# taz.de -- Berlinale Doku „Baldiga“: Ein Kind Nan Goldins | |
> Jürgen Baldiga war ein begnadeter Fotograf und hatte ein rauschhaftes, | |
> kurzes Leben. Markus Stein hat einen Dokumentarfilm über ihn gedreht. | |
Bild: Keine Angst, sondern Leben: Baldiga | |
[1][Jürgen Baldiga ist eine in Kreisen schwuler Männer zunächst in | |
Westberlin weltberühmte Figur.] Ein Mann, Jahrgang 1959, geboren in | |
halbwegs sortierten, aber engen proletarischen Verhältnissen in Essen, der | |
Vater Bergmann. Er kam 1979 nach Berlin mit dem entschlossensten Programm, | |
das sich einer nur geben kann, der aus Zwängen und Nervereien heraus will: | |
Nie mehr Niederlagen erleiden, dafür Triumphe feiern, sich selbst | |
verwirklichen – und das auch noch in jeder Hinsicht radikal, sichtbar. | |
Er hat bis zu seinem freiwillig gewählten Sterbedatum, von Aids gepeinigt, | |
der Körper nicht mehr mit irgendetwas vereinbar, was das Leben erträglich | |
macht, diese Absichten gültig gemacht. Baldiga, der schon zu Schülerzeiten | |
als Sexarbeiter zu jobben begann, lernte den Beruf des Kochs; aber auch | |
das, das ordentliche Malochen hinter Töpfen und Pfannen, stand seinen | |
Ambitionen im Weg, er wollte Künstler werden. | |
Und wurde es: Baldiga gilt mit seinen Arbeiten als einer der wichtigsten | |
Fotografen (nicht nur in Berlin) seiner Generation, die das eigene Leben | |
radikal in Szene setzten und zu Abbildungen brachten. | |
Regisseur Markus Stein, thematisch 2012 mit „Unter Männern – Schwul in der | |
DDR“ bekannter geworden, hat aus Baldigas rasendem Leben eine gut | |
anderthalbstündige Dokumentation gefertigt, hat Zeitzeuginnen* zu Wort | |
kommen und ins Bild setzen lassen, zeichnet nach, was Baldiga trieb – immer | |
stärker, weil der Titelheld früh wusste, dass die Aidsepidemie ihn selbst | |
betraf, ihn krank machte und schließlich, es gab noch keine, wie | |
heutzutage, halbwegs sicheren Überlebensmedikamente, sterben ließ. | |
## Niemals Opfer sein | |
Insofern ist der Titel dieses Dokuportraits gut gewählt: „Baldiga – | |
Entsichertes Herz“ [2][(Verleih Salzgeber]), das ganz dem | |
Hildegard-Knef-Credo namens „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ folgte u… | |
jedes Laben am Opfer(da)sein (der Homoverfolgung, der HIV-Infektion etc.) | |
verweigerte. | |
Baldiga wollte sein Herz entsichern, als er noch im Ruhrgebiet aufbrach, | |
und so verbrachte er seine Jahre. Er hatte Liebhaber sondergleichen, er war | |
Teil der Tuntengruppe „Ladies Neid“, auch eine legendäre Geschichte aus | |
alten Westberliner Schwulentagen. | |
Das alles sieht man in zügig geschnitten Bildschnipselfolgen, auch sein | |
letzter Freund schon in siechenden Zeiten, kommt zu Wort, ein Bild der | |
Liebe, das dieser schildert. Sie waren gar noch in New York, mal im MoMa | |
vorbeischauen, Welt genießen, raubauzig, gierig, schön und klug. Was aber | |
letztlich doch ein wenig ratlos macht, was dieses Dokuportrait fast fahl | |
macht, ist seine Humorarmut. | |
Man spürt nicht, was die Herzen im Berlin [3][der Aidsheimsuchung] schlagen | |
ließ, so richtig. Alles, was von man Baldiga so hörte, hatte drastischen | |
Witz, Alltagseleganz und energischen „I will Survive“-Spirit: Mehr ist | |
mehr, Dezenz etwas für Mutlose. „Baldiga. Entsichertes Herz“ ist so gesehen | |
allzu halbherzig geraten, in der Art der Draufschau vielleicht, ja, zu | |
heterosexuellen Blickes. | |
## Mehr Rausch und Jetzigkeit | |
Es hätte mehr Zeitzeugen gezeigt werden sollen, mehr Überlieferungen aus | |
einem Leben, das auf Rausch und Jetzigkeit geeicht war. Mit starken | |
Momenten aus Alltagssituationen, um – ja, auch das gibt es in Räuschen – | |
Langeweile, Aufbrüche und Brüche reicher. | |
Jürgen Baldiga, ein Kind Nan Goldins, ein Jünger der radikalen | |
Selbsteinbringung, weil er sich verbot, Angst zu haben: Er hatte ein kurzes | |
Leben, doch das hat sich gelohnt. | |
Alles, was von man Baldiga so hörte, hatte drastischen Witz, Alltagseleganz | |
und energischen„I will Survive“-Spirit: | |
23 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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