| # taz.de -- Abstinente Fangruppe des 1. FC Union: Nach dem Dry January bleibt�… | |
| > Fußball und Bier gehören zusammen wie Handelfmeter und Videobeweis? Das | |
| > sieht die Union-Fangruppe „Nüchtern betrachtet … mehr vom Spiel“ ganz | |
| > anders. | |
| Bild: Eine Bierdusche wie aus dem Bilderbuch für einen der Spieler des 1. FC U… | |
| Berlin taz | Bei den Januar-Heimspielen des 1. FC Union Berlin im | |
| [1][Stadion an der Alten Försterei] in Berlin-Köpenick fiel zweierlei auf. | |
| Einerseits der teilweise spürbare Frust der Fans über das sportliche | |
| Angebot der „Eisernen“ auf dem Platz. Andererseits hatten die | |
| Fußballfreunde auf den Rängen im Vergleich zu anderen Spielen weniger | |
| Bierbecher in den Händen. Es hatte wohl nicht nur den Anschein, als würden | |
| weniger Leute als sonst Bier trinken. Eine Bierverkäuferin an einer der | |
| Buden bestätigte die Beobachtung. | |
| Das ist wenig überraschend, denn das ganze Land begeht ja – ganz ohne | |
| politische Vorgabe – den Monat der gesundheitlichen Selbstreinigung. Es | |
| wird nicht getrunken, also Alkohol. Am [2][Dry January], dem aus | |
| Großbritannien herübergeschwappten Trend, beteiligen sich immer mehr | |
| Menschen. | |
| Nicht-Trinken ist das neue Nicht-Rauchen. Der Boom an Ratgeberliteratur und | |
| penetranten Selbsterfahrungsergüssen ist dafür ein untrügliches Zeichen. | |
| Aus lauter Ecken wird einem dringlich empfohlen: Alkohol macht dich fertig! | |
| Lass es! Am besten für immer! | |
| Dry year, dry forever: Dagegen lässt sich vernunfthalber wenig sagen, aber | |
| es nervt trotzdem (selbst wenn man eine eigene Trockenperiode eingelegt | |
| hat). Das hat vor allem damit zu tun, dass Alkohol nicht nur ein | |
| Troublemaker ist, sondern eben auch ein Good Boddy, den man bei bestimmten | |
| Freizeitbeschäftigungen einfach gern dabei hat. Zum Beispiel im | |
| Fußballstadion. | |
| ## Wie ein Punkkonzert mit Selters | |
| Fußballgucken im Stadion ohne Bier ist für viele wie ein Punkkonzert im | |
| Club mit Selters. Fußball, Bier und Bratwurst sind die Dreifaltigkeit der | |
| Stadion-Fankultur. Auf einem Transparent der Union-Ultras stand vor Jahren | |
| der Spruch: „Fifa-Mafia, wir nehmen euch so ernst wie alkoholfreies Bier!“ | |
| Protest als Null-Promille-Bashing. | |
| Das ist nicht originell. Aber man sollte nicht vergessen, dass der Reiz des | |
| romantischen Fußballs auch darin besteht, dass viele seiner legendären | |
| Momente mit Bier und Trinkgeschichten zu tun haben. Bierbecherwürfe (mit | |
| Inhalt), die zum Abbruch von Spielen führten, haben für jahrzehntelang | |
| nachhallenden Fanlaberstoff gesorgt. Bierduschen nach Meisterschaften oder | |
| Aufstiegen gehören ohnehin zur allgemeinen Feierfolklore – ob in Kreis- | |
| oder Bundesliga. Oder auf den Rängen, wenn ein Tor fällt. | |
| Aber es gibt sie natürlich, die Stadionbesucher, die nicht trinken oder | |
| nicht mehr, weil sie ein Problem mit dem Zuviel hatten. Auch beim 1. FC | |
| Union. Dort haben sich einige von ihnen zur Gruppe [3][„Nüchtern betrachtet | |
| … mehr vom Spiel“] zusammengeschlossen. Gegründet wurde sie im September | |
| 2019 von einer Berliner Sozialpädagogin und Suchttherapeutin, die auch als | |
| Rentnerin etwas Sinnvolles tun wollte. | |
| Über die Internetseite des frisch in die Bundesliga aufgestiegenen Klubs | |
| hatte sie einen Aufruf ans Interessierte gestartet. Den sah auch der aus | |
| dem Berliner Umland stammende Unionfan Steffen P. (seinen kompletten Namen | |
| möchte er nicht nennen) und war sofort elektrisiert. Zusammen mit einer | |
| Handvoll weiteren Unionern traf er sich vor einem Heimspiel vorm Stadion, | |
| die Gründungsmitglieder waren beisammen. | |
| ## Schnapsflaschen ins Stadion geschmuggelt | |
| Steffen P., der heute als Sprecher der Gruppe fungiert, ist seit 1994 | |
| trockener Alkoholiker. Seit 1979 geht er regelmäßig zu den Spielen von | |
| Union und es gab bis 1994 kein Spiel, bei dem er nicht besoffen gewesen | |
| sei. | |
| „Zu Ostzeiten gab es, glaube ich, im Stadion noch keine Bierbuden. Man hat | |
| Schnapsflaschen ins Stadion reingeschmuggelt, Kontrollen wie heute gab es | |
| damals nicht. Vor allem vor und nach den Spielen wurde viel getrunken, oft | |
| harte Sachen.“ Obwohl er in fast jedem Erst- und Zweitligastadion der DDR | |
| gewesen sei, sind seine Erinnerungen daran trübe. Äußerst trübe. Die | |
| Wochenenden habe er komplett im Rausch verbracht. Alk und Fußball, das habe | |
| einfach zusammengehört. | |
| Bis seine Hausärztin etwas gegen die Beziehung hatte und dem damals | |
| 29-Jährigen einen Entzug – man kann sagen: befahl. „Ich habe dann aufgehö… | |
| zu trinken“, erzählt er. „Man muss das natürlich wollen und möglichst ein | |
| stabiles soziales Umfeld haben, ansonsten verfällt man als Suchtkranker | |
| schnell in alte Muster.“ | |
| Steffen P. hatte zum Glück eine Familie, die ihn auch ohne Therapie sehr | |
| unterstützte. Heute sei das Nüchternbleiben beim Fußball für ihn kein | |
| Problem mehr. Jetzt im Winter trinke er im Stadion halt Tee. Aber er könne | |
| auch 90 Minuten ohne etwas zu trinken aushalten. | |
| ## Rettungsanker im Leben | |
| Seine Mitwirkung in der „Nüchtern“-Gruppe scheint ein gutes Beispiel, dass | |
| der wegen Kommerzkacke und Vorkommnissen gerade mit besoffenen Fans – vor | |
| einiger Zeit klagte die Berliner Sängerin Mine über Belästigungen durch | |
| betrunkene Herthafans auf einer Zugfahrt – immer wieder negativ auffällige | |
| Fußball auch eine sehr positive Seite hat. Er bietet etlichen Menschen | |
| einen Rettungsanker im Leben und sogar Sinnstiftendes. | |
| Steffen P. zum Beispiel fühlte sich von der Idee, Leute mit dem gleichen | |
| Alkoholproblem und derselben Fanliebe zu treffen, sofort angesprochen. | |
| Vorher hatte er keine Selbsthilfegruppe gefunden, die ihm gefiel. Nach | |
| seinem Entzug war er bei den Anonymen Alkoholikern. „Mich störte jedoch, | |
| wie sehr die sich alle bemitleideten. Ich dachte: Nee, das brauche ich | |
| nicht, das schaffst du auch alleine. Es hat dann halt 25 Jahre gedauert, | |
| bis ich die richtige Selbsthilfegruppe gefunden habe. Was gibt’s Schöneres, | |
| als ein Fantreffen seines Lieblingsvereins und eine Selbsthilfegruppe in | |
| einem zu haben.“ | |
| Zur Gruppe gehören 43 Mitglieder im Alter von 30 bis über 60 Jahren, | |
| darunter fünf Frauen. Nicht alle sind immer dabei, wenn Kinobesuche, | |
| Floßfahrten oder Aktionen wie die Säuberung des Köpenicker Wuhle-Flüsschens | |
| auf dem Programm stehen. Bis zu 20 Leute kommen aber zu den wöchentlichen | |
| Treffen, die unmittelbar neben der „Abseitsfalle“ stattfinden. Das ist | |
| Unions größte Fankneipe, kurz vorm Stadion. | |
| Direkt neben einer Kneipe? Kein Problem, finden die Abstinenzler. | |
| Schließlich müssten sie ja auch sonst ständig an Kneipen vorbeigehen. | |
| ## Darüber reden ist wichtig und hilft | |
| Für die Teilnehmer der wöchentlichen Runde gilt zwar die (einzige) | |
| Vorschrift, nüchtern zu erscheinen, aber Alkohol und mit der Sucht | |
| verbundene Problem sind – neben dem Hauptthema Union – natürlich oft | |
| Gesprächsthema. „Darüber reden ist wichtig und hilft. Wir können nicht | |
| therapieren, nur Tipps geben und einen gewissen Halt, damit man nicht | |
| rückfällig wird. Darauf liegt unser größtes Augenmerk“, sagt Steffen P. | |
| Deshalb haben sie auch eine Art Notknopf bei Problemen eingerichtet. Wenn | |
| ein Gruppenmitglied ein bestimmtes Foto auf Whatsapp einstellt, springt | |
| praktisch die Hilfe der anderen an. Dabei geht es letztlich darum, den | |
| Triggereffekt, der meist nur 5 oder 10 Minuten dauert, zu überwinden. Dann | |
| helfe vor allem Ablenkung und mit jemandem reden, der selbst | |
| Glaubwürdigkeit besitzt. Trotzdem habe sich nicht verhindern lassen, dass | |
| immer wieder einmal jemand rückfällig wurde. | |
| Sehr schwierig sei es insbesondere in der Pandemie gewesen, als sich die | |
| Mitglieder während der Lockdowns nicht persönlich sahen, sondern nur über | |
| Whatsapp Kontakt halten konnten. Dass die gerade erst entstandene Gruppe | |
| damals nicht gleich wieder auseinandergeflogen ist, darauf ist man heute | |
| noch stolz. | |
| Das hat sicher auch damit zu tun, dass es kaum soziale Härtefälle in der | |
| Gruppe gibt, weil alle in Lohn und Brot sind. Vor allem aber wird niemand | |
| bei rückfälligem Verhalten mit dem Zeigefinger belehrt. Moralpredigten sind | |
| tabu. „Wir haben ja alle eine Suchtkarriere“, sagt Steffen P. „Unser Credo | |
| lautet: Wir wollen nicht agitieren. Jeder muss selbst mit sich vereinbaren, | |
| was er tut und lässt. Aber jeder Unioner soll wissen, dass es unsere Gruppe | |
| gibt und dass wir da sind, wenn jemand Probleme mit Alkohol hat.“ Die | |
| Gruppe ist offen für jeden, der suchtkrank ist, und niemand muss vom | |
| Unionvirus befallen sein, trotzdem ist es dominant verbreitet. | |
| ## Mit dem ganzen alkoholischen Drumherum | |
| „Wir hatten HSV- und Freiburg-Fans aus Berlin bei uns. Aber wir haben | |
| erlebt, dass die Nichtunioner irgendwann weggeblieben sind. Vermutlich, | |
| weil zu viel über Union gequatscht wurde. Der Verein ist bei uns eben immer | |
| Thema“, sagt Steffen P. „Dazu gehört eine regelmäßige Spieltagauswertung. | |
| Auch weil immer welche bei Auswärtsspielen dabei sind.“ | |
| Sich nicht aus Angst vor Rückfällen vom Stadionfußball abzukapseln, ist ein | |
| wichtiges Ziel der Nüchtern-Betrachter. Das Stadionerlebnis spielt nun mal | |
| eine zentrale Rolle in der Fußballkultur und dafür müssen die | |
| Alkoholverweigerer eben lernen, auch eine Bierdusche zu ertragen und mit | |
| dem ganzen alkoholischen Drumherum umzugehen. | |
| Dieses Drumherum ist etwas, das die Gruppe in der Vergangenheit schon | |
| mehrfach mit der Vereinsführung besprochen hat. Zunächst musste sie | |
| überhaupt das Bewusstsein für die Thematik schärfen. Bei einem langen | |
| Treffen mit Unions Vereinspräsident Dirk Zingler hatten sie ihn | |
| beispielsweise gefragt, warum bei der Aufstiegsparty Freibier ausgeschenkt | |
| wurde und nicht etwa Freigetränke. Für Cola oder Gespritztes hätten alle | |
| voll bezahlen müssen. Da habe der Präsident komisch geguckt und | |
| nachgedacht. Das habe ihm den Horizont erweitert. | |
| Es ist nicht so, dass sich die Nüchtern-Gruppe mit großartigen Forderungen | |
| Gehör verschaffen will. Dass Bier und Bratwurst zum Fußball gehörten, | |
| stellt man auch gar nicht in Abrede. Die Gruppenmitglieder wollen aber gern | |
| Empfehlungen geben, was ihrer Meinung nach gut und sinnvoll ist. | |
| ## Absatz von alkoholfreiem Bier gestiegen | |
| So haben sie geschafft, dass an den Getränkeständen im Stadion, an denen | |
| es, neben Kaffee und Tee, auch alkoholfreies Bier gibt, die Hinweisschilder | |
| darauf nicht verborgen, sondern gut sichtbar sind. Möglicherweise ist auch | |
| das ein Grund, dass der Absatz von alkoholfreiem Bier zuletzt offenbar | |
| gestiegen ist. Jedenfalls hat das Steffen P.s Tochter erfahren, nachdem sie | |
| einfach mal bei den Verkäufern an den Alkfrei-Ständen nachgefragt hat. | |
| Und einen richtigen Schub könnte es mit der Fertigstellung des umgebauten, | |
| neuen Stadions geben. Dann soll es auch spezielle Stände für alkoholfreies | |
| Bier geben. Die Anregungen der „Nüchtern“-Gruppe würden vom Verein gut | |
| aufgenommen, sagt Steffen P. Man werde von allen Seiten sehr unterstützt, | |
| das gelte auch für die [4][Union-Stiftung „Schulter an Schulter“]. Sie | |
| fördert die jährlichen „Klassenfahrten“ ins Brandenburgische, die die | |
| Gruppe unternimmt, um Ideen und Arbeitskonzepte zu bereden. | |
| Sogar Burkhard Blienert, der [5][Suchtbeauftragte der Bundesregierung], war | |
| im vergangenen Jahr bei den Null-Promille-Fans in Berlin-Köpenick. An der | |
| Alten Försterei hat er sich über die die Gruppe und ihre Zusammenarbeit mit | |
| dem Verein informiert. Zudem hat er ein Gruppentreffen besucht und zeigte | |
| sich ziemlich begeistert über deren Aktivitäten. | |
| Die Öffentlichkeit hat davon nicht so viel mitbekommen. In der sorgen immer | |
| noch die Ausschreitungen der Fans für die größte Aufmerksamkeit. Oder | |
| Bierbecherwürfe und wie zuletzt der Feuerzeugwurf eines Fans des 1. FC | |
| Union gegen den Torwart des VfL Bochum, der zum Beinahe-Abbruch des Spiels | |
| führte. Man kann mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die | |
| Attacke keine Aktion eines Nüchternen war. | |
| 23 Jan 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.stadion-an-der-alten-foersterei.de/ | |
| [2] /Veganuary-und-Dry-January/!6061060 | |
| [3] https://www.fc-union-berlin.de/de/union-live/news/fans/Nuechtern-betrachtet… | |
| [4] https://fc-union-stiftung.de/ | |
| [5] https://www.bundesdrogenbeauftragter.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Gunnar Leue | |
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