammlung von Schlagwörtern | |
ähneln. Am konkretesten ist die Forderung nach der „Abschaffung des | |
Zwangscharakters der ESI auf allen Bildungsebenen“. Die „Educación Sexual | |
Integral“ wurde 2006 gegen den konservativen und kirchlichen Widerstand | |
eingeführt. Dabei geht es vorrangig um Sexualerziehung, aber auch um Fragen | |
der Geschlechtsidentität. | |
Ansonsten ist die Rede vom Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen, | |
mittels des „Sistema de vouchers cheque educativo“, dem | |
Bildungsgutscheinsystem. „In der idealen Welt gibt es ein Gutscheinsystem, | |
du studierst und ich gebe dir die Gutscheine dafür. Du kannst wählen, ob du | |
damit an eine privaten oder öffentliche Einrichtung gehst“, erklärte Milei | |
im Wahlkampf. So muss auch niemand mehr Opfer einer Institution werden, | |
„die mich mit marxistischem Müll indoktriniert“, fügte er hinzu. | |
Was Milei aufgreift, ist ein Vorschlag des neoliberalen Ökonomen Milton | |
Friedman aus dem Jahr 1955, der auf dem Prinzip von Angebot und Nachfrage | |
beruht. Anstatt die Angebotsseite, wie Schulen und Universitäten, zu | |
finanzieren, werden die Finanzmittel auf die Nachfrageseite, sprich den | |
Lernenden, übertragen. Der erhoffte Nebeneffekt ist ein verstärkter | |
Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen, der für ein besseres | |
Lehrangebot sorgen soll. | |
## Das Bildungsministerium ist jetzt Sekretariat | |
Als eine seiner ersten Amtshandlungen als Präsident hat Milei die [5][Zahl | |
der Ministerien halbiert]. Bildung ist jetzt eines von fünf Sekretariaten, | |
die dem neu geschaffenen Ministerium für Humankapital unterstellt sind. | |
Damit hat Argentinien erstmals seit der Diktatur von Juan Carlos Onganía | |
(1966–1970) kein Bildungsministerium mehr. Es trifft aber nicht die Bildung | |
allein. In allen Bereichen setzt Milei auf eine harte Sparpolitik. | |
„Zum Glück sind die Provinzen für die Schulen zuständig“, sagt | |
Grundschullehrer Juan Pérez von einer Schule im Bezirk La Matanza in der | |
Provinz Buenos Aires. Seinen richtigen Namen und den seiner Schule will er | |
lieber nicht in der Zeitung lesen. „In den letzten vier Monaten wurden | |
unsere Gehälter von der Provinzregierung um etwas mehr als 50 Prozent | |
erhöht“, sagt er. Das liegt zwar nur knapp über der Inflationsrate, aber | |
wenigstens haben sie nicht an Kaufkraft verloren. | |
Zu verdanken hat Pérez das Axel Kicillof, dem Gouverneur der Provinz Buenos | |
Aires. Der ehemalige Wirtschaftsminister von Ex-Präsidentin Cristina | |
Kirchner (2007–2015) ist einer der Politiker einer insgesamt schwachen und | |
zersplitterten linken Opposition, der noch ein einflussreiches Amt | |
bekleidet. Es bleibt abzuwarten, wie lange er diese Lohnpolitik finanzieren | |
kann. Schließlich hat Präsident Milei den Provinzen die Mittel aus dem | |
Fondo Nacional de Incentivo Docente, kurz Fonid, gestrichen. | |
Mit den Mitteln aus dem staatlichen Fonds wurde bisher ein Anteil von 10 | |
Prozent der Gehälter der mehr als 1,6 Millionen Lehrkräfte im öffentlichen | |
Grund-, Sekundarschulsystem sowie der Erwachsenenbildung finanziert. Die | |
fehlenden Mittel bringen vor allem die finanzschwachen Provinzen in | |
Bedrängnis. Darauf angesprochen antwortete Präsident Javier Milei knapp: | |
„Die Bildung liegt in der Verantwortung der Gouverneure, es ist ein Problem | |
der Provinzen.“ | |
## Bildungsgutscheine für einzelne Monate | |
„Der Fonid ist eine hart erkämpfte Errungenschaft der Lehrenden und ihrer | |
Gewerkschaften“, sagt Lehrer Juan Pérez. „Mein Onkel war damals dabei.“ … | |
April 1997 errichteten sie das „Weiße Zelt der Lehrenden“ (Carpa blanca | |
docente) vor dem Kongressgebäude in Buenos Aires und protestierten gegen | |
die Sparpolitik der damaligen neoliberalen Regierung von Präsident Carlos | |
Menem, unter anderem mit einem Hungerstreik. Mehr als 1.400 Lehrkräfte aus | |
ganz Argentinien hatten sich abwechselnd daran beteiligt. Nach 1.003 | |
Protesttagen lenkte die Regierung ein. „Im Dezember 1998 wurde dann der | |
Fonid eingerichtet“, sagt der 32-Jährige, der seit acht Jahren | |
unterrichtet. | |
Neben rigorosen Sparvorgaben sieht die Bildungspolitik der Regierung eine | |
Art Subventionspolitik vor. Mittelschichtfamilien, die aufgrund der rasant | |
gestiegenen Lebenshaltungskosten das Schulgeld für ihre Kinder an den | |
Privatschulen nicht mehr zahlen können, dürfen Bildungsgutscheine im Wert | |
von umgerechnet 25 Euro für Mai, Juni und Juli beantragen. Für die | |
einkommensschwachen Familien hat die Regierung die einmalige Beihilfe für | |
Schulutensilien von 15 auf rund 65 Euro angehoben. | |
Dennoch ist in der Sparpolitik eine klare ideologische Perspektive zu | |
erkennen, warnt die Soziologin Guadalupe Seia. „Die Regierung hat einen | |
Angriff auf das öffentliche Bildungswesen als den Raum gestartet, in dem | |
solidarisches Handeln und der freie Austausch von Information vorrangig | |
sein sollten und in dem die Regierung ein eher linkes Engagement vermutet“, | |
sagt sie. Die öffentliche Bildung ist ein von der Verfassung garantiertes | |
Recht, so Seia und freut sich über die Demonstration vor zwei Wochen: „Zwei | |
Millionen Menschen haben das dem Präsidenten deutlich gesagt.“ | |
9 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
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