# taz.de -- Inklusives Theater in Berlin: „Freudig scheitern“ | |
> „Inklusion Bühnenreif“ ist ein Begegnungsort für Menschen mit und ohne | |
> Behinderung. Denn Theater hilft, sich in andere hineinzuversetzen. Ein | |
> Besuch. | |
Bild: Spielen und für das echte Leben lernen: Workshop bei „Inklusion Bühne… | |
BERLIN taz | Es ist ein sonniger Sonntagvormittag Mitte Februar in | |
Berlin-Kreuzberg. Im Nachbarschaftshaus Urbanstraße, einem seit vielen | |
Jahrzehnten in der sozialen Nachbarschaftsarbeit aktiven Verein, findet ein | |
Workshop des Theaterprojekts „Inklusion Bühnenreif“ statt. Einmal im Monat | |
treffen sich [1][dabei Menschen mit und ohne Behinderung], um gemeinsam | |
Theater zu spielen und „Mut und Selbstwert für eine aktive | |
gesellschaftliche Teilhabe“ zu schöpfen, wie auf der Website zu lesen ist. | |
Ich betrete den großen, hohen Saal, in dem der Workshop abgehalten wird. | |
Bevor ich den Organisatoren des Workshops vorgestellt werde, bekomme ich | |
noch einen Corona-Antigentest in die Hand gedrückt. „Wegen den | |
Krebspatienten“, heißt es. | |
Wolfgang Wendlandt ist Diplom-Psychologe, Gesprächspsychotherapeut und | |
Verhaltenstherapeut. 2019 gründete er gemeinsam mit Linda Steuernagel | |
„Inklusion Bühnenreif“. | |
Für sein Lebenswerk bekam er gerade das Verdienstkreuz am Bande von | |
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verliehen. Er trägt es aber nicht, | |
es sei ihm zu hässlich, sagt er. Das Thema an diesem Tag sei „Heiter | |
scheitern“, erklärt er. Zuletzt hießen die Workshops „Sich zeigen“ oder | |
„Neue Wege gehen“. „Wir kriegen dich schon auf die Bühne!“, sagt er au… | |
mir. Er wird recht behalten. | |
„Inklusion Bühnenreif“ soll eine Begegnungsplattform für Menschen mit und | |
ohne Behinderung schaffen. Sozialphobiker, sehbehinderte Menschen, | |
Menschen, die stottern, und Menschen mit Krebserkrankungen sind hier. Sie | |
wollen gemeinsam Theater spielen – ohne Angst vor Misserfolg. „Wir werden | |
auf der Bühne heute ausprobieren zu scheitern und freudig zu scheitern!,“ | |
sagt Wendlandt. | |
## Weiche, klangvolle Töne | |
Noa Winkler ist seit 2020 ehrenamtlich bei „Inklusion Bühnenreif“ dabei und | |
unter anderem für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Ich frage, [2][warum | |
genau ein Theaterworkshop gewählt wurde], um Menschen mit und ohne | |
Behinderung zusammenzubringen. „Viele Spiele und Übungen aus der | |
Theaterwelt helfen, aus sich herauszukommen und in den Kontakt mit anderen | |
zu treten“, sagt Winkler. | |
Dann sitze ich in einem Sesselkreis mit etwa 30 Menschen, die meisten | |
schätze ich auf um die 60, es sind aber auch einige jüngere da. Im | |
Hintergrund spielt eine Frau auf einer Handpan, einem metallenen | |
Instrument, das aussieht wie ein kleines UFO. Weiche, klangvolle Töne gehen | |
davon aus und erfüllen den Raum. | |
Wolfgang Wendlandt steht auf der Bühne vor einem schwarzen Vorhang. Bevor | |
es losgeht, stellt er sich noch allen Neuen vor und weist auf den | |
„Kummerkasten“ hin: Eine Ehrenamtliche meldet sich als Ansprechperson für | |
Menschen, denen etwas auf dem Herzen liegt. | |
Das Aufwärmen übernimmt Noa Winkler. Die Sessel werden weggeschoben, wir | |
stehen im Kreis und beginnen uns alle im Takt zu bewegen und mit den | |
Fingern zu schnippen. Mir ist peinlich, dass ich überhaupt nicht mit den | |
Fingern schnippen kann, ich hoffe, dass es niemand merkt. | |
## Sich gesehen fühlen | |
„Ich bin Noa“, singt Noa Winkler laut in die Runde. Noch bevor ich mich | |
wundern kann, was jetzt passiert, antwortet die Gruppe: „Du bist Noa!“ So | |
geht es in der Runde weiter, bis ich drankomme. Ich werde kurz nervös, aber | |
dann bringe ich doch meinen Namen über die Lippen. Von 30 Menschen, die ich | |
noch nie in meinem Leben zuvor gesehen habe, kommt ein lautes „Du bist | |
Livio!“ zurück. Ich fühle mich überraschend wohl und gesehen. | |
Nach dem gemeinsamen Aufwärmen betritt Wolfgang Wendlandt wieder die Bühne. | |
Er steht vor einem Stuhl und will auf ihn draufspringen. „Ich bin | |
krebsbehindert, ich habe eine lange Narbe an meinem Bein“. Er streift mit | |
seiner Hand sein rechtes Bein entlang. „Warum will ich auf diesen Stuhl | |
springen? Will ich scheitern? Muss ich scheitern? Wir scheitern, wenn wir | |
an unsere Grenzen gehen.“ | |
Wendlandt weiß von vornherein, dass er es nicht schaffen wird, auf den | |
Stuhl zu springen. Deswegen hat er sich Hilfe mitgebracht. Er nimmt ein | |
Blatt Papier, legt es vor sich auf den Boden, geht in die Knie, sein Körper | |
bereitet sich auf den Absprung vor. Und dann springt er auf das Blatt | |
Papier. Ringsum wird geklatscht. „Scheitern“, sagt er, „ist abhängig von | |
den eigenen Einstellungen, davon, was man von sich verlangt. Oft stellen | |
wir uns zu hohe Ziele.“ | |
Daraufhin wird gemeinsam gesungen und ein Gedicht improvisiert. Man merkt, | |
dass manche Menschen hier an ihre Grenzen gehen. Dass sie sich überwinden | |
müssen, um sich zu zeigen. Trotzdem machen sie es. Sie singen, obwohl sie | |
denken, dass sie nicht singen können, oder sie trauen sich trotz Stottern | |
auf die Bühne. Und die Gruppe nimmt sie auf. „Für mich ist das nicht ganz | |
so leicht“, sagt ein Teilnehmer, „aber die ganze Atmosphäre hier und die | |
freundlichen Leute, die machen es einem dann leichter, auf die Bühne zu | |
gehen und mitzumachen.“ | |
## Spiel und echtes Leben | |
Pause. Es gibt Kaffee, Tee, Kekse und Obst. Es ist eine ruhige, entspannte | |
Stimmung. Ich sitze an einem Tisch gemeinsam mit zwei jüngeren Frauen und | |
einem Mann, der zum ersten Mal hier ist. Er hat einen Flyer über das | |
Projekt gesehen und war interessiert. Manche hören von FreundInnen von der | |
Gruppe, anderen wird sie von TherapeutInnen empfohlen. Wieder andere kommen | |
über das Nachbarschaftshaus dazu oder hören in den sozialen Medien von | |
„Inklusion Bühnenreif“. Auch eine Logopädin ist heute hier mit einem ihrer | |
Patienten. | |
Nach der Pause geht es ans Theaterspielen, zunächst Improvisationstheater. | |
Dabei erzählt jemand eine erfundene Situation in wenigen Worten, und andere | |
spielen diese dann auf der Bühne. Ein paar Szenen werden gespielt, zum | |
Beispiel gibt es einen fiesen Busfahrer, der Fahrgäste nicht mehr | |
zusteigen lässt und einfach abfährt. | |
Es wird auch diskutiert: Wie fühlt man sich in solchen Situationen im | |
echten Leben? Wie verhalten sich Menschen zueinander? Viele wünschen sich | |
mehr Verständnis und Rücksicht auf ihre Bedürfnisse. | |
Dann wird Playback-Theater gespielt, eine besondere Form des | |
Improvisationstheaters. Eine Person sitzt am Rand der Bühne und erzählt | |
eine Geschichte aus ihrem Leben. Auch hier geht es ums Scheitern. Vier | |
Personen stehen auf der Bühne und versuchen, die Geschichte darzustellen. | |
## Aktives Zuhören | |
„Die SpielerInnen werden beim Playback-Theater gefragt, achtsam der | |
Geschichte der ErzählerIn zu lauschen und sich dann in die Gefühls- und | |
Erlebenswelt hineinzuversetzen. Dabei können Vorurteile abgebaut und | |
andere Lebensrealitäten erlebbar gemacht werden“, sagt Noa Winkler. | |
Ich will das auch ausprobieren. Ich erzähle, [3][wie ich von zu Hause | |
ausgezogen bin, um ins Auslandssemester zu gehen]. Wie ich gedacht hatte, | |
ich werde alles alleine schaffen, werde meine Mutter nicht um Geld bitten, | |
mir alles selbst finanzieren, sie hat ja selbst nicht viel. Irgendwann bin | |
ich dann aber draufgekommen, dass ich es eben doch nicht alleine schaffe | |
und Unterstützung benötige. Ich erzähle davon, wie schlecht ich mich | |
gefühlt habe, als ich meine Mutter nach Geld fragen musste. Es fühlt sich | |
sehr verletzlich an, so eine persönliche Geschichte vor ganz fremden | |
Menschen preiszugeben. Ich bekomme Gänsehaut. | |
Dann sehe ich, wie meine Geschichte auf der Bühne gespielt wird. Wie | |
behutsam sie aufgegriffen wird, wie die SchauspielerInnen sich in mich | |
hineinversetzen und respektvoll meine Gefühlswelt offenbaren. | |
Zunächst sehe ich meine Vorfreude und Hoffnung auf ein selbstständiges | |
Leben auf der Bühne. Dann die Scham, die ich verspürte, als ich das Gefühl | |
hatte, gescheitert zu sein. Und zum Schluss noch die Erleichterung, als ich | |
realisierte, dass mich meine Mutter immer unterstützt. All das sehe ich auf | |
der Bühne, gespielt von Menschen, die mich noch nie zuvor gesehen, mir aber | |
aktiv zugehört haben und die versucht haben, zu fühlen, was ich gefühlt | |
habe. Das berührt mich. | |
„Es ist schön, dass es hier so einen Safe Space gibt. Dann weiß man, wenn | |
man runterfällt, ist es immer weich“. sagt ein Teilnehmer am Ende in der | |
Feedbackrunde. Diesen Safe Space habe ich auch gespürt. Zu keinem Zeitpunkt | |
des Workshops habe ich mich fehl am Platz gefühlt. Weil Fehler nicht | |
gezählt werden, weil man nicht beurteilt wurde. Und weil sich das | |
unglaublich befreiend anfühlt. | |
2021 wurde ein Dokumentarfilm über „Inklusion Bühnenreif“ gedreht. Zu seh… | |
ist er am 15. 3.2024 um 18 Uhr im Bundesplatz-Kino in Berlin. | |
14 Mar 2024 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Livio Koppe | |
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