Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Tödlicher Polizeieinsatz in Nienburg: Bei Notruf Todesschuss
> Am Karsamstag erschoss die Polizei einen 46-jährigen Gambier. Die
> Schilderungen mehrerer Augenzeug*innen und ein Video werfen Fragen
> auf.
Bild: Viele offene Fragen: Mitarbeiter der Spurensicherung am Tatort in Nienburg
Nienburg taz | Eine Gruppe Polizist*innen steht hinter einem Gartenzaun
in der Friedrichstraße, nahe dem Nienburger Bahnhof. Ein Hund bellt. Auf
einmal taumelt ein Mann nach vorn und wedelt mit einem Messer, das im Video
nur als ein Haufen Pixel zu erkennen ist. Zwei Schüsse fallen. Der Mann
kauert sich zusammen, steht und blickt sich um. Das Bild schwankt. Dann
sind weitere fünf Schüsse zu hören und der Mann kollabiert. Nach einer
kurzen Pause fällt ein weiterer, zeitlich abgesetzter Schuss.
Diese Szene zeigt ein [1][Handyvideo, das auf Social Media viral gegangen
ist] und der taz im Original vorliegt. Es sind die letzten Sekunden im
Leben des 46-Jährigen Gambiers Lamin Touray, der vor Ort an den
Schusswunden starb.
Wie die „Tagesschau“ berichtet, trafen ihn laut Obduktionsbericht acht
Schüsse, zwei davon tödlich. Eine Polizistin wird bei dem Einsatz durch
eine [2][Polizeikugel] im Bein schwer verletzt. Drei Tage nach den
Ereignissen sind viele Fragen offen. Wie kam es zu der Situation, warum
lief diese so aus dem Ruder und waren die Schüsse Notwehr?
Gegen die 14 eingesetzten Beamt*innen wird wegen Totschlags und
gefährlicher Körperverletzung ermittelt. Zuständig sind das angrenzende
Polizeirevier und die Staatsanwaltschaft Verden. Nach Darstellung der
Staatsanwaltschaft Verden zeigt das Video in den sozialen Medien einen
zeitlich und optisch stark verkürzten Ausschnitt des Polizeieinsatzes.
Bodycam-Aufnahmen der Polizist*innen würden ausgewertet.
## Zeugen erschüttert
Einer, der etwas Licht ins Dunkel bringen kann, ist Omar T., ein Freund des
Getöteten, der ebenfalls aus Gambia stammt. Omar T. wurde Augenzeuge des
tödlichen Einsatzes. Mit ernster Miene blickt er über den Ort des
Geschehens. An der Straße haben Anwohner*innen eine kleine Gedenkstätte
eingerichtet. Im Zaun sind Einschusslöcher zu sehen.
„Bis jetzt kann ich nicht glauben, was geschehen ist“, sagt Omar T. Er und
die Freundin des Getöteten, die anonym bleiben will, deren Personalien der
taz aber bekannt sind, hätten die Polizei eigentlich gerufen, weil sich
Touray in einem psychischen Ausnahmezustand befunden habe, erinnert sich T.
„Wir wollten ihm helfen“, sagt Tourays Freundin, die nicht in Nienburg
lebt, am Telefon.
Seit mehreren Tagen sei es Touray schlecht gegangen, erzählt sie. Erst vor
Kurzem habe er eine Kündigung erhalten. Und am 28. März wurde er im
Regionalzug Metronom ohne Ticket kontrolliert. Die Bundespolizei nahm ihn
in Hamburg-Harburg wegen Fahrens ohne Fahrschein, Bedrohung, tätlichen
Angriffs und Widerstands in Gewahrsam. Dabei soll er drei Polizisten
verletzt haben. Das Amtsgericht Hamburg prüfte einen Haftbefehl und stellte
fest, es liege keine Fluchtgefahr vor.
## Von Notrufnummer zu Notrufnummer
Mit Schürfwunden und entstellt sei er danach bei ihr angekommen, erinnert
sich seine Freundin. Er habe neben sich gestanden und wirre Dinge geredet,
erzählt sie. Um zur Ruhe zu kommen, fuhr Touray am Freitag zu seiner
Wohnung in Nienburg. Nachdem er nicht auf Anrufe reagiert habe, sei sie am
Freitagabend zu ihm gefahren. Er habe keine Hilfe gewollt, erzählt die
Freundin. Aus Sorge, dass dessen [3][psychischer Zustand] eine Gefahr für
ihn selbst sein könnte, wählte sie den Notruf.
Mit vor Wut bebender Stimme erinnert sie sich, dass man sie nur von
Notrufnummer zu Notrufnummer verwiesen habe. Schließlich sei ein
Rettungswagen eingetroffen. Die Sanitäter*innen hätten gesagt, unter
den von ihr geschilderten Umständen müsse die Polizei den Einsatz
unterstützen, die habe aber zu tun und so lange könnten sie nicht warten.
Die Sanitäter*innen seien wieder weggefahren. Eine ganze Weile später
sei eine Streife eingetroffen. Touray habe auf mehrfaches Klingeln hin die
Tür nicht geöffnet, daraufhin habe die Polizei gesagt, man werde am Morgen
wiederkommen.
Am nächsten Tag habe sie selbst nach ihm sehen wollen, erzählt Tourays
Freundin. Gemeinsam mit Omar T. fuhr sie zur Wohnung. Touray habe erneut
keine Hilfe gewollt und weiterhin wirre Dinge geredet. Sie habe vor der Tür
eine Zigarette geraucht, als Touray herausgekommen sei und sie und Omar T.
beleidigt habe. Anders als von der Polizei später dargestellt, habe er sie
nicht mit einem Messer bedroht, sagen die Frau und auch Omar T. unabhängig
voneinander.
Zahlreiche Medien übernahmen die Darstellung der Polizei. Sie habe
verzweifelt erneut den Notruf gewählt und um Hilfe gebeten, berichtet die
Freundin. Statt eines Krankenwagens kamen mehrere Polizist*innen. Als die
eintrafen, zückte der Gambier das Messer. Sie habe ihre Hilfe angeboten und
gesagt, sie könne ihn zur Aufgabe bewegen, erinnert sich die Frau.
Das habe die Polizei nicht zugelassen und angekündigt, einen Polizeihund
einzusetzen. Danach habe sie die Schüsse gehört, sagt sie und bricht in
Tränen aus. „Statt zu helfen, haben sie ihn wie ein Tier im Wald
erschossen“, so Tourays Freundin. Anschließend habe man sie wie eine
Verbrecherin behandelt, sie mit auf das Polizeirevier genommen und nicht
einmal allein auf die Toilette gelassen. Überprüfen lässt sich das nicht.
## Nackte Leiche ohne Sichtschutz
Vor Ort sei die Spurensicherung tätig gewesen, erzählt eine Nachbarin, die
sichtlich geschockt ist und anonym bleiben will. Stundenlang habe die
nackte Leiche ohne Sichtschutz auf der Terrasse gelegen. Ihre Kinder hätten
die Szenerie gesehen und seien zutiefst verstört. „Mit Menschenwürde oder
auch nur Respekt vor Toten hatte das nichts zu tun“, sagt die Nachbarin.
Die Mutter von Touray ist nun nach Deutschland gereist, um ihren Sohn
abzuholen. „Ich wünsche mir nichts als Gerechtigkeit“, sagt Tourays
Freundin. Das Geschehen habe sie geschockt, denn sie hätten eine
harmonische Beziehung geführt. Sie will sich anwaltliche Unterstützung
suchen, um den Fall aufzuklären.
Auch Omar T. wünscht sich eine gründliche Untersuchung, denn die Polizei
habe unprofessionell agiert. Gemeinsam mit Aktivist*innen aus der
gambischen Community denken sie über eine Demonstration nach.
[4][Immer wieder erschießen Polizist*innen Menschen in psychischen
Ausnahmezuständen]. Der „Tagesschau“ sagte der Polizeiwissenschaftler
Thomas Feltes, drei Viertel der durch Polizeikugeln Getöteten der
vergangenen Jahre seien psychisch krank gewesen. Oft landen die
Ermittlungen bei den Akten und es heißt, es habe keine andere Möglichkeit
als zu schießen gegeben.
Die Staatsanwaltschaft Verden erklärte, die Ermittlungen dauerten an. Ob
Rechtfertigungsgründe für den Schusswaffeneinsatz vorlägen, könne erst nach
Abschluss eingeschätzt werden.
3 Apr 2024
## LINKS
[1] https://twitter.com/RefugeesinLibya/status/1774717070258671882
[2] /Prozess-zu-toedlichen-Polizeischuessen/!5977944
[3] /Polizeiexperte-ueber-Umgang-mit-psychisch-Kranken/!5880681
[4] /Gewalt-durch-Beamtinnen/!5905732
## AUTOREN
Michael Trammer
## TAGS
Polizei Niedersachsen
Niedersachsen
Messerattacke
Polizei
IG
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Sucht
Polizei Schleswig-Holstein
Messerangriff
## ARTIKEL ZUM THEMA
Tödliche Polizeischüsse in Nienburg: Wegen rechter Posts außer Dienst
taz-Recherchen führen zu dienstrechtlicher Ermittlung gegen einen
Diensthundeführer der Polizei, der am tödlichen Einsatz in Nienburg
beteiligt war.
Tödliche Polizeischüsse in Nienburg: Zweifel an rechter Gesinnung
Bodycam-Aufnahmen zeigen, dass die Schüsse in Nienburg nach dem Einsatz
eines Diensthundes fielen. Hundeführer postet im Netz extrem rechte
Inhalte.
Prozess um Messerattacke von Brokstedt: Attentäter wollte eine Therapie
Ein Ausländerberater des Gefängnisses sagt, der Angeklagte habe um eine
Drogentherapie gebeten. Laut Justizbehörde ist das in U-Haft nicht planbar.
Messerattacke von Brokstedt: Schwarz-Grün will Abschieben lernen
Schleswig-Holstein will Lehren aus der Attacke von Ibrahim A. ziehen.
Darüber diskutierte der Landtag auch mit Hamburger Abschiebe-Experten.
Zwei Tote in Zug nahe Brokstedt: Anklage wegen Messerangriff
Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen Ibrahim A.. Ihm wird
vorgeworfen, Anfang 2023 zwei Personen in einem Zug nahe Brokstedt
erstochen zu haben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.