# taz.de -- Polizeiexperte über Umgang mit psychisch Kranken: „Eine fatale F… | |
> Martin Thüne ist Polizeiwissenschaftler in Thüringen. Dort forscht er zum | |
> Umgang der Polizei mit psychisch Kranken. | |
Bild: Weiterbildungsstätte der Polizei in Selm, NRW | |
taz: Herr Thüne, immer wieder kommen Menschen in psychischen | |
Ausnahmesituationen bei Polizeieinsätzen ums Leben. Im August gleich | |
zweimal innerhalb einer Woche, in Köln [1][und in Dortmund], [2][Anfang | |
September in Leipzig]. Ist die Polizei ausreichend ausgebildet, um mit | |
psychisch kranken Menschen umzugehen? | |
Martin Thüne: Es gibt nach wie vor Bereiche in der Polizei, in denen der | |
Umgang mit Menschen, die sich in einer akuten psychischen Notsituation | |
befinden, keine oder nur eine geringe Rolle in der Aus- und insbesondere in | |
der Fortbildung spielt. Das ist aber von Bundesland zu Bundesland sehr | |
unterschiedlich. Da sind wir schon bei einem Teil des Problems: Wir haben | |
keine gute Übersicht, wo dazu was konkret vermittelt wird. | |
Das ist ein erhebliches Problem, weil das ein Thema ist, mit dem die | |
Polizei regelmäßig zu tun hat. Einsätze mit psychisch Kranken werden von | |
Polizist:innen als belastend und schwierig empfunden, weil diese | |
Einsätze häufig länger dauern, weil sie kompliziert sind und weil sie | |
gefährlich sein können. Beispiele zeigen immer wieder deutlich, dass es | |
dabei manchmal um Leben und Tod geht. | |
Wie oft sind psychisch kranke Menschen in tödliche Polizeieinsätze | |
verwickelt? | |
Es gibt keine absolut verlässlichen Zahlen, sondern nur Näherungswerte. | |
Aber man kann davon ausgehen, dass bei einem Großteil der Einsätze, in | |
deren Verlauf von der Polizei Schusswaffen eingesetzt werden und aus denen | |
schwere oder tödliche Verletzungen resultieren, Menschen mit psychischen | |
Störungen involviert sind. Gleiches gilt für Einsätze, bei denen Beamte und | |
Beamtinnen erheblich bedroht oder verletzt werden. Bis heute ist dieses | |
Wissen aber gar nicht richtig verbreitet, weder in Gesellschaft und Politik | |
noch in der Polizei – weil man sich zu wenig damit auseinandersetzt. | |
Welchen Stellenwert hat das Thema in der Ausbildung? | |
Ob das überhaupt thematisiert wird, hängt meiner Erfahrung nach oft von | |
einzelnen Dozent:innen ab, die sich für das Thema interessieren und es | |
in ihre Seminare aufnehmen. Ich höre mich regelmäßig bundesweit um und kann | |
leider keine Struktur oder übergreifende Systematik erkennen. Auch bei der | |
Ausbildung von Führungskräften taucht der professionelle Umgang mit solchen | |
spezifischen Situationen, in denen psychische Erkrankungen eine Rolle | |
spielen, so gut wie nicht auf. | |
Wieso ändert sich das nicht, wenn der Umgang mit psychisch Kranken so | |
schwierig und belastend ist? | |
Im Nachgang zu solchen Fällen wie zum Beispiel in Dortmund werden die | |
Innenminister und Polizeipräsidien immer gefragt: „Machen Sie denn | |
diesbezüglich was?“ Da kommt dann häufig die Antwort: „Ja, natürlich, das | |
ist Teil des Einsatztrainings und der Schießausbildung.“ Das stimmt zwar, | |
aber nur bei oberflächlicher Betrachtung. Es geht darum, sich ausdrücklich | |
mit psychischen Störungen auseinanderzusetzen. Über welche Störungen | |
sprechen wir da – und über welche eher nicht? Welchen Krankheiten begegnet | |
man im Rahmen der klassischen Polizeiarbeit besonders häufig? Habe ich „als | |
Laie“ eine Chance zu erkennen, dass jemand gerade einen psychotischen Schub | |
hat, und wenn ja, woran erkennt man das? Wann lohnt es sich abzuwarten und | |
wann muss ich eingreifen? Diese speziellen Aspekte stehen in der | |
polizeilichen Aus- und Fortbildung viel zu selten im Programm. | |
Bietet die Polizei Fortbildungen an? | |
Das ist gar nicht so einfach. Während es im Bereich der Ausbildung gerade | |
in den letzten Jahren Fortschritte gibt, muss man sich vergegenwärtigen, | |
dass der zahlenmäßig viel größere Teil der Polizisten fertig ausgebildet im | |
Dienst ist. Da sprechen wir schätzungsweise von einer sechsstelligen Zahl | |
an Beamten bundesweit, die in großen Teilen „nachgeschult“ werden müssten. | |
Das ist ein erheblicher Personal- und Kostenaufwand. Ich bezweifle schwer, | |
dass die Ressourcen dafür bereitgestellt werden. Auch deshalb, weil man | |
sich der Relevanz dieses Themas oft nicht bewusst ist. Das ist eine fatale | |
Fehleinschätzung, gerade auch mit Blick auf die Einsatzkräfte selbst. Die | |
Fortbildungen, die angeboten werden, gehen oft auf „privates Engagement“ | |
der Lehrkräfte zurück. So ist es in meinem Fall zunächst auch gewesen. | |
Wer sitzt da in den Workshops? | |
Das ist die gesamte Bandbreite von Polizist:innen. Angefangen bei | |
Auszubildenden und Studierenden über Beamt:innen aus dem Streifendienst | |
bis zur Bereitschaftspolizei. In diesem Jahr sind wir schon mehrmals mit | |
Spezialeinheiten zusammengekommen, weil sie ernsthaftes Interesse am Thema | |
signalisiert haben. Traditionell ist es bisher so gewesen, dass sich | |
Spezialkräfte vor allem an den Taktiken anderer Spezialeinheiten aus dem | |
In- und Ausland orientierten. Sich Leute von außen reinzuholen, wie in | |
unserem Fall eine klinisch tätige Psychiaterin, ist eher nicht die Regel, | |
aber in diesem Fall eben eine deutlich positive Entwicklung. Wenn ich mit | |
Kolleg:innen darüber diskutiere, ob so eine Fortbildung sinnvoll ist, | |
wird allerdings immer wieder die Frage gestellt: „Wieso ist das notwendig? | |
Das sind doch Spezialeinheiten, die müssen vor allem zupacken.“ Dabei | |
müssten alle Beamt:innen ein gewisses Grundwissen in diesem Bereich | |
haben. | |
Mit welchen psychischen Krankheiten kommen Polizist:innen besonders | |
häufig in Kontakt? | |
Das sind schizophrene Erkrankungen, die in ganz verschiedenen Formen | |
auftreten. Ein zweiter Bereich sind dissoziative Erkrankungen, die sehr | |
unterschiedlich sein können. Dann depressive Erkrankungen, wobei es da in | |
unseren Seminaren nicht primär um Gewalt gegen andere geht, sondern um | |
suizidale Syndrome. Dazu kommen Zustände, die durch Alkohol- und | |
Drogenkonsum ausgelöst werden. Und abschließend Demenzerkrankungen. Was uns | |
sehr wichtig ist: Wir wollen in der Fortbildung keine Stereotype befeuern. | |
Wir sprechen auch darüber, dass solche Krankheiten jeden treffen können und | |
längst nicht alle Leute, die an diesen Krankheitsformen leiden, automatisch | |
gefährlich sind. Bei alledem machen wir immer klar: Wir können und wollen | |
Polizeibeamte nicht zu Psychiater:innen ausbilden. | |
Wie soll ein:e Polizist:in ohne Psychologiestudium erkennen, ob sich | |
eine Person gerade in einer psychischen Ausnahmesituation befindet? | |
Das kommt auf die Krankheit an und kann nicht in zwei Sätzen erklärt | |
werden. In unseren Seminaren nehmen wir uns dafür einige Stunden Zeit. Ein | |
wichtiger Anhaltspunkt ist, wie eine Person kommuniziert. Ist die Sprache | |
verwaschen und sind die Inhalte zusammenhangslos? Werden Wahnvorstellungen | |
geäußert? Hört die Person etwa Stimmen und vermeintliche Eingebungen? | |
Daneben gibt es körperliche und motorische Merkmale: Steht jemand etwa | |
„unnormal“ verkrampft da, also hoch angespannt und zugleich wie auf der | |
Stelle fixiert? Das sind, grob heruntergebrochen, einige Warnsignale, die | |
darauf hindeuten können, dass eine Situation sehr schnell kippen kann. | |
Immer wieder wird [3][der Einsatz von Pfefferspray kritisiert]. | |
Wenn ich erkenne, dass es sich um eine Person mit psychischer Erkrankung | |
handelt, sollte niemals Pfefferspray eingesetzt werden. Das ist ein | |
absolutes No-Go. Zum einen wirkt das Pfefferspray häufig nicht, weil das | |
Schmerzempfinden der Menschen in einer solchen Ausnahmesituation gedämpft | |
ist, oft durch den Konsum von Medikamenten oder sonstigen Substanzen. Zum | |
anderen wird der Einsatz von Pfefferspray besonders von psychotischen | |
Personen regelmäßig als aktiver Angriff interpretiert. | |
Man muss sich das so vorstellen: Diese Menschen haben währenddessen teils | |
eine völlig andere Wahrnehmung. Sie fühlen sich möglicherweise in ihrem | |
Leben bedroht. Und da kommt dann jemand, der irgendetwas auf sie sprüht | |
oder der aktiv auf sie zugeht. Das kann als lebensbedrohliche Geste | |
interpretiert werden. Dann kann es passieren, dass die Person wegen des | |
Einsatzes von Pfefferspray urplötzlich losrennt und zum Angriff übergeht, | |
möglicherweise mit einem Messer. Ich wusste früher auch nicht, dass | |
Pfefferspray die Einsätze in diesem speziellen Kontext auch für die | |
Polizist:innen selbst gefährlicher macht. In der Ausbildung zum | |
Streifenpolizisten lernt man das in der Regel nicht. | |
Stoßen Ihre Schulungen auch auf Kritik? | |
Wenn ich mit dem Thema um die Ecke komme, dann gibt es oft erst mal tausend | |
Bedenken. Ein beliebtes Argument der Kritiker ist: Das kann man „vom | |
Schreibtisch aus“ ja immer schlau erklären, aber wie soll das denn ein | |
Beamter oder eine Beamtin im Einsatz in fünf Sekunden erkennen? Das kann ja | |
auch kein Psychiater. | |
Was antworten Sie dann? | |
Erstens sage ich dann, dass das [4][kein Schreibtischthema] ist. Es ist | |
hochrelevant, wie zahlreiche Einsätze zeigen. Zudem bin ich selbst während | |
meiner Zeit im Einsatz- und Streifendienst auf das Thema aufmerksam | |
geworden und nicht aus dem vermeintlichen Elfenbeinturm heraus. Mir wurde | |
bewusst, dass meine Kolleg:innen und ich zu zahlreichen Themen aus- und | |
fortgebildet wurden, aber ausgerechnet zu diesem nicht – obwohl man damit | |
ständig zu hat. Häufig ist es eben nicht so, dass man innerhalb von | |
Sekunden eine Entscheidung treffen muss. Oft kommt der Notruf schon aus | |
einer Einrichtung für Menschen mit psychischen Erkrankungen, man kennt die | |
Umstände grob oder es gibt bereits am Notruf klare Hinweise auf | |
entsprechende Hintergründe. | |
Es ist eher die Ausnahme, dass der Streifendienst in der Fußgängerzone | |
spontan auf eine Person trifft, die sich beispielsweise umbringen will. Es | |
bietet sich also an, schon beim Notruf genau hinzuhören: Was wird da | |
gesagt? Und anschließend zu prüfen, ob man die Person schon im System hat, | |
vielleicht sogar die konkrete Störungsform aus vorangegangenen Einsätzen | |
kennt. Das wird häufig nicht gemacht. Das ist schade, weil sich die | |
Beamtinnen und Beamten so oft unvorbereitet in schwierige Situationen | |
begeben, obwohl sie auf mehr Informationen hätten zugreifen können. Mit zu | |
viel Aktionismus, zu schnellem Agieren, vor allem unstrukturiertem | |
Agieren, bringt man die Situation eher zum Entgleisen. | |
Gibt es andere Staaten, von denen sich die deutsche Polizei etwas abschauen | |
kann? | |
Wenn irgendwo hingeschaut wird, dann gerne in die USA. Dort sind aber | |
nahezu alle Indizes schlechter, was die Kriminalität und die Polizeiarbeit | |
betrifft. Wir sollten uns in Deutschland noch stärker als bisher zu einer | |
Polizeiphilosophie hinwenden, die kommunikativ und deeskalierend ist und | |
bei der man regelmäßig die Expertise anderer Professionen einbezieht. | |
13 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Toedliche-Polizeischuesse-in-Dortmund/!5878839 | |
[2] /Hausdurchsuchung-in-Leipzig/!5880888 | |
[3] /Polizeigewalt-in-Deutschland/!5871525 | |
[4] /Polizeigeschichte-und-NS-Aufarbeitung/!5488166 | |
## AUTOREN | |
Aaron Wörz | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Polizeigewalt | |
Tödliche Polizeischüsse | |
Psychische Erkrankungen | |
GNS | |
IG | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Demonstration | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Erschossener 16-Jähriger in Dortmund: Hausdurchsuchungen bei Polizisten | |
In die Ermittlungen zum erschossenen 16-Jährigen kommt Bewegung. Die | |
Staatsanwaltschaft beschlagnahmt Handys von beteiligten Polizisten. | |
Polizei empört sich über Ausstellung: Kein Rassismus bei der GdP | |
Die Gewerkschaft der Polizei kritisiert die Grüne Jugend Braunschweig wegen | |
einer Ausstellung über rassistische Polizeigewalt. | |
Hausdurchsuchung in Leipzig: Polizei erschießt 36-Jährigen | |
Am Mittwoch haben Beamte in Leipzig einen Mann getötet, der verdächtigt | |
wurde, zuvor einen Raub begangen zu haben. Viele Details sind noch unklar. | |
Beamter tötet 16-Jährigen: Demo nach Polizei-Schüssen | |
In Dortmund protestieren rund 200 Menschen gegen Polizeigewalt. In der | |
Stadt hatte ein Beamter einen bewaffneten 16-Jährigen erschossen. | |
Getöteter 16-Jähriger in Dortmund: Fünf Schüsse von der Polizei | |
In Dortmund wurde am Montag ein 16-Jähriger durch fünf Kugeln von | |
Polizisten getötet. Ermittler befragen beteiligte Polizisten und Betreuer. |