# taz.de -- Offener Vollzug für Sicherungsverwahrte: Nicht drinnen, nicht drau… | |
> Seit drei Jahren gibt es in Tegel das in Deutschland einmalige Projekt. | |
> Doch bislang sind nur wenige Männer dort untergebracht, die Hürden sind | |
> hoch. | |
Bild: Der Gruppenraum im offenen Vollzug in der JVA Tegel soll auf ein Leben in… | |
BERLIN taz | Das Sofa ist grau. Das Rollo ist grau. Die Sitzpolster der | |
Stühle sind grau. Auch das Mädchen auf dem Bild an der Wand ist grau. Ihren | |
Arm ausgestreckt, hat sie gerade die Schnur eines davon schwebenden | |
Luftballons losgelassen. Er ist der einzige Farbfleck auf dem Bild: ein | |
roter Ballon in Herzform. An der Wand neben dem Mädchen steht „There is | |
always hope“ – Es gibt immer Hoffnung. | |
Das Bild hängt in einem Gruppenraum in der Justizvollzugsanstalt Tegel. Das | |
rotbraune Backsteinhaus in der Seidelstraße 34 ist zwar hinter einem | |
gusseisernen Tor gelegen, aber noch vor den Mauern des eigentlichen | |
Gefängnisses. Die Abteilung ist genau drei Jahre alt und einmalig in | |
Deutschland: Es ist [1][der offene Vollzug] der Sicherungsverwahrung. Hier | |
werden Insassen im letzten Schritt auf ihre Entlassung vorbereitet. | |
In die Sicherungsverwahrung kommt, wer seine Haftstrafe abgesessen hat, | |
aber weiter als so gefährlich gilt, dass er nicht auf die Gesellschaft | |
losgelassen werden soll. Das sind derzeit bundesweit über 600 Männer und | |
kaum Frauen. Zwei Drittel von ihnen sind ehemalige Sexualstraftäter, die | |
mehr als einmal straffällig geworden waren. Auch Mörder, Bankräuber und | |
Brandstifter sind darunter. In Berlin sind in der Männerhaftanstalt Tegel | |
derzeit 45 Sicherungsverwahrte untergebracht. | |
Vor der Eröffnung des offenen Vollzugs hatte es Proteste gegeben: | |
Anwohner*innen hatten Angst um ihre Kinder. 5.000 Unterschriften haben | |
sie gesammelt. Verhindern konnten sie die Einrichtung nicht. Die hat | |
insgesamt acht Plätze. Wäre sie von Anfang an voll belegt gewesen, dann | |
hätten bei einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten rein rechnerisch 16 | |
Männer pro Jahr, in drei Jahren also 64 Männer durchgeschleust werden | |
können. Doch [2][so viele Verwahrte hat Tegel] gar nicht, und schon gar | |
nicht so viele, die Behörden und Justiz für geeignet halten. | |
## Perspektive auf Freiheit | |
Tatsächlich waren seit Anfang 2021 lediglich sieben Männer im offenen | |
Vollzug untergebracht. Das hat eine Recherche der taz ergeben. Nur zwei | |
wurden daraus entlassen. Verwahrte, aber auch Anwält*innen und | |
Hilfsorganisationen klagen seit Jahren, dass es immer schwieriger wird, | |
jemals wieder aus der Sicherungsverwahrung entlassen zu werden. Viele | |
Insassen sterben hinter Gittern. In den offenen Vollzug verlegt zu werden, | |
erscheine ihnen nahezu unerreichbar, berichteten mehrere | |
Sicherungsverwahrte der taz. | |
Lars Hoffmann, Leiter der Sicherungsverwahrung [3][in der JVA Tegel], nennt | |
den offenen Vollzug den „missing link“ – das bisher fehlende Glied zwisch… | |
„Drinnen“ und „Draußen“. Die Männer stehen mit einem Bein schon in | |
Freiheit, leben aber noch in der gewohnten Umgebung und haben weiterhin die | |
ihnen seit Jahren bekannten Ansprechpersonen. | |
An der Haustür des Zweistöckers wacht eine Videokamera. Eine halbe Treppe | |
mit braunem Geländer und Treppenlift führt ins Hochparterre. Dort sitzt ein | |
Strafvollzugsbeamter hinter Monitoren und hat Kamera und Haus im Blick. Ein | |
paar Grünpflanzen im Treppenhaus sollen für eine heimelige Atmosphäre | |
sorgen. Auf drei Etagen gibt es je zwei bis drei Zimmer. | |
Wer in den offenen Vollzug kommt, soll nicht lange bleiben, innerhalb | |
weniger Monate Wohnung und Arbeit finden und bei Entlassung alleine | |
zurechtkommen. So die Theorie. | |
## Wiedereingliederung ist schwierig | |
Tatsächlich wurden von den sieben Männern, die seit dem 30. Januar 2021 in | |
der Seidelstraße 34 untergebracht waren, nur zwei entlassen. „Bei drei | |
Personen musste aufgrund individueller Verfehlungen die Eignung für den | |
offenen Vollzug widerrufen werden“, sagt Leiter Lars Hoffmann der taz. Die | |
„Verfehlungen“ waren jedoch nicht solche, vor denen die Nachbar*innen | |
Angst hatten, sondern unter anderem Alkohol- oder Drogenkonsum. Einer ging | |
außerdem nicht zum angemeldeten PC-Kurs. | |
Aktuell wohnen zwei Männer hier. Einer der Bewohner, nennen wir ihn Martin | |
T., ist 83 Jahre alt. Er könnte längst draußen leben, will aber nicht | |
entlassen werden. So etwas kommt vor: So sehr die einen rauswollen, so | |
wenig können sich andere vorstellen, wieder ein normales, eigenständiges | |
Leben zu führen. | |
Immerhin haben sie ihr halbes Leben hinter Mauern verbracht, wo alles, von | |
der Weckzeit über die Nahrungsaufnahme bis hin zur Zimmereinrichtung, | |
fremdbestimmt ist. Und wo sie es vor allem mit anderen ehemaligen | |
Straftätern zu tun haben und die Kontakte nach außen mit der Zeit immer | |
mehr abnehmen. | |
Martin T. weiß, wie er eine Entlassung verhindert: Bei Anhörungen sagt er, | |
sollte man ihn entlassen, würde er direkt wieder eine Straftat begehen – um | |
zurück in die JVA zu kommen. Also lässt man ihn drinnen. | |
## Hohe Hürden | |
Bald könnte er neue Mitbewohner bekommen: Drei Verwahrte im geschlossenen | |
Vollzug seien gerade in der „Pipeline“, warteten also darauf, im Laufe des | |
ersten Quartals in den offenen Vollzug verlegt zu werden, sagt Hoffmann. | |
Damit sie überhaupt dafür in Betracht kommen, müssen einige Kriterien | |
erfüllt sein: mehrere Jahre erfolgreich abgeschlossene Therapien, in denen | |
sie ihre Taten eingestehen, Reue zeigen und Verhaltensweisen erarbeiten | |
müssen, um nicht in alte Muster zu verfallen. | |
Von Beginn an stehen ihnen per Gesetz vier begleitete Ausführungen pro Jahr | |
zu. Die Sicherheitsvorkehrungen sind am Anfang strikt und können mit der | |
Zeit angepasst werden: weniger Begleitbedienstete, Wegfall möglicher | |
Fesselung etwa. Erst nach externem Gutachten und der Zustimmung durch die | |
Senatsverwaltung für Justiz sind in Einzelfällen Ausgänge ohne Begleitung | |
möglich. Von diesen müssen die Männer „pünktlich, nüchtern und ohne Drog… | |
zurückkommen, sagt Hoffmann. | |
Wenn dann der oder die zuständige Psycholog*in sowie ein*e | |
Sozialarbeiter*in die Verlegung befürworten, braucht es noch einmal | |
ein Gutachten und die erneute Zustimmung der Senatsverwaltung, um | |
schließlich in den offenen Vollzug verlegt werden zu können – viele Hürden | |
also. | |
Zu hohe Hürden, finden mehrere Verwahrte, mit denen die taz gesprochen hat. | |
Einer spricht von „exorbitanten Anforderungen“. Gleichzeitig nennt er den | |
offenen Vollzug eine „Farce“: Wer geeignet für den offenen Vollzug sei, | |
müsse auch geeignet sein, entlassen zu werden, findet er. Ein anderer | |
kritisiert, es sei fast unmöglich, bei einer Verwahrung unter fünf Jahren | |
vom Gericht eine Begutachtung gewährt zu bekommen, um überhaupt die Chance | |
zu haben, als geeignet eingestuft zu werden. Hoffmann widerspricht beidem: | |
Es komme immer auf den Einzelfall an. | |
## Verschärfung durch Fluchtversuch | |
Nun ist bei den Verwahrten eine neue Sorge hinzugekommen. Sie fürchten, | |
dass Lockerungen eingeschränkt werden und es damit noch schwieriger wird, | |
in den offenen Vollzug zu kommen. Der Grund: Trotz all der | |
Sicherheitsvorkehrungen ist es einem Verwahrten am 6. Februar gelungen zu | |
fliehen. Allerdings saß er nicht im offenen Vollzug, sondern in der | |
geschlossenen Abteilung. Er entkam bei einer begleiteten Ausführung. Drei | |
Tage später wurde er in Schleswig-Holstein gefasst, mittlerweile ist er | |
zurück in Tegel. | |
Bisher spürten die Verwahrten nur kleine Einschränkungen, sagt einer von | |
ihnen der taz. Aber: „Alle SVler gehen davon aus, dass noch etwas kommen | |
wird.“ Lockerungen könnten strenger bewacht werden, „Ausgänge [4][wegen | |
Personalmangels] auf einmal ausfallen“. | |
Tatsächlich seien „aus Anlass des konkreten Falles zusätzliche | |
Sicherheitsebenen eingezogen“ worden, sagt Hoffmann. Das bedeute aber | |
nicht, per se Lockerungen für alle Verwahrten einzuschränken. Stattdessen | |
sollen sich die Behandelnden regelmäßiger austauschen. Auch die Vorgaben | |
zur Dokumentation seien angepasst worden. Hoffmann bleibt aber dabei: „Die | |
Frage der Verlegung in den offenen Vollzug oder die Frage der Entlassung | |
werden weiterhin alleine an die persönliche Eignung des jeweils betroffenen | |
Untergebrachten geknüpft.“ | |
27 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Urteil-des-Bundesgerichtshofs/!5644515 | |
[2] /Leiter-der-JVA-Tegel-ueber-den-Knast/!5956263 | |
[3] /Justizvollzugsanstalten-Berlin/!5973987 | |
[4] /Justizvollzugsanstalten-Berlin/!5973987 | |
## AUTOREN | |
Johanna Treblin | |
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