| # taz.de -- Österreichische Satire „Club Zero“: Manipulation mit Fastentee | |
| > „Club Zero“, ein satirischer Spielfilm der österreichischen Regisseurin | |
| > Jessica Hausner, nimmt sich das gesellschaftliche Problem der Essstörung | |
| > vor. | |
| Bild: Die Ästhetik erinnert an klaustrophobische britische Internatsfilme: „… | |
| Wie oft lässt sich ein Kartoffelwedge halbieren? Abnehmwillige sind | |
| Expert:innen für derlei Dinge: Die Mahlzeiten möglichst kleinschneiden. | |
| Lange kauen, damit man schneller satt ist. Die Portionen reduzieren. Nur zu | |
| eingeschränkten Zeiten essen. Bestimmte Lebensmittel komplett meiden. Den | |
| Appetit vor dem Essen „wegmeditieren“. | |
| An der nächsten Stufe dieser für manche Menschen in bestimmten Situationen | |
| fraglos sinnvollen Selbstkontrollen ist überhaupt nichts Sinnvolles mehr: | |
| [1][Wenn man so wenig isst, dass der Körper krank wird, wenn man sich nach | |
| der Mahlzeit willentlich übergibt, dann ist die Essstörung da.] Und sie | |
| kann tödlich enden. | |
| Die Komplexität und fatale Gesundheitsgefährdung einer Essstörung, die | |
| immer psychologische Komponenten beinhaltet, verbietet es, das Thema zu | |
| ironisieren. Die Zahl der wegen Anorexie („Magersucht“) und Bulimie („Ess- | |
| und Brechsucht“) stationär behandelten Menschen steigt seit Jahren vor | |
| allem bei jungen Frauen stark an, in Deutschland waren es 2022 über 11.000 | |
| registrierte Fälle, die Dunkelziffer ist extrem hoch. | |
| ## Unförmige Uniformen | |
| Dennoch könnte man [2][Jessica Hausners Film] „Club Zero“ einen gewissen | |
| Unterhaltungswert abgewinnen. Denn er zeigt sich zunächst als ambitionierte | |
| Satire: Miss Novak (Mia Wasikowska) ist die neue Lehrerin in einem | |
| Elite-Internat. Und ihr Kurs mit dem Titel „Bewusstes Essen“ kommt bei den | |
| Teens, die in hellgelb-pastelligen, unförmigen Schuluniformen gemessenen | |
| Schritts über die sauberen Flure wandeln, von quietschgelben | |
| Plastiktabletts essen und sich für den Unterricht in Retrosesselkreisen | |
| anordnen, hervorragend an. | |
| Es ginge darum, erklärt die Lehrerin, und verschanzt ihr wahres Ziel hinter | |
| schwammig-akademischen Begriffen, „die Ernährungsfertigkeiten durch | |
| bewusstes Essen zu verbessern“. Die Absolvent:innen des Kurses hören | |
| das gern: Ihre Motivationen, „bewusster“ zu essen, sind teils | |
| altruistischer Natur – man will Müll vermeiden, den Konsum reduzieren, die | |
| nachhaltige Lebensmittelherstellung stärken. | |
| Natürlich wollen einige auch nur den Fettanteil im Körper reduzieren, um | |
| „fitter“ zu sein“. Einer gibt zu, schlichtweg die Punkte für den Kurs zu | |
| brauchen. Nach und nach verstrickt die Lehrerin, die zunächst harmlos und | |
| mit Fastentee als Dreingabe „nur das Beste für die Kinder“ zu wollen | |
| scheint, ihre Schutzbefohlenen in immer absurdere | |
| Nahrungsverweigerungszyklen. | |
| ## Infame Verschwörungstheorien | |
| Wieso nicht weniger essen? Wieso nicht nur noch eine Sache essen? Wieso | |
| überhaupt noch essen!? Ob das denn möglich sei, wird sie gefragt. „Wir | |
| sollten aufhören, das zu analysieren, sondern es einfach akzeptieren“, | |
| [3][schiebt sie den pubertierenden Zöglingen eines der infamsten Sekten- | |
| und Verschwörungstheoriemuster unter.] | |
| Einem Teenager, dessen Eltern das Nichtessen nicht akzeptieren wollen, | |
| erklärt sie vertraulich, dass es „Leuten Angst macht, wenn man ihre | |
| Wahrheit in Frage stellt“: Das Eins-a-Ausweichmanöver, das auch bei | |
| Nachfragen nach „alternativen Wahrheiten“ gängig ist. | |
| Und natürlich spielen die Eltern ebenfalls eine wichtige Rolle in Hausners | |
| perfidem Drama. Die Regisseurin, die das Drehbuch gemeinsam mit Géraldine | |
| Bajard schrieb, malt sie als klassistische, größtenteils ignorante, | |
| artifizielle Abziehbilder, die in schicken, von Designschmankerln | |
| vollgestopften brutalistischen Einfamilienhäusern leben und eh weder Zeit | |
| für noch Lust auf ihre Kinder haben. | |
| ## Selbstsüchtige Schulleiterin | |
| Nur die Mutter von Ben (Samuel D. Anderson) kann als einziges „Verbrechen“ | |
| vorweisen, dass sie alleinerziehend ist, was von den anderen Eltern und der | |
| eleganten, aber oberflächlich und selbstsüchtig agierenden Schulleiterin | |
| Miss Dorsett (Sidse Babett Knudsen) natürlich registriert wird. | |
| Zusammen mit der strikten Kameraarbeit von Martin Gschlacht und der | |
| perkussiven Musik von Markus Binder (Attwenger), die die Szenen genauso | |
| streng zerteilt wie die hungernden Teens ihr Single-Kartoffelwedge in der | |
| Mensa, erscheint „Club Zero“ auf den ersten Blick wie ein artifizielles, | |
| zuweilen schwarzhumoriges Märchen über Manipulation und moderne Diskurse. | |
| Doch Hausner und Bajard wissen um den tiefsitzenden und todbringenden | |
| Schrecken der Krankheit „Essstörung“. Eventuell geht es bei der Figur der | |
| Lehrerin insofern nicht um einen Svengali, der seine Netze spinnt und die | |
| ihm Anvertrauten nach Strich und Faden manipuliert: Miss Novak, die | |
| Wasikowska mit unschuldigem Gesichtsausdruck und intensiver | |
| Körperbeherrschung gibt, verkörpert die Essstörung selbst. | |
| ## Ähnliche Herangehensweise | |
| Ähnlich wie im ebenfalls 2023 entstandenen dänischen Film „Kopenhagen gibt | |
| es nicht“ von Martin Skovbjerg. Bei ihm zieht die Essstörung die | |
| Protagonistin in Form eines attraktiven Liebhabers in ihren Bann (und | |
| bleibt nach dem Tod der jungen Frau übrig und vermisst sie schmerzlich). | |
| Und passend zu den Eigenbezeichnungen der im Netz aktiven, hochgefährlichen | |
| Plattformen „Pro-Ana“ (für „Anorexie“) und „Pro-Mia“ (für Bulimie… | |
| „Ana“ und „Mia“ Mädchennamen, quasi Freundinnennamen nutzen, darf auch | |
| Hausners Protagonistin als personifizierte Verhaltensstörung gelesen | |
| werden. | |
| Die Novak-Figur steht demnach stellvertretend für die Krankheit. Die | |
| Betroffenen suchen Schutz bei ihr, sie vertrauen ihr – und wenn man nicht | |
| aufpasst, gehen sie sogar mit ihr davon. Dass man gerade im Zusammenhang | |
| mit Anorexie vom „Verschwinden“ spricht, liegt in der schrecklichen Natur | |
| der Sache: Betroffene Körper verschwinden tatsächlich. | |
| ## Aufdringliches Setdesign | |
| Leicht sind all diese Zwischentöne in Hausners auch durch den beherrschten | |
| Rhythmus und die extra langsam aufgesagten Dialoge absichtlich unnatürlich | |
| wirkenden Film nicht wahrzunehmen. Zu sehr spielt sich das Setdesign | |
| zuweilen in den Vordergrund, zu viele Klischees finden sich in den | |
| Figurenzeichnungen, vor allem bei den ignoranten Eltern, die sich lieber | |
| auf der anderen Weltkugelhälfte als White Saviours aufspielen, anstatt | |
| ihrem (zunehmend essgestörten) Sohn beizustehen. | |
| So gerät auch die einzige sichtbare Bulimie-Szene eher zur Karikatur: Weil | |
| das Mädchen Elsa (Ksenia Devriendt) ihren Eltern weismachen will, dass | |
| Essen allein eine Einstellungssache ist, erbricht es sich vor ihren Augen | |
| auf einen Teller und löffelt sich das Erbrochene danach rein. Der | |
| drastischen Darstellung, die – für die möglichen Ausmaße der Krankheit – | |
| noch lange nicht drastisch genug ist, wird durch den Ekel viel von ihrer | |
| Wirkmacht genommen. | |
| Denn das Gefühl von Ekel, nicht erst durch die Dschungelcamp-Ekelprüfungen, | |
| oder [4][Ruben Östlunds] und Matthias Glasners inszenierte Film-Kotzarien | |
| längst in der Kultur angesiedelt, ist weniger negativ besetzt als etwa | |
| Angst oder Schmerz. Der Philosoph Aurel Kolnai beschrieb 1929 in seinem | |
| Aufsatz „Der Ekel“: „Ekel […] ist körpernäher als alle anderen Formen… | |
| Abwehr und Abkehr; Ekel ist deshalb auch etwas anderes als moralische | |
| Verachtung und geradezu ein Gegenbegriff zu Angst. […] Im Ekel ist keine | |
| Bedrohung spürbar, nur […] unerträgliche Belästigung.“ | |
| „Club Zero“ ist kein Betroffenheitsfilm, keine schnurgerade, auf Heilung | |
| ausgelegte Krankheitserzählung. Eher sitzt er zwischen den Stühlen | |
| „Tragödie“ und „Groteske“. Ein Wagnis – Essstörungen werden oft fal… | |
| diagnostiziert oder behandelt und haben auch nicht zwingend mit dem | |
| lieblosen Verhalten von egoistischen Eltern zu tun. Zur Diskussion | |
| beizutragen, schafft der Film dennoch. | |
| 27 Mar 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Filmfestspiele-Cannes-2023/!5933381 | |
| [2] /Regisseurin-Hausner-ueber-Horrorfilm/!5651291 | |
| [3] /Memoiren-von-Jennette-McCurdy/!5944484 | |
| [4] /Satire-Triangle-of-Sadness-im-Kino/!5884017 | |
| ## AUTOREN | |
| Jenni Zylka | |
| ## TAGS | |
| Österreich | |
| Bulimie | |
| Spielfilm | |
| Essstörungen | |
| Manipulation | |
| Satire | |
| Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes | |
| Horrorfilm | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Filmfestspiele Cannes 2023: Lichtnahrung und Wässerchen | |
| Cannes Cannes 6: Aki Kaurismäki lässt viel trinken, in Jessica Hausners | |
| „Club Zero“ wird gefastet: Verhärtete Schüler stehen ratlosen Eltern | |
| gegenüber. | |
| Regisseurin Hausner über Horrorfilm: „Eine Art weiblicher Frankenstein“ | |
| Die Regisseurin Jessica Hausner über die Liebe zum Horrorfilm, | |
| Pastellfarben und Mütter mit schlechtem Gewissen in ihrem Film „Little | |
| Joe“. | |
| Regisseurin Hausner über Lourdes-Film: "Der Priester war eingeweiht" | |
| Als Jessica Hausner nach Lourdes kam, war sie schockiert über die vielen | |
| Kranken und ihre Hoffnungen. Wie dennoch dort ihr Film "Lourdes" entstehen | |
| konnte, erzählt sie im taz-Gespräch. |