| # taz.de -- Nach Schraubenzieher-Attacke: Ermittler sehen Tötungsvorsatz | |
| > In einem Lokalzug nach Osnabrück wird Moussa L. rassistisch beleidigt und | |
| > dann brutal attackiert. Hier erzählt der 29-Jährige, wie er sich gewehrt | |
| > hat. | |
| Bild: Im Regionalzug von Oldenburg nach Osnabrück hat der Schwede den Senegale… | |
| Sundsvall taz | Nach dem [1][Schraubenzieher-Angriff auf einen Senegalesen] | |
| in einem Zug nach Osnabrück hat die Staatsanwaltschaft ihre Einschätzung | |
| der Tat geändert. Sie ermittelt jetzt wegen versuchter Tötung, nicht mehr | |
| wegen gefährlicher Körperverletzung. Die Ermittler kamen zu der | |
| schwerwiegenderen Bewertung, nachdem sie Videos von der Tat gesichtet | |
| hatten, wie die taz auf Nachfrage erfuhr. Das war auch der Grund, warum der | |
| Angreifer zwei Tage nach der Tat doch noch in Untersuchungshaft kam. | |
| Die taz hat mit dem attackierten Mann, dem 29-jährigen Moussa L.*, | |
| gesprochen. Körperlich gehe es ihm jeden Tag ein bisschen besser, erzählt | |
| er per Videocall. An der Schläfe hat er einen Wundverband, an der rechten | |
| Hand auch, die meisten Verbände sind unter der Kleidung verborgen. Moussa | |
| L. erzählt, wie er sich gegen die Gewaltattacke verteidigt hat. Und wie er | |
| sich Hilfe organisiert hat. | |
| Er kam an diesem Abend von Freunden in Oldenburg. Mit der Nordwestbahn | |
| zurück nach Osnabrück: Routine, eine Fahrt wie viele andere zuvor. Bis | |
| plötzlich alles anders war. Der erste Satz der Polizeimeldung klang, als | |
| seien zwei Menschen in Streit geraten: „Nach vorherigen verbalen | |
| Provokationen kam es am Dienstagabend gegen 21:40 Uhr zu einer körperlichen | |
| Auseinandersetzung von zwei Fahrgästen in einem Zug zwischen Bersenbrück | |
| und Bramsche.“ Dass ein 31-jähriger Schwede einem 29-jährigen Senegalesen | |
| „unter anderem schwere Verletzungen mit einem Schraubenzieher zufügte“, | |
| stand dort auch. Und: Zeugen hätten weitere Angriffe verhindert, bis der | |
| Zug in Bramsche halten konnte. | |
| Was Moussa L. der dort wartenden Polizei sagte, ist das, was ihn seither | |
| beschäftigt: „Wenn ich mich nicht so gut verteidigen könnte, wäre ich jetzt | |
| tot.“ [2][Er hat mal Kampfsport gemacht], lange her, noch im Senegal. Aber | |
| wichtiger sei, dass er insgesamt trainiert ist, fit und reaktionsschnell. | |
| Er ist sicher: Jemand mit weniger guten Voraussetzungen hätte keine Chance | |
| gegen den Mann gehabt, der mit dem Schraubenzieher auf ihn losging. | |
| ## Täter ritzte Nazi-Symbole | |
| „Verbale Provokationen“, ja, die gab es. Der taz hatte Oberstaatsanwalt | |
| Alexander Retemeyer, Sprecher der Staatsanwaltschaft Osnabrück, vergangenen | |
| Freitag gesagt, der Angreifer habe erst Hakenkreuze und SS-Runen in die | |
| Rückenlehnen einiger Sitze geritzt und dann den 29-Jährigen beschimpft, er | |
| solle zurück in sein Land gehen. Am Montag schrieb Retemeyer über den | |
| Schweden: „Zu seiner Motivlage können wir im Augenblick noch nichts sagen.“ | |
| Moussa L. erzählt, er habe den Mann bemerkt, der sich im Waggon umherbewegt | |
| und immer wieder zu ihm geguckt habe, während er etwas an den Sitzen | |
| gemacht habe. „Da hab ich noch gedacht, ja, solche Leute gibt es, einfach | |
| nicht beachten.“ Der Mann habe dann irgendwann in der Reihe hinter ihm | |
| gesessen und gegen seinen Sitz geschlagen. „Ich hab mich umgedreht und | |
| gesagt, er soll aufhören. Er meinte: ‚Ich bin in meinem Land, ich mach, was | |
| ich will.‘“ Darüber staunt L. jetzt besonders: „Hinterher hör’ ich ei… | |
| Er ist Schwede. Das ist doch komisch. Gott sei Dank ist er kein Deutscher, | |
| aber warum sagt der so was, in einem Land, das nicht seins ist?“ | |
| Der Schwede habe auch gesagt: „Ich bin Nazi. [3][Ausländer sollen | |
| Deutschland verlassen].“ Moussa L. habe ihm geantwortet: „Du kannst sein, | |
| was du willst, das ist dein Recht, aber wo ich sitze, schlägst du nicht auf | |
| den Sitz.“ Der Mann habe nicht aufgehört. Irgendwann hätten sie beide | |
| voreinander gestanden. Er habe noch gedacht, komisch, normalerweise wenn du | |
| so redest, bewegt sich dein ganzer Körper, aber der Mann habe seine Hände | |
| die ganze Zeit in den Jackentaschen gehabt. Dann wurde Moussa L. plötzlich | |
| klar, warum: Der Mann hat da eine Waffe. Er greift an, er sticht zu, jetzt. | |
| Zuerst in den Kopf, glaubt Moussa L. im Nachhinein. | |
| ## Angegriffener bat Zeugen um Hilfe | |
| Er erzählt, wie er den Angreifer schließlich zu Boden brachte und dort | |
| festhielt, aber mit schwindenden Kräften in den Händen – an der einen war | |
| ein kürzlich gebrochener Finger noch nicht verheilt, in die andere habe der | |
| Angreifer ihn gebissen. „Ich hab dem Zeugen Bescheid gesagt: 'Ich halt’ ihn | |
| fest, aber können Sie helfen, die Waffe wegzunehmen?’“ | |
| Dass der Zeuge nicht direkt eingegriffen habe, sei normal, er hätte ja | |
| selbst auch verletzt werden können. Aber dann, mit dem Angreifer auf dem | |
| Boden, habe der Mann geholfen, die Hand festzuhalten, die immer noch den | |
| Schraubenzieher hielt. „Ich wusste genau, ohne seine Waffe kann der nichts | |
| machen“, sagt Moussa L. über den Angreifer. „Der könnte mich nicht mit der | |
| bloßen Hand einfach schlagen, diesen Mut hat er nicht. Wenn jemand eine | |
| Waffe benutzt, dann ist das nicht mutig.“ | |
| Er erzählt auch, dass er dann, den Täter mit dem Zeugen zusammen im Griff, | |
| selbst die Polizei angerufen habe. Eine junge Zeugin habe er zudem gebeten, | |
| einen Rettungswagen zu rufen. Mehr Menschen seien in dieser Ecke des | |
| Waggons nicht gewesen. Dass seine Helfer quasi seine Hilfe brauchten – | |
| Moussa L. versteht das: „Wenn du so was in deinem Leben noch nie gesehen | |
| hast, mit so viel Blut, dann ist klar, du kriegst Panik und weiß erst | |
| nicht, was du tun sollst“, sagt er. | |
| ## Täter zunächst auf freiem Fuß | |
| Als der Zug in Bramsche hielt, seien er und der Täter getrennt gewesen, der | |
| Zugschaffner sei da gewesen – über die genaue Abfolge zum Schluss sei er | |
| nicht mehr sicher. „Ich hatte so viel Blut verloren“, sagt er, „das war | |
| überall auf meinen Pullover, auf dem Boden im Zug … Ich weiß nicht, wer das | |
| reinigen musste, aber das war viel Arbeit.“ | |
| Auch der Täter war verletzt und wurde in ein Krankenhaus gebracht. | |
| Verhaftet wurde er zunächst nicht. In der Polizeimeldung zwei Tage später | |
| wirkt es, als sei Fluchtgefahr der Grund dafür gewesen, dass er schließlich | |
| doch in Untersuchungshaft kam. Der Schwede lebte nicht mehr unter der | |
| angegebenen Osnabrücker Meldeadresse. Nur: Den zusätzlichen Haftgrund | |
| brauchte es da schon nicht mehr, denn die Staatsanwaltschaft ermittelte | |
| bereits wegen versuchter Tötung, wie Oberstaatsanwalt Retemeyer der taz | |
| schriftlich mitteilte. | |
| Dass das Videomaterial aus der Überwachungskamera ausgewertet wird, habe | |
| der für den Staatsschutz zuständige Dezernent veranlasst. „Danach stellte | |
| sich der Überfall sehr brutal dar“, so Retemeyer. „Wir haben uns deshalb | |
| entschlossen, ihn nunmehr nach Vorliegen der Aktenlage als versuchtes | |
| Tötungsdelikt einzuordnen.“ | |
| ## Teil einer „extremen“ Szene | |
| Dass dies anfangs anders bewertet wurde, erklärt er damit, dass die Lage | |
| „unmittelbar nach der Tat relativ unübersichtlich gewesen“ sei. Moussa L. | |
| merkte das daran, dass er und der Täter zunächst beide am Bahnhof auf dem | |
| Boden liegen mussten, wie er berichtet. „Die Polizei wusste nicht genau, | |
| wer ist der Täter und wer ist das Opfer. Aber der Zeuge hat gleich gesagt, | |
| wer der Täter ist, dann hab ich meine Erste Hilfe bekommen“, sagt er. | |
| Auf die Frage, [4][ob der Täter in eine rechtsextreme Szene eingebunden | |
| sei], ließ der Oberstaatsanwalt wissen: „Wahrscheinlich ist er seit | |
| Längerem in eine extreme Szene verwickelt, deren genaue Typisierung ich aus | |
| Gründen der laufenden Ermittlungen nicht mitteilen kann.“ | |
| Moussa L. versucht weiter, sich zu erholen, zur Ruhe zu kommen. Seine | |
| Wunden werden ambulant versorgt. Aber nach einer Woche, in der es um nichts | |
| anderes ging, sagt er: „Ich will diese Geschichte einfach hinter mir | |
| haben.“ Er hofft, dass er bald zurück zur Arbeit kann. Das Warten auf den | |
| Prozess wird länger dauern. „Mindestens vier Monate“, so lange braucht die | |
| Staatsanwaltschaft laut Retemeyer zur Vorbereitung der Anklage gegen den | |
| beschuldigten Schweden. Der dürfte ihm zufolge bis dahin in | |
| Untersuchungshaft bleiben. | |
| * Zum Schutz des Betroffenen haben wir den Namen geändert. Seine Identität | |
| ist der Autorin seit Langem bekannt. | |
| 24 Apr 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anne Diekhoff | |
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