# taz.de -- Musik-Jingles im Fußball: Dann geht sie ab | |
> Völlig losgelöst läuft nach Treffern der DFB-Elf neuerdings „Major Tom�… | |
> Die Torhymne bewegt plötzlich die Nation. Wie hat sie das verdient? | |
Bild: Tore wollen gehört werden: Der damalige HSV-Profi Rafael van der Vaart f… | |
Wenn ich ein Verschwörungstheoretiker wäre, der nicht immer nur die | |
Politiker im Kopf hat, sondern auch mal eine hübsch irre Wohlfühlgeschichte | |
verbreiten möchte, dann würde ich jetzt eine Theorie zum Ereignis der Woche | |
aufstellen. Die DFB-Chefclique hat gerade [1][so viel Nerviges] um die | |
Ohren – Ausrüstertheater, [2][Rüdiger]-Finger-Trouble, Trikotaufregung | |
wegen Pink (verkauft sich immerhin top) –, dass sie sich gedacht haben: Wir | |
müssen irgendwas unternehmen, um das Land geschlossen hinter uns zu | |
bringen. | |
Wenn schon der Habeck mit einer [3][Patriotismus]-Forderung kommt, um sein | |
schlechtes Image zu polieren, dann können wir das erst recht. Wir haben | |
doch jetzt eine Entertainment-Partnerschaft mit Tiktok. Könnten wir also | |
nicht irgendwas mit Internet und Community und Viralgehen hinkriegen? | |
Fragen wir doch mal Adidas, die bei uns ja noch in der Schuld stehen, weil | |
wir [4][nicht schon 2007 zu Nike] gewechselt sind, obwohl die uns damals | |
bereits das Fünffache des Adidas-Geldes geboten hatten. | |
Adidas, so meine Theorie, hat’s eingesehen, auch aus Patriotismus. Sodann | |
haben sie den Werbespot für das neue pinke DFB-Trikot mit dem schönen alten | |
NDW-Hit „Major Tom“ unterlegt und einen Social-Media-Aktiven in die Spur | |
geschickt, der das Lied [5][als neue Torhymne] für die Nationalmannschaft | |
fordert. Der Netzhopper, ein Max Kirchi, sollte natürlich nicht zu bekannt | |
sein, damit es glaubwürdiger wirkt. Und dann ging es ab, völlig losgelöst | |
von den Hintermännern. | |
Natürlich mit einer Online-Petition, eine der Top-5-Entbehrlichkeiten | |
unserer Zeit. Der Initiator trommelte mit Gemeinschaftsgefühlen – „alle | |
waren sich einig, dass der Song zu einem Gefühl des Neuanfangs in der | |
Nationalmannschaft passte“ – und dann noch mit Nostalgie. „Er steht für | |
mich für diesen Zeitgeist – einer Zeit, die wir durch unsere Eltern als die | |
goldene Ära kennen.“ Neuanfang, Zeitgeist, goldene Ära. Vokabeln wie von | |
PR-Einflüsterern. | |
## Praktisch läuft alles anders | |
Kein Wunder, dass im Nu Zehntausende drauf ansprangen und die mit dem | |
Niedergang der Nationalmannschaft verbundene [6][DFB-Torhymne „Kernkraft | |
400“] des Technoprojekts Zombie Nation abwählten. Obwohl sich der DFB erst | |
zierte, hat er des Volkes Stimme dann doch erhört und beim | |
Niederlande-Spiel eingesetzt (wird das eigentlich auch auf die | |
Frauen-Auswahl ausgedehnt?). Aus DFB-Sicht super gelaufen. Ähnliche | |
Sanierungsarbeiten am Nationalelf-Image kann man mit dem offiziellen | |
Entertainment-Partner Tiktok noch öfters machen. | |
Soweit meine Verschwörungstheorie. Praktisch läuft das natürlich anders. | |
Da kriegt jemand einen Ohrwurm, weil er sich zu oft den Adidas-Werbeclip im | |
Internet angeguckt hat, und denkt sich: Ach, da müsste man doch mal wieder | |
was in die Welt blasen, was die nicht braucht, aber irgendwie auch gute | |
Laune bringt. Und gleich in doppelter Hinsicht landet man da halt beim | |
Thema Torhymne. Die Zehnsekundenmelodie tut nicht wirklich weh, weil sie | |
für den Fan ja mit etwas Tollem, einem Tor der eigenen Mannschaft, | |
verbunden ist. Es sei denn, man hat auch im Jubel noch ein Ohr frei und | |
spürt schmerzlich das torbegleitende Nervstück, wie im Falle von Oliver | |
[7][Pochers „Schwarz und weiß“], das jahrelang bei den DFB-Heimspielen aus | |
den Stadionboxen schallte. | |
Im Prinzip sind Torhymnen nur die kleine Spitze des Berges an Musikmaterial | |
(oder Schrott), das sich über die Jahrzehnte in den Stadien wie überhaupt | |
rund um den Fußball angehäuft hat. Vor, während und nach dem Spiel werden | |
die Fans beschallt, was dem Partygefühl beim Livefußball an einem Spieltag | |
absolut zuträglich ist. Es kommt natürlich darauf an, ob man mit der Art | |
der Musik, die der Stadion-DJ vorgibt, etwas anfangen kann. In vielen | |
Stadien würde ich, ehrlich gesagt, die Krise kriegen. | |
## Tony Marshall und Franz Lambert als Vorgänger | |
Bemerkenswert ist, dass die Torhymne auch beim ansonsten arg | |
kommerzkritischen Fan offenbar nicht als Ärgernis gilt. Wo bei den Ultras | |
der Vereine ansonsten möglichst viel Fußball pur gewünscht und der | |
Fußballromantik gehuldigt wird, werden die Torjingles weitestgehend | |
akzeptiert oder sogar gewünscht. Wogegen nichts zu sagen ist, jeder soll | |
sich so vergnügen, wie er will. Wenn man sich als Verein nicht darauf | |
verlassen will, dass seine Fans auch ohne Jingleeinsatz eine wilde Torparty | |
unter Bierduschenspritzern veranstalten, soll er halt auch den Torjubel | |
eventisieren. Auf die Nationalelf und auf Turniere wie die Welt- oder | |
Europameisterschaften trifft das erst recht zu. | |
Dort ist es in gewisser Weise geradezu konsequent, denn schon bei der | |
ersten Fußball-WM, 1930 in Uruguay, erschallte Musik aus den | |
Stadionlautsprechern. Im Stadion von Montevideo wurde das Publikum mit | |
Tangoschlagern erfreut. Später traten oft Blaskapellen in der Halbzeit der | |
Länderspiele auf. Und vor einem WM-Spiel beim Turnier 1974 sang sogar der | |
Schlagersänger Tony Marshall auf dem Rasen des Berliner Olympiastadions. | |
Richtig verrückt wurde es 1978, als der Hammond-Orgel-Spieler Franz Lambert | |
nicht nur für die DFB-Elf zum Kaffee im argentinischen WM-Quartier spielte, | |
sondern auch in der Halbzeitpause beim 2:3 gegen Österreich in Córdoba auf | |
dem Platz, unter anderem den „Radetzkymarsch“ und „Buenos Dias Argentina�… | |
Das Spiel selbst war lange Zeit tabu. Aber auch das änderte sich in den | |
1970ern. In Düsseldorf wurde bei Toren von Fortuna eine Weile angeblich ein | |
Werbejingle einer Brauerei eingespielt („Ein schöner Tag“). Dass | |
irgendjemand statt einer Werbemelodie ein normales Stückchen Musik nach | |
Toren spielte, war insofern ein Fortschritt. später kam es gar zu einer | |
Diversifizierung, indem zuweilen Wunschmelodien den jeweiligen Torschützen | |
eingespielt wurden. Hörbar auch auf der CD „HSV-Torjingles Saison 2007/08“, | |
mit Songs wie „Life Is Life“ oder „Macarena“. Schlimm. | |
Heute hat sich das obskure Kleingenre Torhymne in der ganzen Bundesliga | |
durchgesetzt. Hier „Candan“, da Scooter, dort ein Karnevalsmarsch. Allein | |
der 1. FC Union Berlin verzichtet zum Wohlgefallen seiner Fans auf die | |
Jingelei an der Alten Försterei. Dafür haben sie dort in dieser Saison eine | |
Art Gegentorhymne nicht gespielt, sondern gesungen. Nach dem 0:2-Treffer | |
gegen Stuttgart stimmte das ganze Stadion „Always Look on the Bright Side | |
of Life“ an. Taugt als dauerhaftes Partyritual aber auch nicht richtig. | |
Von Gunnar Leue ist erschienen: „You’ll Never Sing Alone. Wie Musik in den | |
Fußball kam“, Ventil-Verlag 2023, 256 S., 28 Euro. | |
2 Apr 2024 | |
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[5] https://www.youtube.com/watch?v=RrQfBPRMdvU | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=RBbcM8bj2nM | |
[7] https://www.youtube.com/watch?v=5-1qUOyUZoM | |
## AUTOREN | |
Gunnar Leue | |
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