# taz.de -- Situation in Gaza im Nahostkrieg: Kein Ort zum Leben | |
> In Gaza kommen wieder mehr Hilfsgüter an. Sonst bleibt den Menschen kaum | |
> Hoffnung. Viele wollen ausreisen, müssen dafür aber sehr viel Geld | |
> zahlen. | |
Bild: Die israelischen Bodentruppen sind weg, die Stadt ist größtenteils zers… | |
Es gibt sie wieder. Bananen. Gurken. Hühnchen. Auf den Märkten in Gaza | |
liegen frische Lebensmittel aus, zumindest vorläufig. Seit einigen Tagen | |
kommen bedeutend mehr Hilfslieferungen in den Gazastreifen, und auch wenn | |
die UN und Israel sich in den genauen Zahlen der einfahrenden Lastwagen | |
nicht einig sind, steht fest: Der Effekt ist unter der Bevölkerung zu | |
spüren. | |
Zwar liegen die Preise weiterhin bei einem Vielfachen des Vorkriegspreises, | |
doch sie sinken wieder: Kostete ein Kilo Bananen in der vergangenen Woche | |
noch mehr als umgerechnet 10 Euro, sind es nun rund 6 Euro. | |
„Ich hoffe, es geht so weiter“, sagt Bashir al-Ankah, der mit seiner | |
Familie aus dem Norden Gazas nach Deir al-Balah geflohen ist, am Telefon. | |
Chris Whitman von der Menschenrechtsorganisation Medico, der von Ramallah | |
aus in Kontakt mit seinen Partnerorganisationen im Gazastreifen steht, | |
betont, es sei zu früh für eine Entwarnung: „Noch immer hungern viele | |
Menschen in Gaza“, so Whitman, „Was dort benötigt wird, ist ein beständig… | |
und nachhaltiges Hilfsprogramm, das nicht von Israel behindert oder | |
kontrolliert wird.“ | |
Menschenrechts-NGOs [1][warnen seit Monaten vor einer Hungersnot in Gaza]. | |
Die Zahlen des IPC, des international anerkannten Instruments zur | |
Feststellung von Hungerkrisen, vom März 2024 sagen: 1,5 Millionen Menschen | |
befinden sich in den höchsten zwei Stufen des Warnsystems für die | |
Hungersnot – besonders viele sind es im Norden von Gaza, wohin Israel bis | |
vor wenigen Tagen nur wenige Lastwagen mit humanitärer Hilfe passieren | |
ließ. Vor allem unter kleineren Kindern gab es bereits einige Hungertote. | |
Der Umschwung in der israelischen Politik zur Versorgung des Gazastreifens | |
mit Hilfslieferungen kam auf Druck aus dem Weißen Haus, nachdem sieben | |
Mitarbeiter*innen der Hilfsorganisation World Central Kitchen | |
[2][durch israelisches Feuer getötet wurden]. In einem angespannten | |
Telefongespräch erklärte US-Präsident Joe Biden dem israelischen | |
Premierminister Benjamin Netanjahu, dass Israel sofortige Maßnahmen | |
ergreifen müsse, um das Leben von Zivilist*innen zu schützen und die | |
Einfuhr von Lebensmitteln in den Gazastreifen zu ermöglichen. | |
Seitdem rollen also die Lastwagen, 95 Prozent kommen über den südlichen | |
Grenzübergang. Der erste Halt ist damit die Stadt Rafah, in der rund | |
eineinhalb Millionen Menschen, drei Viertel der Bevölkerung von Gaza, | |
Zuflucht suchen und auf engstem Raum gedrängt leben. | |
Viele der Hilfslieferungen, die für den nördlichen Gazastreifen bestimmt | |
waren, hat das israelische Militär in den vergangenen Wochen nicht | |
passieren lassen. Seit einigen Tagen kommen jedoch auch Hilfslieferungen | |
von einem neu eingerichteten Übergang aus in den Norden Gazas. Chris | |
Whitman von Medico fürchtet jedoch, dass die Lieferungen schleichend wieder | |
verringert werden könnten und in einigen Wochen der gleiche Zustand | |
herrschen könnte wie im März. | |
## Deal über eine Feuerpause | |
Die größte Unsicherheit, die die Menschen in Gaza derzeit umtreibt, ist die | |
Frage, ob es zu einer israelischen Militäroffensive in Rafah kommen wird | |
oder nicht. Der Rückzug eines großen Teiles der Bodentruppen hat einerseits | |
Hoffnungen geweckt, dass ein Ende des Krieges bevorsteht oder zumindest ein | |
Deal über eine Feuerpause, die in einen Waffenstillstand übergehen könnte. | |
Andererseits wissen die Gazaner:innen um Israels Versicherung, dass der | |
Rückzug lediglich einer Neuorganisierung der Truppen diene. | |
Seitdem kommen widersprüchliche Nachrichten: Benjamin Netanjahu verkündete | |
in einer Videobotschaft, der Termin für eine Offensive in Rafah stehe fest. | |
Das israelische Militär vermutet, dass vier Bataillone der Hamas in der | |
südlichen Stadt stationiert sind und sich Hamas-Anführer dort versteckt | |
halten. | |
Möglicherweise werden auch einige der israelischen Geiseln dort | |
festgehalten. Doch kurz nach Netanjahus Ankündigung widersprach | |
Verteidigungsminister Joaw Gallant: Ein Termin stehe nicht fest. | |
International werden die Warnungen vor einer Offensive in Rafah immer | |
lauter. Besonders bedeutend für den weiteren Verlauf des Krieges dürfte der | |
Konflikt zwischen US-Präsident Biden und Netanjahu sein, der zunehmend | |
öffentlich ausgetragen wird. Das Weiße Haus ist entschieden gegen eine | |
breite Offensive in Rafah. Der israelische Evakuierungsplan sei nicht | |
durchführbar. | |
Währenddessen zogen kurz nach dem israelischen Abzug Tausende von Rafah | |
zurück in ihre Heimatstadt Chan Junis. Denn aus der südlich gelegenen Stadt | |
zog das israelische Militär komplett ab. Die Truppen, die noch im | |
Gazastreifen verbleiben, sichern nun vor allem die Trennung des | |
Gazastreifens in ein nördliches und ein südliches Gebiet ab. | |
Die Rückkehr nach Chan Junis diente den meisten Menschen dazu, nach ihren | |
Häusern zu sehen. Für viele war das, was sie sahen, ein Schock: Rund 55 | |
Prozent der Gebäude – insgesamt rund 45.000 – sollen entweder schwer | |
beschädigt oder völlig zerstört sein, so zeigen es nach Angaben der | |
Kartierungsexpert:innen Corey Scher und Jamon Van Den Hoek | |
Satellitenbilder, mit denen die beiden die Zerstörung seit Beginn des | |
Krieges nachverfolgen. | |
## Das Geschäft mit der Flucht | |
Auch Teile von ziviler Infrastruktur wie Wasserleitungen sind demnach | |
unbrauchbar gemacht. „Auf der Suche nach einem Unterschlupf ziehen einige, | |
die ihr Haus verloren haben, vorläufig in derzeit unbewohnte Häuser ein, | |
die nicht ihnen gehören“, berichtet Whitman. Ob die Situation in Chan Junis | |
so ist, dass die Rückkehrer*innen in ihrer Heimatstadt bleiben und dort | |
leben können, bleibe abzuwarten. | |
Nach wie vor ist das erklärte Ziel der allermeisten Gazaner:innen, das | |
Kriegsgebiet so schnell wie irgend möglich zu verlassen. Zwar sind die | |
Grenzübergänge sowohl nach Israel als auch nach Ägypten geschlossen, aber | |
wer genug Geld auftreiben kann, den setzt verschiedenen Medienberichten | |
zufolge eine Reiseagentur aus Kairo – Anbieter ist die Reiseagentur Hala | |
Consulting and Tourism Service – auf eine Liste und ermöglicht so am Ende | |
allen geschlossenen Grenzen zum Trotz doch die Ausreise nach Ägypten. | |
„Koordinationsgebühren“ heißen die zu zahlenden Gelder in der ägyptischen | |
Bürokratie. Und die sind horrend. Pro Person sind es zwischen 5.000 und | |
6.000 Dollar, die die Menschen aufbringen müssen, um auf die Liste zu | |
kommen. Wenn es besonders schnell gehen soll, kommen noch einige tausend | |
Dollar hinzu. | |
Viele derjenigen, die den Gazastreifen verlassen wollen, [3][versuchen über | |
Crowdfunding-Plattformen an das benötigte Geld zu kommen]. Meist geschieht | |
das über die amerikanische Crowdfunding-Plattform gofundme. An sie fließen | |
pro Spende jeweils 2,9 Prozent des Betrags. | |
Wer das Geld nicht zusammentreiben kann, harrt in Rafah aus, so wie | |
beispielsweise Mohammed Mousa. Seine Frau und seine vier Kinder sind | |
mittlerweile in Kairo. Für ihn hat das Geld vorerst nicht gereicht. „Ich | |
bete jeden Tag, dass ich hier vor einer Militäroffensive herauskomme und zu | |
meiner Familie kann“, schreibt er und fügt hinzu: „Ich kann nicht aufhören | |
zu weinen.“ | |
Nach wie vor können internationale Journalist:innen nicht nach Gaza | |
reisen, um sich selbst ein Bild von der Situation dort zu machen – | |
abgesehen von einzelnen vom israelischen Militär organisierten Fahrten in | |
das Kriegsgebiet. In [4][unserer Kolumne „Gaza-Tagebuch“] holen wir | |
deswegen Stimmen aus dem Gazastreifen ein, um dennoch möglichst nah | |
heranzukommen. Teils schreiben die Autor:innen ihre Geschichten selbst, | |
teils entstehen die Protokolle auf der Basis von Telefoninterviews. | |
14 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /UN-Standards-fuer-Ernaehrungssicherheit/!5996321 | |
[2] /Angriff-auf-Hilfskonvoi-in-Gaza/!6000135 | |
[3] /Crowdfunding-fuer-Flucht-aus-Gaza/!5994610 | |
[4] /Kolumne-Gaza-Tagebuch/!t5999816 | |
## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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