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# taz.de -- Journalismus in Westafrika: Die große Freiheit – vorbei
> Ein Stipendium hat Katrin Gänsler vor 16 Jahren nach Westafrika gebracht.
> Jetzt kehrt sie zurück nach Deutschland – und zieht ein Resümee.
Bild: Im Nigerdelta wird Gas abgefackelt
Eins muss auf jeden Fall mit nach Deutschland: das große Ölbild, das
jahrelang über meinem Sofa in Cotonou hing. Unzählige angedeutete Menschen
verschmelzen zu einer großen Masse. Gekauft habe ich es vor vielen Jahren
in Nigeria, Afrikas Riesenstaat mit enormem Ölreichtum, tödlichen
Konflikten zwischen Christ:innen und Muslim:innen, spannenden jungen
Autor:innen und einer völlig undurchsichtigen Politik. Die Neugierde auf
all das trieb mich 2008 zum ersten Mal nach [1][Nigeria.] Nach einem
dreimonatigen Aufenthalt dank eines Stipendiums der Heinz-Kühn-Stiftung
wusste ich: Ich kehre zurück, um zu bleiben. Daraus sind mehr als 14 Jahre
in Westafrika geworden. Ich war Korrespondentin für die taz und die
Katholische Nachrichten-Agentur, Reporterin für die Deutsche Welle und
viele andere. Zum Monatsende verlasse ich die Region und werde zukünftig
wieder in Deutschland arbeiten.
Meine Anfangszeit war geprägt von ständiger Warterei auf irgendetwas: dass
nach Tagen endlich wieder der Strom zurück ist, dass die
Einwanderungsbehörde meinen Aufenthaltstitel ausstellt, dass es an der
Tankstelle wieder Benzin gibt. In Nigeria habe ich den Begriff „fuel
scarcity“ gelernt, Treibstoffknappheit. Denn obwohl der Staat Öl
exportiert, heißt das nicht, dass es auch Benzin gibt.
Gewartet habe ich auch ungezählte Stunden in den Staus der
Millionenmetropole Lagos, zusammen mit 20 anderen Menschen in einen Danfo,
einen gelben Minibus, gequetscht. An den Busbahnhöfen im muslimisch
geprägten Norden habe ich manchmal Stunden gewartet, bis alle Plätze im
Sammeltaxi besetzt waren und es abfahren konnte. Auch wenn viele westliche
Ausländer, die dort leben, Horrorgeschichten darüber erzählt haben: Wenn
man sich traute, so zu reisen wie alle anderen auch, bedeutete Nigeria
trotz einiger organisatorischer Hürden die große Freiheit und das Land der
unendlichen Geschichten.
Das ist Vergangenheit. Vor allem hat [2][die islamistische Terrorgruppe
Boko Haram] journalistisches Arbeiten und Bewegungsfreiheit im Nordosten ab
2013 zunehmend eingeschränkt. Orte, an die ich einige Jahre zuvor noch
problemlos mit dem Auto reisen konnte, wurden unerreichbar. Das Risiko,
überfallen zu werden, war zu groß. Boko Haram hat sich zwar ebenso wie die
Splittergruppe „Islamischer Staat in der westafrikanischen Provinz“ nicht
weiter in Richtung Süden und Westen ausgebreitet. Doch längst haben
bewaffnete Banden das Entführungsbusiness übernommen und verschleppen
Menschen, um Lösegeld zu erpressen.
## Telefonrecherche funktioniert nur begrenzt
Das belastet den Alltag von Millionen Nigerianer:innen. Und auch mein
Arbeiten hat es zunehmend erschwert. Ich kann mir kein Bild mehr vor Ort
machen, Menschen treffen und ihnen zuhören. Dabei ist das in ganz
Westafrika notwendig. Anders als in Europa funktioniert die
Telefonrecherche nur sehr begrenzt. Vor allem schafft der persönliche
Kontakt auch Vertrauen.
Mit dem Gebiet, mit den Menschen, die ich erreichen kann, schrumpfte auch
die Zahl meiner Quellen. Umso wichtiger wurde es, sie verlässliche
auszuwählen und zu pflegen.
Viele Menschen wollten von ihren Erlebnissen erzählen, ganz gleich wie
grausam diese waren. Im Mai 2015 verbrachte ich ein paar Tage in Yola,
Hauptstadt des Bundesstaates Adamawa. Die katholische Kathedrale Sankt
Theresa hatte sich in ein riesiges Flüchtlingscamp verwandelt. Zwei Tage
lang hörte ich Frauen zu, die von Boko Haram entführt worden waren, die
ihre Männer verloren hatten, die nicht wussten, ob die Terrorgruppe ihre
Söhne zwangsrekrutiert hatte. Irgendwann sagte ich Lydia Lagu, die für das
Caritas-Komitee für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden (JDPC) arbeitet
und für mich übersetzte, dass ich nun genug Interviews geführt hätte. Sie
zeigte bloß auf eine Gruppe von Frauen und sagte: „Auch die möchten noch
mit dir sprechen.“ Damals habe ich verstanden, dass das Zuhören oft viel
wichtiger ist, als Fragen zu stellen.
Nicht nur in Nigeria wurde Journalismus schwierig. In Mali, Burkina Faso
und Niger ist es fast unmöglich, die Hauptstädte noch für Reportagen zu
verlassen. In allen drei Ländern verüben islamistische Milizen, die
Kontakte zu al-Quaida und dem „Islamischen Staat“ haben, Anschläge und
haben mancherorts schon vor Jahren ganze Dörfer besetzt. Und auch als
vereinzelte Reisen noch machbar waren, war schon die Organisation mit
großem Aufwand verbunden. Im Jahr 2019 musste ich tagelang in Ouagadougou,
der Hauptstadt von Burkina Faso, nach einem Leihwagen suchen. Die Sorge
vieler Besitzer, dass das Auto nicht zurückkehrt, war zu groß.
Es sind allerdings auch die Regierungen, die das Arbeiten erschweren. In
den [3][Sahelstaaten] sind Militärs an der Macht, die mehrfach europäische
Journalist:innen ausgewiesen haben. Jeder Visumsantrag ist zur
Zitterpartie geworden. In den vergangenen Jahren habe ich häufig betont,
dass ich keine Französin sei, denn die Wut richtet sich oft gegen die
einstige Kolonialmacht. Auch so gelingt es, Berichterstattung zu
verhindern. Bei solchen Hürden überlegt man sich genau, ob man den
Visumsantrag überhaupt stellt.
Dabei gilt gerade im Sahel: Vor-Ort-Berichterstattung ist wichtiger denn
je. In Pressemitteilungen schreiben die Militärjuntas gerne, dass es ihnen
wieder gelungen sei, „Terroristen zu neutralisieren“. Nie lässt sich
verlässlich prüfen, ob es sich tatsächlich um Terroristen handelt und wie
viele Zivilist:innen sie tatsächlich ermordet haben.
Meine letzte Reise hat mich nach Senegal geführt. Ich hatte wieder einmal
Reporterinnenglück und war an jenem Samstag in Dakar, [4][an dem der
frühere Präsident Macky Sall verkündete, dass die Präsidentschaftswahl
nicht wie geplant am 25. Februar stattfindet]. [5][Es folgten zehn Tage mit
Straßenprotesten, brennenden Autoreifen und dem massiven Einsatz von
Tränengas gegen die Demonstrant:innen]. In dieser Wucht habe ich das
nie zuvor erlebt. Das heißt, auch bei Ländern, die als stabil gelten und im
regionalen Vergleich eine lange demokratische Tradition haben, gilt es,
genau hinzuschauen.
All das klingt nach einem Abgesang auf Westafrika. Dauerhaft mitnehmen
werde ich allerdings die Erinnerungen an jene Menschen, die meine Arbeit
erst ermöglicht haben. So viele haben mich selbstverständlich bei der
Logistik unterstützt, mir ihre Autos geliehen, mich in ihren Wohnungen
wohnen lassen. Und vor allem haben so viele immer wieder geduldig auf meine
unzähligen Fragen geantwortet. Ohne ein solches Netzwerk ist nirgendwo auf
der Welt Berichterstattung möglich, aber schon gar nicht in Westafrika.
29 Apr 2024
## LINKS
[1] /Entfuehrung-von-Kindern-in-Nigeria/!6001582
[2] /Entfuehrung-von-Kindern-in-Nigeria/!6001582
[3] /Wagner-Nachfolger-in-Afrika/!5998414
[4] /Wahl-in-Senegal-abgesagt/!5987111
[5] /Proteste-in-Senegal/!5992439
## AUTOREN
Katrin Gänsler
## TAGS
Westafrika
Afrika
Journalismus
Lesestück Recherche und Reportage
Sklaverei
Westafrika
Senegal
Senegal
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