# taz.de -- Die Wahrheit: Kunst-Epiphanien an der Zonengrenze | |
> Kann die Documenta nach den antisemitischen Skandalen überhaupt noch in | |
> Kassel stattfinden? Oder muss sie in die Stadt der Berlinale ziehen? | |
Bild: Himmelsstürmer: Die Skulptur von Jonathan Borofsky findet bei den Kassel… | |
Ob die „Documenta 16“ tatsächlich stattfinden wird? 2027? In Kassel? | |
Während des Skandals der letzten Ausstellung äußerten ja nicht wenige | |
Kunstbetriebler aus der Hauptstadt, es sei sowieso schon lange eine | |
Zumutung, eine Weltkunstausstellung an dieser nordhessischen Milchkanne zu | |
veranstalten. | |
Oft stellten sie sogar eine eindeutige Verbindung zwischen der | |
Provinzialität des Ortes und den antisemitischen Entgleisungen her. Und | |
spätestens durch die Berlinale-Preisverleihung wurde ja bewiesen, dass eine | |
simplifizierende | |
Palästina-gut-und-antikolonial-Israel-böse-und-genozidal-Propaganda auf | |
einer Kulturveranstaltung in Berlin undenkbar ist. | |
Obwohl ich weiß, dass sich weder die Ausstellungsmacher, weder Ausstellende | |
noch Besucherinnen jemals für den Ort des Geschehens interessiert haben, | |
hier ein zutiefst provinzielles Plädoyer eines Ex-Kasselers für die | |
Fortführung der Documenta genau dort: in Hessisch-Sibirien. | |
Kassel ist keine üble Stadt. Man kann da leben, arbeiten, aufwachsen, ohne | |
traumatisiert zu werden. 200.000 Einwohner, viel Grün, viele | |
Nachkriegsbauten. Und ein nackter Mann mit Keule auf einem Hügel. Früher | |
lag Kassel nah an der Zonengrenze. Heute auch noch. Nur dass die | |
Selbstschussanlagen abgebaut wurden. Alles in allem ist Kassel so mittel. | |
Als Jugendlicher will man aber mehr als mittel. Deswegen gibt es für jeden | |
dort Aufgewachsenen mindestens eine Documenta, die er oder sie im | |
Nachhinein als Erweckungserlebnis interpretiert. | |
Denn mit jeder Documenta begann die Stadt plötzlich zu vibrieren. Und zu | |
klingen. Kassel sprach in Zungen. 100 Tage lang. Und das nicht nur, wie | |
sonst, in unserem randständigen Einwandererviertel. Auch in der guten Stube | |
wurde von einem Tag auf den anderen fremd gesprochen: In der Innenstadt, in | |
den Cafés, in den Geschäften. Englisch, Französisch, sogar Japanisch. | |
Überall sah man Leute in absurd-exzentrischer Kleidung. Und in Zeiten, in | |
denen niemand das Wort „non-binär“ auch nur buchstabieren konnte, | |
begegneten wir Menschen, die wir beim besten Willen keinem der uns | |
bekannten Geschlechter zuordnen konnten. Wir fanden es super. | |
Überall war Kultur. Oft spontan und überfallartig. Draußen, auf Plätzen, in | |
Kneipen. Und dann in unseren Köpfen. Ich wünschte mir damals, dass Kassel | |
immer so wäre. Oder mein Leben. | |
Und obwohl wir keinen Dunst von Kunst hatten, lernten wir sie zu | |
verteidigen. Wir stritten mit Eltern, Tanten, Lehrerinnen, und wenn es sein | |
musste auch mit Passanten, die sich über Outdoor-Skulpturen aufregten. | |
Manchmal erklärten wir auch – anderen Passanten – irgendeinen Bauzaun zum | |
Documenta-Kunstwerk und waren enttäuscht, dass das schulterzuckend | |
hingenommen wurde. | |
Anders gesagt: Wenn man wirklich will, dass Kunst eine Wirkung auf Menschen | |
hat, sollte man sie in ihrem lebensverändernden Potenzial nicht an Berlin | |
verschwenden. | |
28 Feb 2024 | |
## AUTOREN | |
Hartmut El Kurdi | |
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