| # taz.de -- Asyl in Deutschland: Verbannt per Bezahlkarte | |
| > Das Aus für Bargeld nimmt Geflüchteten ein Minimum an Freiheit und | |
| > Teilhabemöglichkeiten. Ein Theaterstück in vier Akten. | |
| Bild: Wo das Leben pulsiert, kann man die Bezahlkarte nicht nutzen | |
| Die Bezahlkarte für Geflüchtete ist die Antwort auf eine Frage, die niemand | |
| gestellt hat. Ein Theaterstück, das die Bühne für ein Publikum beleuchtet, | |
| das längst erkannt hat, dass der Kaiser keine Kleider trägt. Die Politik | |
| löst mit der Bezahlkarte Probleme, die so real sind wie die Monster unter | |
| dem Bett, während mit ihr die echten verfassungswidrigen Ungeheuer – | |
| Ungleichheit, Diskriminierung und Ausgrenzung – frei herumlaufen, ungezähmt | |
| und ungehindert. Und so steht Frau Bezahlkarte stolz im Rampenlicht, | |
| umjubelt von all jenen, die noch nie etwas von dem Grundrecht auf | |
| Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gehört haben. | |
| In einem bemerkenswerten Akt der Einigkeit hat die Bundesregierung | |
| beschlossen, [1][dass die Bezahlkarte offiziell im | |
| Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bundesweit geregelt werden soll]. Das | |
| AsylbLG, ein Sondergesetz der Leistungsgewährung im Sozialrecht für | |
| Asylsuchende und Geflüchtete, wird seit drei Jahrzehnten liebevoll vom | |
| Gesetzgeber gepflegt. Mit Hingabe werden die verfassungsrechtlichen Lücken | |
| gestopft, doch der bräunliche Grundton bleibt bestehen. Während andere | |
| Bedürftige in Deutschland Anspruch auf Bürgergeld oder eine | |
| Rentenaufstockung nach dem Sozialgesetzbuch haben, [2][müssen sich | |
| Asylsuchende mit Leistungen begnügen, die aktuell mit knapp 20 Prozent | |
| unter dem liegen], was allgemein als menschenwürdiges Existenzminimum | |
| angesehen wird. Für ukrainische Geflüchtete gilt das AsylbLG nicht. | |
| Die Bezahlkarte, die als Brückenbauerin zwischen Integration und | |
| Gesellschaft angepriesen wird, steuert gerade darauf zu, das Gegenteil zu | |
| bewirken: Sie wird die Geflüchteten endgültig aus der gesellschaftlichen | |
| Teilhabe verbannen. | |
| ## Erster Akt: Der Rahmen | |
| Der Vorhang hebt sich, die Bühne zeigt ein Büro, im Hintergrund sieht man | |
| Umrisse des Reichstagsgebäudes. Im Mittelpunkt steht ein antikes | |
| Schreibpult, hinter dem der Gesetzgeber sitzt. Eine Tafel dahinter zeigt | |
| das Grundgesetz, eine leuchtende Inschrift hebt Artikel 1 in Verbindung mit | |
| Artikel 20 hervor. Der Gesetzgeber beginnt zu sprechen, seine Stimme hallt | |
| durch den Raum: „Das Grundgesetz verpflichtet uns, doch es gibt uns auch | |
| Freiraum. Es fordert die Sicherung des Existenzminimums, lässt uns aber die | |
| Wahl der Mittel – ob in Geld, Sachwerten oder Dienstleistungen.“ | |
| Ein Schatten fällt über die Szene: „Doch unser Gestaltungsspielraum ist | |
| begrenzt. Wir müssen Bedarfe realistisch erfassen und Leistungen | |
| transparent bemessen. Migrationspolitische Überlegungen dürfen nicht dazu | |
| führen, dass wir verfassungswidrig handeln.“ | |
| Plötzlich ändert sich die Beleuchtung, und vier Schatten treten auf die | |
| Bühne, jeder repräsentiert ein Problem der Bezahlkarte. Sie bewegen sich um | |
| den Gesetzgeber herum, flüstern: Verlust der Autonomie und | |
| Entscheidungsfreiheit, keine Teilhabe, Unterdeckung des existenznotwendigen | |
| Bedarfs. Der Gesetzgeber blickt in die Ferne, während die Schatten | |
| verblassen. Er murmelt: „Ob unsere Pläne für die Bezahlkarte diesen | |
| strengen Anforderungen standhalten?“ | |
| ## Zweiter Akt: Das Dilemma | |
| Eine Straßenszene mit kleinen Geschäften, Flohmärkten. Orte, wo das Leben | |
| pulsiert und Schnäppchen zu finden sind. Die Bezahlkarte kann man hier | |
| nicht nutzen, zahlen geht nur bar. | |
| Auf der Bühne erscheint eine Szene aus Hamburg; hier dürfen Geflüchtete | |
| maximal 50 Euro in bar abheben. Überweisungen sind nicht möglich. Im | |
| Hintergrund wird der Vorschlag, den Kauf von Tabak und Alkohol technisch zu | |
| unterbinden, durch eine Gruppe dargestellt, die im Supermarkt steht und | |
| unfähig ist, sich zu bewegen. Die Ungleichbehandlung wird durch ein | |
| geteiltes Licht dargestellt, das diejenigen mit Bezahlkarte von den anderen | |
| trennt, die frei herumlaufen. | |
| Ein Schauspieler tritt vor: „Das grundrechtlich geschützte Existenzminimum | |
| umfasst mehr als nur die Sicherung der physischen Existenz. Es geht auch um | |
| die soziokulturelle Teilhabe, die es Menschen ermöglicht, am politischen, | |
| kulturellen und sozialen Leben teilzunehmen. | |
| ## Dritter Akt: Die Mauer muss weg | |
| Eine Mauer teilt die Bühne – auf der einen Seite die weite Welt, auf der | |
| anderen ein durch Mauern begrenzter Raum, der thüringische Landkreis Greiz. | |
| Eine Schauspielerin bewegt sich über die Bühne, bis sie abrupt vor der | |
| Mauer stehen bleibt. Stimme aus dem Off: „Im Landkreis Greiz sehen wir, wie | |
| der Einsatzbereich der Bezahlkarte beschränkt wird, denn sie funktioniert | |
| nur dort. Das ist nicht tragbar.“ | |
| ## Vierter Akt: Justitia spricht | |
| Auf der Bühne tritt eine Richterin in roter Robe vor. Sie sagt: „Wir müssen | |
| unsere Diskussion über die Bezahlkarte auf eine Basis aus Fakten und | |
| verfassungsrechtlichen Grundsätzen stellen. Die verbreitete Annahme, dass | |
| Geflüchtete ihre Sozialleistungen ins Ausland transferieren, ist nicht | |
| stichhaltig. Tatsächlich führt die Bezahlkarte aber zu einer erheblichen | |
| Einschränkung der Geflüchteten, indem sie ihnen die grundlegende Freiheit | |
| nimmt, über ihren Alltag und ihre Bedürfnisse selbst zu entscheiden.“ Und | |
| während sich die Bühne verdunkelt, fallen Sparkassenkarten vom Himmel, im | |
| Hintergrund erscheint der Slogan: Die Lösung für alle! | |
| Die Bezahlkarte für Geflüchtete ist die Antwort auf eine Frage, die niemand | |
| gestellt hat. Ein Theaterstück, das die Bühne für ein Publikum beleuchtet, | |
| das längst erkannt hat, dass der Kaiser keine Kleider trägt. Hinter der | |
| Bühne klopfen sich Regierungsmitglieder von SPD, Grünen und FDP gegenseitig | |
| auf die Schulter; die Luft [3][ist vor Selbstbeweihräucherung dick]. Sie | |
| geben vor, die Fluchtursache schlechthin gefunden und beseitigt zu haben. | |
| Dort, wo Dystopie die Realität trifft, murmelt die Ironie leise über die | |
| seltsame Art von Erbarmen, die wir den Schwächsten unter uns zu bieten | |
| haben. | |
| 12 Mar 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Bezahlkarte-fuer-Gefluechtete-in-Thueringen/!5997072 | |
| [2] /Debatte-um-Bezahlkarte-fuer-Gefluechtete/!5994527 | |
| [3] https://www.hessenschau.de/politik/hessens-ministerpraesident-boris-rhein-b… | |
| ## AUTOREN | |
| Farnaz Nasiriamini | |
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