# taz.de -- Filmvorführung im Gefängnis: Nicken, Lachen, empörtes Schnauben | |
> Seltenes Kino-Feeling im Knast: Regisseurin Nele Dehnenkamp zeigt ihre | |
> Gefängnis-Langzeitdokumentation „For the time being“ in der JVA | |
> Plötzensee. | |
Bild: Besser als der Fernseher in der Zelle: Filmvorführung in der JVA Plötze… | |
BERLIN taz | „Parole hearing, wie heißt das nochmal auf Deutsch?“, fragt | |
Nele Dehnenkamp. Die Antwort kommt schnell und mehrstimmig: | |
„Bewährungshelfer“. Vor Dehnenkamp sitzen knapp 15 Experten für | |
Fachbegriffe aus dem Bereich Justiz und Gefängnis: Häftlinge der | |
Justizvollzugsanstalt Plötzensee. Dehnenkamp zeigt hier ihren [1][Film „For | |
the Time Being“], eine Langzeitdokumentation über eine Frau in den USA, | |
deren Mann wegen Mordes im Gefängnis sitzt. Unschuldig, wie beide sagen. | |
Seit Mitte April läuft der Film in den Kinos. | |
In der Mehrzweckhalle der JVA sind mehrere Stuhlreihen aufgestellt. Es ist | |
ein Montagabend im April, 18 Uhr, von draußen scheint die Sonne durch die | |
Fensterfront. Die dunkelgrünen Vorhänge halten das Licht nur mäßig ab. Die | |
ersten drei Männer kommen in den Saal, sie tragen blaue Arbeitshosen, | |
grüßen, suchen sich einen Stuhl. | |
Filmvorführungen im Gefängnis sind rar. Dass sogar die Regisseurin vor Ort | |
ist, kommt noch seltener vor. Die meisten Insassen haben einen eigenen | |
Fernseher in der Zelle. Insgesamt elf Gefangene wollen aber doch etwas | |
Kino-Feeling. | |
Dehnenkamp, die den Film auch selbst gedreht hat, begleitet Michelle | |
Bastien-Archer über sechseinhalb Jahre in ihrem Alltag: beim Foto-Shooting | |
mit ihren Kindern, wenn sie in die Kirche geht, kocht, arbeitet. Einen | |
Großteil ihrer Zeit widmet sie ihrem Mann. | |
## Alltag und Kampf | |
Jarmeine Archer sitzt bereits neun Jahre im Gefängnis, als die beiden 2007 | |
heiraten. Er soll aus dem Auto heraus einen anderen Mann getötet haben. Das | |
aber habe sich die Polizei ausgedacht, sagt Michelle im Film, denn die habe | |
„einen Schwarzen weniger auf der Straße haben wollen“. | |
Michelle kämpft mit Jarmeine für dessen Freilassung. Sie verwaltet seine | |
Papiere, geht zu Treffen mit anderen „Gefangenen-Ehefrauen“, zu | |
Black-Lives-Matter-Demos. Täglich telefonieren die beiden, einmal pro Woche | |
besucht sie ihn. Alle drei Monate kann sie sogar über Nacht bleiben. Dann | |
wohnen sie zwei Tage in einem kleinen Bungalow auf dem Gefängnisgelände und | |
spielen abends Karten mit anderen Paaren in den benachbarten Bungalows. | |
Alltag und Kampf. | |
„Ich kann es kaum erwarten, dir meine Nägel zu zeigen“, sagt Michelle. Sie | |
liegt auf dem Sofa, das Handy auf Lautsprecher, und betrachtet ihre | |
lackierten Fingernägel. Es ist eine der ersten Szenen im Film. „Welche | |
Farbe?“, fragt Jarmeine. „Verrate ich nicht“, antwortet Michelle und lach… | |
Alltägliches Geplänkel zwischen Eheleuten. | |
Die Männer im Publikum lachen. Sie lachen immer wieder, nicken an anderen | |
Stellen, schnauben empört. Am Ende wird geklatscht. | |
## Langzeitbesuch? Drei Stunden, einmal im Monat | |
Typische Kino-Reaktionen also. Bei der anschließenden Diskussion mit der | |
Regisseurin merkt man aber das Expertentum: Übernachtungsbesuche gibt es in | |
Berlin nicht, erzählen die Männer in der JVA Plötzensee. „Langzeitbesuch | |
heißt hier drei Stunden“, erzählt ein junger Mann in Jeans und rotem | |
T-Shirt. „Da kann man dann zusammen kochen und mit den Kindern spielen.“ | |
Das gebe es einmal im Monat. | |
Jarmeine Archer wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe, mindestens aber 22 | |
Jahren verurteilt. Schon zu Beginn der Dokumentation geht es um ein neu | |
aufgetauchtes Schriftstück. Es soll beweisen, dass einer der Hauptzeugen in | |
Archers Fall vom Staatsanwalt gekauft worden sei. Jarmeine und Michelle | |
fechten daraufhin das Urteil an. | |
„Was ist daraus geworden?“, fragt einer der Männer in den blauen | |
Arbeitshosen bei der Diskussion. Das Verfahren laufe noch, sagt Dehnenkamp. | |
Es könne tatsächlich sein, dass seine Unschuld doch noch bewiesen und | |
anerkannt werde. „Jetzt, wo er 22 Jahre gesessen hat? Meine Fresse!“, ruft | |
der Gefangene. | |
Der Mann im roten T-Shirt will wissen: „Was bedeutet ‚lebenslänglich‘ in | |
den USA?“ Bleibe man tatsächlich „bis zum Exitus“ in Haft? In der Regel … | |
antwortet Dehnenkamp. Auch in Deutschland kann „lebenslang“ bedeuten, bis | |
zum Tod im Gefängnis bleiben zu müssen, aber nach 15 Jahren kann die Strafe | |
auf Bewährung ausgesetzt werden – und wird es auch oft. | |
## Sechs Jahre begleitet die Regisseurin ihre Protagonistin | |
Dehnenkamp war Soziologie-Studentin, als sie 2014 für ein Jahr zum | |
Auslandsaufenthalt in die USA aufbrach. Dort erfuhr sie, [2][dass die | |
Vereinigten Staaten eine der höchsten Gefangenenraten der Welt haben], | |
viele Unschuldige ins Gefängnis kommen und dass auch wegen kleiner Delikte | |
harsche Strafen verhängt werden. | |
Sie liest sich in das Thema ein, geht zu Veranstaltungen von | |
Menschenrechtsorganisationen. Dort trifft sie auf Michelle Bastien-Archer. | |
„Ihre Energie hat mich mitgerissen“, erzählt sie nach dem Screening. Aus | |
der Idee, sie zwei Monate für eine Dokumentation zu begleiten, werden über | |
sechs Jahre. Neun Jahre später kommt der Film nun in die Kinos. | |
Die Gefangenen interessiert auch das: wie sie den Film gedreht habe, wenn | |
sie nun eigentlich in Deutschland lebe. Sie sei über Zoom oder per Telefon | |
bei Treffen dabei gewesen und immer wieder hingeflogen, erzählt Dehnenkamp. | |
Nach ihrer Rückkehr aus den USA studiert sie in Deutschland Film. Ob die | |
Dokumentation auch auf Festivals gezeigt werde? Ja, er sei unter anderem | |
schon auf dem Dok Leipzig zu sehen gewesen und [3][im Rahmen von „Achtung | |
Berlin“ im Babylon Mitte]. | |
Bevor noch mehr Fragen gestellt werden, steht ein Gefangener auf, der als | |
Einziger während der gesamten Vorstellung ständig um sich geblickt hat, | |
zwischendurch aufgestanden und – in Begleitung eines Beamten – aus dem Saal | |
gegangen war. „Wie lang geht das hier noch? Ich muss mal pullern.“ | |
24 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://across-nations.de/projekte/for-the-time-being/ | |
[2] /Protest-in-US-Haftanstalten/!5529360 | |
[3] /Filmfestival-achtung-berlin-wird-20/!6000525 | |
## AUTOREN | |
Johanna Treblin | |
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