# taz.de -- Zur Edition über Gestapo-Lageberichte: Nicht allwissende Geheimpol… | |
> Die Gestapo-Berichte von 1933–36 brüsten sich mit Erfolgen. Historikerin | |
> Paula Oppermann arbeitet daran, die Berichte kommentiert zu | |
> veröffentlichen. | |
Bild: Berliner Polizeipräsidium nahe des Alexanderplatzes (Aufnahme von 1933);… | |
Berlin taz | Worum sich die Berliner Gestapo alles kümmerte: „Aufgefallen | |
ist seit längerem, daß der Gruß ‚Heil Hitler‘ im öffentlichen Verkehr w… | |
und vielfach anscheinend ungern gebraucht wird. Dies soll ganz besonders in | |
den Büros und Geschäftsräumen der Fall sein. Es wäre zu wünschen, dass | |
diesem Mißstande begegnet wird, indem die Angehörigen der | |
nationalsozialistischen Organisationen auf ihre selbstverständliche | |
Pflicht, mit dem Hitler-Gruß zu grüßen, immer wieder hingewiesen werden.“ | |
Diese Sätze finden sich im Lagebericht der Geheimen Staatspolizei Berlin | |
für den Oktober 1934. Sie ergeben einerseits eine Vorstellung davon, wie | |
stark sich die politische Polizei im NS-Staat noch um die lächerlichsten | |
Details glaubte kümmern zu müssen. Andererseits zeigen sie, dass auch eine | |
noch so mächtige Polizei wenig dagegen ausrichten konnte, wenn sich | |
Menschen im Alltagsleben den Gepflogenheiten der Diktatur widersetzten. | |
„Die Gestapo wandte sich gegen alles, was eigenständig war“, sagt dazu | |
Paula Oppernann. Die 35-jährige Historikern arbeitet im Auftrag der | |
[1][Historischen Kommission zu Berlin] an der [2][Edition der Lageberichte | |
dieser Organisation] zur Unterdrückung des Widerstands gegen die | |
NS-Diktatur. Oppermann hat die wenig beneidenswerte Aufgabe, mehr als 1.000 | |
Seiten dieser Hinterlassenschaften akribisch auf ihre Inhalte und ihre | |
Bedeutung, auf genannte Personen, Ereignisse und Organisationen hin zu | |
durchforsten. | |
Denn über die Berliner Gestapo wurde zwar schon viel geschrieben, die 43 | |
Lageberichte aus den Jahren 1933 bis 1936 sind bisher aber nie kommentiert | |
und veröffentlicht worden. Oppermann geht es nicht darum, diese Machwerke | |
möglichst rasch dem Publikum zugänglich zu machen. Vielmehr komme es auf | |
sorgfältige Interpretation an. Andernfalls, sagt sie, könne man leicht auf | |
die gesponnenen Legenden der Gestapo hereinfallen. | |
## „Weder allwissend noch allmächtig war“ | |
Deren wichtigste ist der Mythos von der Allwissenheit. Daran bestehen unter | |
Historikern schon länger Zweifel. Für Oppermann haben sich diese nach dem | |
Studium der Lageberichte verdichtet: „Die Berichte zeigen, dass die Gestapo | |
weder allwissend noch allmächtig war. Sie hat eben nicht alle Gegner sofort | |
erwischt.“ | |
Oppermann verweist auf eine Gruppe kommunistisch gesinnter Studenten, denen | |
es gelang, Sowjetsterne aus Papier auf der Funkausstellung zu verbreiten. | |
„Diese trugen die Aufschrift ‚Rot-Funk‘ und 'Rote Studenten schalten um a… | |
Moskau“, vermeldete der Gestapo-Lagebericht vom September 1934. Es folgt | |
der lapidare Satz: „Die Täter sind bisher nicht ermittelt.“ | |
In den Folgeberichten verschwindet die Gruppe aus den Berichten, offenbar, | |
um den Misserfolg der Gestapo nicht deutlich werden zu lassen. Ähnliches | |
geschah nach einer Großrazzia im April 1934, die sich als Pleite | |
herausstellte. | |
„Von der BVG bis zu Zigarettenfabriken – überall gab es damals Zellen, die | |
Flugblätter verteilten. Das geschah trotz der Gestapo. Andererseits gab es | |
durchaus Verhaftungen und Einweisungen in Konzentrationslager“, sagt | |
Oppermann. Erfolglos war die Gestapo also auch nicht. | |
## Auf Stichproben beschränken | |
Es waren wohl etwa 300 bis 400 Polizeibeamte mit steigender Tendenz, | |
teilweise schon in der Weimarer Republik bei der Politischen Polizei tätig | |
– und bis auf einige Schreibkräfte alle männlich –, die in der Frühphase | |
der NS-Herrschaft in der Reichshauptstadt dafür Sorge tragen sollten, dass | |
die „Feinde“ des Regimes ausgeschaltet wurden. | |
Das war zwar ein mächtiger Apparat, aber er reichte nicht aus, um alles zu | |
überwachen, was es nach Ansicht der Polizei zu überwachen galt: Nicht nur | |
Kommunisten und Sozialdemokraten, sondern auch [3][weitere linke Gruppen], | |
die großen Kirchen sowie religiöse Splittergruppen, Freimaurer, Juden. Und | |
nicht zu vergessen Monarchisten, frustrierte „alte Kämpfer“ aus der NSDAP, | |
SA-Männer und konkurrierende rechtsradikale Vereinigungen und schließlich | |
die Bevölkerung an sich. | |
Die Geheime Staatspolizei musste sich auf Stichproben beschränken. „Die | |
Gestapo wollte die vollständige Kontrolle ausüben, sie beobachtete aber | |
auch ungefährliche oder in unseren Augen absurde Splittergruppen intensiv“, | |
so Oppermann. „Es gab zum Beispiel eine katholische Mädchenorganisation mit | |
dem Namen ‚Der Gral‘. Die haben Veranstaltungen organisiert, etwa mit | |
Chören. Sie hatten in Berlin nur wenige Anhänger. Trotzdem taucht die | |
Gruppe mehrfach in den Berichten auf.“ | |
[4][Jüdinnen und Juden] galten von Beginn an als „Feinde“ des NS-Staates, | |
sie wurden in den ersten Jahren der NS-Herrschaft aber offenbar als | |
deutlich weniger gefährlich als Kommunisten eingeschätzt. Die Gestapo | |
überwachte die Auswanderung nach Palästina. Im September 1934 heißt es: | |
„Während im September 1934 insgesamt 189 Personen auswanderten, ist die | |
Zahl der Auswanderer bis zum 25. Oktober auf 350 gestiegen, ihre Ausreise | |
erfolgte in 3 Zügen von je 100, 150 und 80 Personen. Bei der Abfahrt waren | |
jedesmal mehrere hundert Rassegenossen zur Verabschiedung erschienen.“ | |
## Schon früh ein Dorn im Auge | |
Jüdische Versammlungen mussten bei der Polizei angemeldet werden, doch nur | |
in wenigen Fällen überwachte ein Beamter solche Zusammenkünfte. Der | |
Holocaust hatte noch nicht begonnen, erst ab 1941 sorgte die Gestapo für | |
die reibungslose Deportation von deutschen Jüdinnen und Juden in den Osten. | |
Sexuelle Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden waren der Gestapo aber | |
schon früh ein Dorn im Auge. Diese „Rassenschande“ wurde dank der regen | |
Denunziationen „arischer“ Volksgenossen laut den Berichten ab Sommer 1935 | |
verfolgt, obwohl sie noch gar nicht strafbar waren. Die Gestapo empfand | |
eine solche Bestrafung als dringend notwendig. | |
„So beklagte ein Beamter, man könne Beschuldigte der ‚Rassenschande‘ nic… | |
wirklich dingfest machen“, berichtet Oppermann aus ihrer Arbeit. Erst im | |
September 1935 verbot das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der | |
deutschen Ehre“ jedwede sexuelle Beziehung zwischen Juden und Nichtjuden. | |
Ähnlich drängend wies ein anderer Beamter darauf hin, dass es bei der | |
Verfolgung männlicher Homosexueller an einer ausreichenden Abschreckung | |
fehlen würde und setzte sich für längere Haftstrafen gegen Schwule ein. Die | |
Gestapo war also nicht nur ein Instrument des Regimes zur Unterdrückung der | |
Opposition, deren Beamte versuchten auch selbst Politik zu machen. | |
## Gestapo-Beamte in einem Dilemma | |
Ein Aspekt fehlt völlig: die Gewalt. Es ist bekannt, dass politisch | |
Verdächtige oft schon im Polizeigefängnis und bei Verhören verprügelt und | |
gefoltert worden sind, und die Lage in den Konzentrationslagern war | |
grauenhaft. Von alldem findet sich in den Lageberichten nichts. „Wenn von | |
Razzien die Rede ist, wird nicht erwähnt, wie diese vonstatten gegangen | |
sind“, sagt Oppermann. | |
Bei ihrer Tätigkeit befanden sich die Gestapo-Beamten in einem Dilemma. | |
Einerseits mussten Erfolgsmeldungen her. Deshalb wurden Festnahmen im | |
Detail aufgelistet und die Zahl der beschlagnahmten Flugblätter bisweilen | |
nach Gewicht berechnet. „Unter 78 Neuerscheinungen befinden sich 42 | |
Zellenzeitungen und 36 Flugblätter, Streu- und Klebezettel“, notierte die | |
Gestapo für den Oktober 1934. An anderer Stelle heißt es über die Aushebung | |
einer Gruppe der KAPD in Neukölln: „13 Personen konnten verhaftet und etwa | |
3 Zentner Bücher und Broschüren staatsfeindlichen Inhalts beschlagnahmt | |
werden.“ | |
Andererseits durfte die politische Lage in der Reichshauptstadt auch nicht | |
als befriedet dargestellt werden, denn das hätte zur Frage führen können, | |
ob der Polizeiapparat überhaupt notwendig ist. „Ganz Berlin war voller | |
Widerstandskämpfer, Räuber und Banditen, folgt man den Lageberichten“, | |
meint Oppermann. Sie spricht von einer „Dramatisierung der Gefährlichkeit“ | |
der Nazi-Gegner. | |
Der Feind lauerte überall. „Es wird darüber geklagt, dass nunmehr keine | |
Möglichkeit bestehe, an Stelle der zu teuren Butter Margarine zu kaufen“, | |
heißt es. Da ist von langen Schlangen vor Geschäften die Rede, gar von | |
geplünderten Markthallen und vom fehlenden Hitlergruß. „Das Feindbild | |
musste vergrößert werden, um das eigene Dasein zu sichern“, sagt Oppermann. | |
## Viele Berliner stimmten mit Nein | |
War der Widerstand in Berlin nun stärker als sonst im Reich? Diese Frage | |
kann die Historikerin noch nicht abschließend beantworten. Auffällig aber | |
seien die Zahlen über die Stimmverteilung bei der Zusammenlegung der Ämter | |
von Staatspräsident und Reichskanzler nach dem Tod Paul von Hindenburgs am | |
2. August 1934. | |
Auffällig viele Berliner stimmten mit Nein, besonders in den | |
Arbeiterbezirken. So lehnten im Wedding 19,2 Prozent die Ämterhäufung auf | |
die Person Hitler ab. Ähnliche Ergebnisse habe es auch in anderen | |
Großstädten gegeben, nicht aber in ländlichen Gebieten, sagt Oppermann. | |
Nicht alle Fragen wird die Edition der Gestapo-Lageberichte beantworten | |
können. Das Material zu kontextualisieren, ist schon Mammutaufgabe genug. | |
Was aus den namentlich benannten Gestapo-Beamten nach 1945 geworden ist, | |
wird etwa späteren Untersuchungen vorbehalten sein. Einstweilen gilt es | |
sich in Geduld zu üben. Denn vor 2025 wird Paula Oppermann die Analyse der | |
Berliner Berichte von Hitlers Vollstreckern gewiss nicht abgeschlossen | |
haben. | |
7 May 2024 | |
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Klaus Hillenbrand | |
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