# taz.de -- Provenienzrecherche zu NS-Raubgut: In jeder Akte steckt ein Mensch | |
> Die „Vermögensverwertungsstelle“ in Potsdam zeigt die Rolle der | |
> Bürokratie in der NS-Vernichtungsmaschinerie. Eine Spurensuche. | |
Bild: „Die Menschen verschwinden in diesen Akten völlig“, sagt der wissens… | |
Potsdam taz | Ganze 41.600 Akten, 2,5 Millionen Blätter. Das ist der Umfang | |
der Dokumente, die die „Vermögensverwertungsstelle“ der Berliner | |
Oberfinanzbehörde in der Zeit von Januar 1942 bis zu ihrem Ende im Mai 1945 | |
sammelte. Das Amt war eigens dafür eingerichtet worden, das Eigentum | |
vertriebener oder deportierter Menschen – zum Großteil Juden und Jüdinnen, | |
aber auch Sinti und Roma – zu verwalten und zu Geld zu machen. Erfolgreich, | |
wie die 120 Regalmeter füllenden Akten zeigen: In nicht einmal drei Jahren | |
wurden durch die Verwertung von NS-Raubgut rund 1,5 Milliarden Reichsmark | |
umgesetzt, das entspricht einem heutigen Wert von etwa vier Milliarden | |
Euro. | |
„Bezeichnend ist, dass die Menschen in diesen Akten völlig verschwinden“, | |
sagt der wissenschaftliche Archivar Dominic Strieder. Allein die | |
materiellen Werte interessieren – der Großteil der Akten besteht aus | |
Inventarlisten, Kaufverträgen, Quittungen sowie Korrespondenzen mit Ämtern, | |
Banken und Privatfirmen. Die geraubten Güter, um die es hier geht, reichen | |
von Immobilien über Geldkonten, Hausrat, Möbeln, Kunst und persönlichen | |
Gegenständen bis buchstäblich zum letzten Hemd. | |
„Da ist wirklich alles dabei“, sagt Stella Baßenhoff. Sie ist eine der drei | |
Provenienzforscherinnen, die im Zuge eines von der Beauftragten der | |
Bundesregierung für Kultur und Medien geförderten Projekts [1][die Akten | |
der Vermögensverwertungsstelle systematisch nach geraubtem Kulturgut | |
durchforsten]. Der winzigste Gegenstand, auf den sie hierbei stieß, sei ein | |
Kinderzahn in Goldfassung gewesen, erzählt sie der taz. | |
Perfide ist auch: Die NS-Beamt:innen haben die Angst und das | |
Pflichtbewusstsein der jüdischen Bürger:innen gegenüber den staatlichen | |
Institutionen gezielt missbraucht. In der „Vermögenserklärung“ ließen sie | |
die Opfer ausführlich über sich Auskunft geben. Meist handschriftlich legen | |
die Betroffenen ihr Leben in dem 12- bis 16-seitigen Formular offen, indem | |
sie detaillierte Angaben zu ihrer letzten Adresse – meist handelt es sich | |
hier um Zimmer in „Judenhäusern“, in die sie umziehen mussten –, zu ihrer | |
Arbeitsstelle – meist Zwangsarbeit -, zu dem Verbleib ihrer Angehörigen und | |
natürlich zu ihrem Vermögen machen. Nicht ahnend, dass dies das letzte | |
Zeugnis sein wird, das viele von ihnen hinterlassen werden. | |
## Momentaufnahme jüdischen Lebens | |
Die mobilen und immobilen Werte, die in diesem Zuge aufgelistet wurden, | |
geben eine präzise Momentaufnahme von jüdischem Leben im | |
Nationalsozialismus. Weil Not und Mangel den Alltag beherrschten, blieben | |
viele Zeilen leer. Etliche Finanzgesetze wie die Judenvermögensabgabe | |
hatten seit 1933 zu erheblichen Vermögensverlusten geführt, Berufsverbote | |
verhinderten Einkünfte. | |
So notiert die Malerin Elly Arnheim in ihrer Vermögenserklärung in der | |
Zeile „Gemälde, Kunst, Antiquitäten“: „Große Anzahl Malstudien, die ke… | |
Wert haben, weil sie nicht verkauft werden dürfen.“ Arnheim lebte vor der | |
Deportation in das Getto Riga im Januar 1942 von einem kleinen staatlichen | |
Darlehen in Form einer Wahlrente. Aber auch die, die Zwangsarbeit leisten | |
mussten, standen nicht besser da. Der Lohn war so knapp bemessen wie die | |
Lebensmittel auf jüdischen Lebensmittelkarten. Viele der in den Listen | |
fehlenden Güter müssen als Tauschmittel auf den Schwarzmarkt gewandert | |
sein. | |
Auch Else Ernestine Neuländer-Simon beantwortete einen Großteil des | |
Fragebogens mit einem simplen Strich. Die Modefotografin, die sich unter | |
dem Künstlernamen „Yva“ einen Namen gemacht hatte, besaß zum Zeitpunkt | |
ihrer Deportation im Juni 1942 nicht einmal mehr einen Fotoapparat. Als sie | |
1940 zusammen mit Mann Alfred ihre Wohnung verlassen und ein Zimmer in | |
einer „Judenwohnung“ beziehen musste, konnten nur wenig Sachen mit. Das | |
Ehepaar hatte sich zur Auswanderung entschieden – zu der es jedoch nicht | |
kam. Yva wurde gezwungen, als Röntgenassistentin im Jüdischen Krankenhaus | |
zu arbeiten. Vergeblich erwartete sie ihr altes Leben in Form von 34 Kisten | |
mit Fotoausrüstung, Möbeln und Hausrat in einem Lager im Hamburger Hafen. | |
Aber auch Kleinvieh macht Mist, wussten die Nazi-Bürokraten, und so finden | |
sich auf der Inventarliste des zu räumenden Zimmers des Ehepaars Else und | |
Alfred Simon neben wenigen Möbeln ein paar Koffer, Schuhe, Bettsachen, | |
Schallplatten sowie ein Zeichenbrett. Die Schallplatten wurden wohl vom | |
Propagandaministerium einkassiert, den Rest erstand ein Händler namens Karl | |
Gross für einen Betrag von 154,50 Reichsmark, errechnet aus dem Schätzpreis | |
minus dreißig Prozent. Das war im August 1942, nicht einmal zwei Monate | |
nach der Deportation und dem Mord an den Simons. Die rund 200 Bürokraten | |
der Vermögensverwertungsstelle waren nicht nur genau, sondern auch schnell. | |
## Schnell und planvoll | |
„Das mussten sie auch sein“, erklärt Archivar Dominic Strieder. „Der | |
Oberfinanzpräsident übernahm ja nicht nur das Eigentum, sondern auch die | |
Schulden der Juden und Jüdinnen.“ Damit sich nicht weitere Kosten in Form | |
von ausfallenden Mieteinnahmen anhäuften, mussten die von den Deportierten | |
angemieteten Räume so schnell wie möglich geräumt werden, selbst für die | |
Abmeldung des Stroms sorgte das Amt, zeigen Belege in den Akten. | |
Derart reibungslose Abläufe erforderten einen genauen Plan sowie ein | |
sorgfältig abgestimmtes Zusammenspiel mit anderen staatlichen Institutionen | |
sowie zahlreichen privaten Firmen. So gab die Gestapo Transportlisten an | |
die Vermögensverwertungsstelle weiter, die Nummer, die sie der deportierten | |
Person verpassten, findet sich in der Vermögensakte wieder. Es werden | |
Gerichtsvollzieher zur Inventur sowie Sachverständige zur Schätzung von | |
Kunstobjekten bestellt. Wohnungsämter quartieren ausgebombte „Arier“ in die | |
jüdischen Wohnstätten ein, an sie gingen auch „Spenden“ jüdischer Kleider | |
und Alltagsdinge. | |
Den Rest „übernahmen“ unzählige Händler zu Schleuderpreisen, neben ihnen | |
profitierten Auktionator:innen und Transportunternehmen – wenn sich | |
der Transport nicht erübrigte, weil die Nachbarn schon gierig zugeschlagen | |
hatten. So fand die Historikerin Carolin Lange über die Akte der | |
dreiköpfigen Familie Priebatsch heraus, dass sich die nichtjüdische | |
Nachbarin vom selben Stockwerk Ehebett, Kinderzimmer- und | |
Wohnzimmereinrichtung unter den Nagel riss. „Anhand dieser Akten wird | |
deutlich, wie verbreitet und alltäglich der Raub an der jüdischen | |
Bevölkerung war“, so Dominic Strieder. „Dass niemand davon gewusst hat, | |
lässt sich eindeutig widerlegen.“ | |
Selbst da, wo sich trotz aller bürokratischen Akribie Lücken in den Akten | |
auftun, lässt sich die Geschichte dieses massenhaft organisierten Raubes | |
weitererzählen. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was | |
wohl mit den 21 Kisten geschehen ist, die zu dem im Hamburger Hafen | |
eingelagerten Besitz der Fotografin Yva und ihres Mannes gehörten – die | |
aber bei der aus Berlin angeordneten Versteigerung plötzlich fehlten. Dass | |
die Kisten bei einem Bombenangriff zerstört wurden, so wie das | |
Logistikunternehmen Röhlig in einem Schreiben behauptet, scheint wenig | |
glaubwürdig. Vermutlich wird hier nur jemand schneller gewesen sein. Damit | |
hätten Fotoapparate und andere Dinge ihre Besitzer also überdauert – und | |
sind womöglich heute noch in deutschen Schränken zu finden. | |
## Suche nach Nachkommen | |
Was die Bilder von Elly Arnheim angeht, so kann man sie heute immer wieder | |
mal auf Kunstauktionen kaufen. Viel bringen sie nicht ein. Die Malerin und | |
einstige Schülerin von Käthe Kollwitz ist heute kaum bekannt, jenseits der | |
Potsdamer Akte lässt sich nur wenig über sie in Erfahrung bringen. Nicht | |
einmal eine Fotografie gibt es von ihr. | |
In anderen Fällen ist die Recherche erfolgreicher. So weist das Team der | |
Provenienzforschung im Landeshauptarchiv als Zwischenergebnis auf 230 | |
Kunstwerke hin, die 13 jüdischen Familien zugeordnet werden können. Über | |
die entsprechenden Einträge auf „Looted Art“, eine der beiden großen | |
Datenbanken, auf denen nach NS-geraubtem Kulturgut gesucht werden kann, | |
hoffen die Forscherinnen nun auf Nachkommen dieser Familien zu stoßen | |
und oder verschollenen Kunstwerken auf die Spur zu kommen. | |
Bei Kulturgütern, die sich in staatlichen Einrichtungen befinden, ist eine | |
Rückgabe beziehungsweise Entschädigung auch heute noch möglich – so will es | |
die Washingtoner Erklärung, mit der sich auch Deutschland verpflichtet hat, | |
für „gerechte und faire Lösungen“ zu sorgen. Ein erster Kontakt hat sich | |
bereits ergeben, erzählt Provenienzforscherin Stella Baßenhoff: „Diesem | |
Nachkommen geht es nicht nur um das Kunstwerk. Er möchte mehr über die | |
Geschichte seiner Familie erfahren.“ | |
Geschichten lassen sich in den Akten der Vermögensverwertungsstelle noch | |
viele finden, dessen sind sich die Mitarbeiter:innen des | |
Landeshauptarchivs sicher. „Jeder Interessierte, ganz egal, ob Laie oder | |
Profihistoriker ist eingeladen, in diesen Akten zu recherchieren“, sagt | |
Dominic Strieder. Nach Potsdam reisen muss man dafür nicht. Seit Februar | |
sind die Akten online abrufbar. | |
3 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Karlotta Ehrenberg | |
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