# taz.de -- Kriegsmüdigkeit in Russland: Zwischen Rausch und Apathie | |
> Ohne Krieg ist Putins fünfte Amtszeit undenkbar. Die russische | |
> Gesellschaft ist militarisiert – und gleichgültig zugleich. | |
Bild: Ein nach russischen Angaben in der Ukraine erbeuteter deutscher Leopard-2… | |
Plötzlich steht der Krieg mitten in Moskau. Er ist hierher gekarrt worden, | |
damit er unter strahlendem Sonnenschein bejubelt werden kann, verewigt auf | |
Familienbildern. „Oh“, „Wow“, „Alles unsers“, der Marder aus Deutsc… | |
der Abrams aus den USA, der finnische Sisu Pasi. „Wo ist der Leopard? Ich | |
will zum Leoparden“, sagen die meisten an diesem Tag und machen vom | |
erbeuteten deutschen Panzer hier, im Siegespark am westlichen Zentrumsrand | |
der Stadt, schnell noch ein Bild aus der Ferne. „Die Geschichte wiederholt | |
sich“, steht auf einem Plakat, auf einem anderen: „Unser Sieg ist | |
unausweichlich.“ | |
Es ist das simple wie unheilvolle Rezept, aus dem die russische Propaganda | |
gemacht ist, aus dem die russische Politik gemacht ist. [1][Die Machthaber | |
setzen auf das Narrativ, in der Ukraine werde der Kampf gegen den | |
Faschismus fortgesetzt, den ihre Vorväter einst begonnen hatten.] Über die | |
Perversion der Verdrehungen macht sich hier, bei der „Trophäenschau“, die | |
das russische Verteidigungsministerium unter freiem Himmel präsentiert, | |
wohl niemand Gedanken. | |
Die roten Fahnen, auf denen in Großbuchstaben „Pobeda“ geschrieben steht, | |
Sieg, wehen im Wind. Sie umflattern den Rausch des Krieges, der so | |
verspielt daherkommt, dass es für die Massen an Männern, Frauen, Kindern | |
zwischen den Absperrungen um das Kriegsgerät herum ein Leichtes ist, | |
auszublenden, ja zu vergessen, dass Krieg nicht Romantik ist, sondern | |
Trauer und Schmerz. Solche Gefühle lassen sie nicht zu, sie würden wehtun, | |
sie würden womöglich zu Fragen führen, deren Antworten unangenehm sind. | |
Fragen, Zweifel, Widerspruch, das ist nicht ihres. Für sie ist Krieg Stolz, | |
identitätsstiftend, weil er sie sich groß fühlen lässt, in einem Leben, in | |
dem sie ständig von Autoritäten gedemütigt werden und sich machtlos fühlen, | |
in dem sie frustriert, verbittert und unsicher sind, in dem Angst das | |
bestimmende Element ist. Großfühlen sei wichtig, vermittelt ihnen das | |
Regime, wie ihnen ein anderes Regime, das sowjetische, Ähnliches vermittelt | |
hatte, als sie noch Kinder waren. Wie sie ihren Kindern nun Ähnliches | |
vermitteln. Sie haben keinen Einfluss auf Entscheidungen in der Politik, | |
sie sagen gern, sie interessierten sich gar nicht erst für Politik. Die | |
Politik aber interessiert sich für sie und formt aus ihnen eine | |
unterwürfige, indifferente Masse, die die Entscheidungen der Politik | |
mittragen soll. | |
So tragen sie mit, fotografieren die abgebrannten Panzer, das durchlöcherte | |
Metall. Auf jedem Fahrzeug klebt eine Flagge, die Umstehenden fragen zur | |
Not die patrouillierenden Soldaten, aus welchen Ländern „das beschädigte | |
Werk“ komme. „England?“ „Nein, Australien“, antwortet der Soldat und | |
rattert Maße und Schlagkraft herunter. Mehr als 30 in der Ukraine | |
„erbeutete Exemplare“ aus den USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, | |
der Türkei stehen, mit einer Erklärtafel versehen, hinter Metallzäunen. | |
„Eine große Kollektion“, jubelt die Moderatorin im [2][Staatsfernsehen]. | |
„Schau“, sagt ein Vater zu seinem Sohn, „so einen hast du in Klein zu | |
Hause“, und zeigt auf einen Panzer. | |
Ein anderes Kind läuft zu seiner Mutter. „Mama, ich habe einen Panzer aus | |
der Ukraine gesehen. Gib mir mal mein Gewehr, ich schieße ihn ab“. Er reißt | |
ihr die Plastikwaffe aus der Hand. „Unser kleiner Patriot“, sagt die | |
Großmutter daneben und lächelt. Es ist ein bizarres Schauspiel im | |
Frühlingswind, es sind Kriegsspiele der Erwachsenen, aus denen sich die | |
Kinder von heute auch später im Leben kaum werden befreien können. Das | |
lässt sich in wissenschaftlichen Untersuchungen über andere Kriege | |
nachlesen. „Russland, das ist ein Land der Sieger“, steht seit Monaten auf | |
Plakatwänden quer durch Moskau. Der „Sieg“ ist allgegenwärtig, nur weiß | |
niemand im Land, wie ein Sieg aussähe. Also führt Russland weiter Krieg, | |
das ist der eigentliche Sieg des Regimes. | |
## Viele profitieren vom Krieg | |
Am 7. Mai beginnt Putin seine fünfte Amtszeit als Präsident. Ohne den Krieg | |
in der Ukraine ist sie nicht denkbar, ist er als Präsident nicht denkbar. | |
Das gesamte System, die Politik, die Wirtschaft, ist darauf ausgerichtet. | |
Die menschenverachtende Haltung des Regimes, die keine Vielfalt duldet und | |
vollkommene Loyalität jedes Einzelnen einfordert, ist in Gesetze gegossen. | |
Jegliche öffentlich vorgetragene Kritik am Staat endet in einem Prozess und | |
damit in Bestrafung, manchmal mit Bußgeld, manchmal mit 25 Jahren Haft. Der | |
aktive Teil der Gesellschaft ist ins Exil gedrängt worden, andere sitzen in | |
U-Haft und in Strafkolonien ein, manche verzweifeln und ziehen sich in die | |
innere Emigration zurück. | |
Putin hat derweil acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes für | |
Militärausgaben vorgesehen, selbst der Internationale Währungsfonds hat die | |
Wachstumsprognose für Russland auf 3,2 Prozent für das laufende Jahr | |
korrigiert. „Wir kommen viel besser durch die schwierigen Zeiten als der | |
Westen, der uns bestrafen will“, sagt Russlands Präsident immer wieder. | |
Regionen, die in den vergangenen Jahren von der Zentralregierung finanziell | |
abhängig waren, zahlen nun teils drei Mal mehr Steuern. | |
[3][Auch wenn die Wachstumszahlen verzerrend sind, profitieren viele | |
Menschen im Land vom Krieg.] Materiell, aber auch ideell. Plötzlich ist der | |
Sohn, den alle für einen Nichtsnutz und Verbrecher hielten, ein Held. Ein | |
ganzes Dorf kommt zur Beerdigung und ehrt die Eltern. Nicht wenige können | |
sich auf einmal ein Leben leisten, von dem sie lange nur träumten: ein | |
Auto, eine Urlaubsreise, eine Hypothek für eine Wohnung in der Stadt. Wie | |
blutdurchtränkt das Geld ist, fragen sie nicht. Es ist ihr Geld und es ist | |
ihr unerschütterlicher Glaube, auf der richtigen Seite der Geschichte zu | |
stehen. | |
## Militärischer Drill schon im Kindesalter | |
Der tote Sohn, Mann, Vater – so vermittelt ihnen das Regime, unterstützt | |
vom rund um die Uhr laufenden Fernseher – sei als Held gestorben, also | |
„sinnvoll“. Zudem habe er seine „Pflicht als Mann“ erfüllt. Die | |
traditionellen Geschlechterrollen sind tief verankert in der Gesellschaft, | |
die sowjetische Gleichberechtigung auf dem Papier hin oder her. | |
Chauvinistische Einstellungen dominieren das Verständnis von Männern wie | |
Frauen. Die Geburtenrate sinkt derweil. Um die schrumpfende russische | |
Bevölkerung wieder „nachhaltig zu steigern“, fordert die Politik Frauen | |
auf, mehr Kinder zu gebären. Am besten acht pro Familie. Anfangen sollen | |
sie gleich nach der Schule, studieren könnten die Frauen auch später. Für | |
zehn geborene Kinder verleiht der Staat schon jetzt eine „Heldin | |
Mutter“-Medaille, wie zu Sowjetzeiten. | |
Die Zukunftsperspektive dieser Kinder: Militarismus. | |
[4][„Vorschulkompanien“ schon im Kindergarten, „Gespräche über Wichtige… | |
ab der ersten Klasse, wo die Schüler*innen lernen, dass es nichts | |
Wichtigeres im Leben gebe als für den Staat zu sterben, „Militärische | |
Vorbereitung“ ab der 10. Klasse, bei der sie bereits in der Schule eine Art | |
Ausbildung zum Soldaten durchlaufen.] In den Ferien locken Militärcamps, | |
Ausbilder sind nicht selten Soldaten, die vor Kurzem erst aus dem Krieg in | |
der Ukraine zurückgekehrt sind. | |
Das Groteske dabei: Der Krieg spielt im Alltag keine Rolle. Er ist für | |
viele sehr weit weg, territorial und auch im Kopf. Er darf offiziell nicht | |
einmal als solcher bezeichnet werden. „Militärische Spezialoperation“ hatte | |
ihn Putin genannt, als er seine Armee in der Ukraine einmarschieren ließ. | |
„SWO“ sagen die Russen als Abkürzung dazu, es klingt so beiläufig, bevor … | |
weitergeht in den Stau, zur Gartenarbeit, zu den Hausaufgaben der Kinder. | |
„Welche Ereignisse, über die die Medien berichten, haben in den vergangenen | |
Tagen Ihre Aufmerksamkeit erregt?“, fragte kürzlich das staatliche | |
Umfrageinstitut FOM und legte den 1.500 Befragten aus 53 russischen | |
Regionen die Antworten vor: Flut am Ural, „SWO“, Terroranschlag in der | |
Crocus City Hall, „Ereignisse im Nahen Osten“, Anderes. Knapp 50 Prozent | |
interessierten sich für keinen dieser Punkte. Eine solche Apathie lässt die | |
Menschen bereitwillig die Narrative des Staates übernehmen, macht sie | |
empathielos für jegliches Leid und damit zu – wenn auch passiven – | |
Unterstützer*innen einer Gewaltherrschaft, von der Putin nicht | |
ablässt. Weil es die Herrschaft ist, mit der er sich an der Macht hält. | |
4 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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