| # taz.de -- Historiker über Israels Zukunft: Einen Ausweg suchen | |
| > Der israelische Historiker Moshe Zimmermann über Wege aus dem Krieg in | |
| > Gaza und den falschen Vorwurf, Zionismus sei Kolonialismus. | |
| Bild: In Zukunft zwei Staaten? Blick auf die Landschaft bei Jerusalem, im Vorde… | |
| wochentaz: Sie bezeichnen sich selbst als einen leidenschaftlichen | |
| Vertreter der Zweistaatenlösung. Hand aufs Herz, [1][sehen Sie dazu nach | |
| dem 7. 10. tatsächlich eine Chance]? | |
| Moshe Zimmermann: Sämtliche Alternativen zur Zweistaatenlösung sind weniger | |
| konstruktiv, oder auch katastrophal. Es geht jetzt um die Umsetzung in die | |
| Praxis. Und wir müssen über den Preis sprechen. | |
| Der könnte sich als zu hoch herausstellen. Könnte eine Absichtserklärung | |
| zur Zweistaatenlösung in der jetzigen Zeit nicht als Belohnung für den 7. | |
| Oktober und die Taten der Hamas verstanden werden? | |
| Es wäre eine Belohnung für Israel! | |
| Wollen Sie das näher erörtern? | |
| Ich formuliere es mit Absicht provokativ. Die Begründung, es sei eine | |
| Belohnung, wird von denen ins Feld geführt, denen daran gelegen ist, die | |
| Zweistaatenlösung zu verhindern. Israel muss aber aus dieser Sackgasse | |
| raus. Daher sage ich, es wäre eine Belohnung für unser Land, wenn wir uns | |
| in Richtung Verhandlungen und Verständigung mit den Palästinensern bewegen. | |
| Was sind aus Ihrer Sicht die größten Friedenshindernisse? | |
| Auf Seite der Palästinenser gibt es eine große Gruppe – wie groß sie | |
| tatsächlich ist, weiß ich nicht –, die aus Prinzip gegen einen Frieden mit | |
| Israel ist. Auch die Netanjahu-Regierung lehnt eine Verständigung mit den | |
| Palästinensern prinzipiell ab. Die Begründung lautet stets, die | |
| Palästinenser seien unzuverlässig. Und mit dem Feind könne man keine | |
| Vereinbarung erreichen. Das ist die Argumentation der aktuellen Regierung, | |
| die aus meiner Sicht aber nur ein Vorwand ist. Mehr noch. Die israelische | |
| Politik hat sich bemüht, die palästinensische Führung zwischen Westbank und | |
| Gaza zu spalten. Nach dem Prinzip divide et impera hat man hier jedoch | |
| nicht das impera erreicht, sondern einen Stillstand herbeigeführt. | |
| Im Buch geben Sie das Jahr 1977 als entscheidenden Wendepunkt an. Warum? | |
| Bis zum Jahr 1977 wurde das Land von einer Koalition regiert, bei der die | |
| Führungsrolle der Arbeiterpartei zukam. Ab 1977 sind es die | |
| nationalistische Likud-Partei und ihre Alliierten, die das Land regieren. | |
| Die Arbeiterpartei war grundlegend anders eingestellt bei den Themen | |
| Sicherheit und der Rolle der Palästinenser. Eine Unterbrechung fand 1992 | |
| mit der Wahl Jitzchak Rabins zum Regierungschef statt. In Form des Osloer | |
| Abkommens schien eine Alternative da – Frieden mit den Palästinensern. Seit | |
| der Ermordung Rabins sind wir back to square one. | |
| Sie schreiben in Ihrem Buch, der Grundkonflikt habe sich zwischen | |
| Palästinensern und Israelis seit drei Jahrzehnten nicht verändert. Doch | |
| lässt sich die Rolle, die der Iran in jüngster Zeit spielt, nicht | |
| ausblenden. | |
| [2][Iran spielt in diesem Konflikt bereits seit 1979 eine Rolle.] Mit | |
| Khomeini begann eine neue Phase in der Beziehung zwischen Israelis und | |
| Palästinensern. Strukturell aber bleibt die Auseinandersetzung unverändert. | |
| Netanjahu setzt auf Abschreckung gegen die atomare Bewaffnung des Iran. Das | |
| ist meines Erachtens eine Fehleinschätzung der Situation. Weil die | |
| eigentliche Gefahr nicht das Atomprogramm des Iran ist, sondern die | |
| Fähigkeit, durch Handlanger Israel angreifen zu können. | |
| Ziel des Irans und seiner Handlanger ist aber nicht die Herbeiführung eines | |
| Palästinenserstaates, sondern die Auslöschung Israels. | |
| Das ist die Sichtweise, die einer Korrektur bedarf. Dass Hisbollah und | |
| Hamas Israel zerstören wollen, ist hinlänglich bekannt, das gehört zu deren | |
| Ideologie und Weltanschauung. Der Iran jedoch überlegt, ob er tatsächlich | |
| bereit ist, für eine israelische Niederlage seine Interessen, seine | |
| Sicherheit, seine Existenz aufzuopfern. Das geschieht unter dem Eindruck | |
| der Drohungen der Amerikaner. Zum Glück haben sich die USA nach dem 7. | |
| Oktober klar positioniert. Das Wort „don’t“, das Präsident Biden | |
| ausgesprochen hat, hat uns bislang den großangelegten Zweifrontenkrieg | |
| erspart. | |
| Schwenken wir nach Deutschland und die hiesige Betrachtung des Konflikts. | |
| Sie kritisieren die deutsche Staatsräson und bezeichnen sie als „hohlen | |
| Slogan“. Was erscheint Ihnen so hohl? | |
| Das Fehlen von Inhalten ist das Problem und macht die Benutzung dieser | |
| Formel hohl oder zu einer Floskel. Wenn die Leute darunter verstehen, dass | |
| wir bedingungslos hinter Israel stehen, was auch immer Israel tut, ist das | |
| natürlich falsch. Israel kann eine schlechte Regierung haben und eine | |
| falsche Politik machen. Dahinter muss man nicht automatisch stehen. | |
| Sie schreiben auch, Deutschland solle im Konflikt mehr Druck auf Israel | |
| ausüben. Wäre das eine angemessene Rolle für Nachfahren der NS-Täter? | |
| Gerade deshalb. Als Erben der Täter muss man aus der Geschichte etwas | |
| lernen. Da versteht es sich, nicht an der Seite von Rassisten zu stehen. | |
| Jedoch auch nicht an der Seite von Antisemiten. Momentan erleben wir | |
| allenthalben israelbezogenen Antisemitismus. Den wollen Sie insbesondere | |
| bei der BDS-Bewegung jedoch nicht erkennen. Warum nicht? | |
| Wenn man israelische Waren boykottiert, weil sie aus den besetzten Gebieten | |
| stammen, ist dies nicht per se antisemitisch. | |
| Wo aber fängt Ihrer Ansicht nach der Antisemitismus an? | |
| Dann, wenn die alten Vorurteile gegen Juden die Grundlage für die Kritik an | |
| Israel werden; wenn die Begründung für den Boykott lautet, Juden versuchen | |
| die Welt zu beherrschen. Oder wenn man Israel auslöschen möchte. Ich | |
| beschäftige mich seit fast 50 Jahren mit Antisemitismus und seinen | |
| Erscheinungsformen. Glauben Sie mir, ich erkenne ihn, wo ich ihm begegne. | |
| Sie üben im Buch – für einige sicher überraschend – Kritik an der | |
| postkolonialen Lesart des Konflikts. Was sehen Sie als problematisch an? | |
| Der Zionismus entstand nicht als Kolonialbewegung. Er war national | |
| motiviert. Ihm zugrunde liegt der Wunsch von Juden, sich als Nation zu | |
| definieren. Dieser Wunsch ist legitim. Die Auswanderer nach Palästina waren | |
| – wie ich im Buch betone – keine Gesandten eines europäischen Imperiums, | |
| sondern sie waren Verfolgte und Vertriebene, die gezwungen waren, Europa zu | |
| verlassen. Das ist eine Situation, die man nicht eine typisch | |
| kolonialistische nennen kann, und deswegen ist diese pauschale | |
| postkoloniale Betrachtung des Zionismus im Nahen Osten oder Israel | |
| mindestens undifferenziert und im Endeffekt auch unfair. Der Kampf der | |
| zionistischen Bewegung gegen die englische Mandatsmacht war sogar ein Kampf | |
| gegen Kolonialismus. Die postkoloniale Leseart der Siedlungsbewegung im | |
| Westjordanland seit 1967 halte ich, im Gegensatz, für berechtigt. | |
| Hat der Wunsch nach einer konsequenten Trennung in Israel und Palästina | |
| seit dem 7. Oktober wieder zugenommen? | |
| Absolut. Zuletzt war das Thema [3][unter der Netanjahu-Regierung] auf der | |
| einen und der Hamas auf der anderen Seite begraben. Auch auf der | |
| internationalen Bühne akzeptierte man die Erzählung von der | |
| Nichtrealisierbarkeit. Seit dem 7. Oktober erinnert man sich aber wieder | |
| daran, dass es ohne die Zweistaatenlösung keinen akzeptablen Ausweg gibt. | |
| Die Zerschlagung der Hamas kann nicht das „Endziel“ sein. Daher müssen wir | |
| in Israel einen Schritt in eine andere Richtung machen. | |
| 4 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Chris Schinke | |
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