# taz.de -- Die Wahrheit: Mein erstes Mal | |
> Für den Nachwuchs in der Schreiber- und Leserwelt sind Poetry Slams | |
> optimal. Da können sie Texte auszuprobieren und alte Hasen bashen. | |
Bild: Himmelsstürmer: Die Skulptur von Jonathan Borofsky findet bei den Kassel… | |
Ein Viertel der deutschen Grundschüler hat Probleme mit Buchstaben und | |
Sätzen. In der „IGLU“ genannten Studie zu Leseleistungen liegen wir damit | |
nicht nur hinter Norwegen und Singapur, sondern auch hinter Russland und | |
Macau. | |
So gesehen sind Poetry Slams eine feine Sache. Junge Menschen schreiben, | |
lesen, hören zu. Perfekt! Sicher, man fragt sich, warum alle Texte immer in | |
dem gleichen künstlichen Slam-Singsang vorgetragen werden müssen, aber | |
ebenso könnte man fragen, wieso 63 Prozent der | |
Kulturwissenschaftsstudentinnen einen deutlich zu kurzen Pony tragen oder | |
warum irgendwer glaubt, Süßkartoffelpommes wären ein kulinarischer | |
Fortschritt gegenüber Standardfritten. | |
Als ich anfing, auf Bühnen vorzulesen, war diese Form der Textdarbietung | |
noch nicht erfunden. Ich gehöre zur „lost generation“: zu jung für „Soc… | |
Beat“, zu alt für „Poetry Slam“. Was nicht heißt, dass man es nicht | |
trotzdem mal versuchen könnte. Ich ging also beim nächsten Slam ins | |
Kulturzentrum meines Vertrauens und ließ mich auf die Liste setzen. Als ich | |
den Backstagebereich betrat, schauten mich alle an, als wäre ich der | |
Rektor, der in den Schülervertretungsraum platzt, um zu kontrollieren, ob | |
da heimlich geraucht wird. | |
Ich sagte: „Hi, ich bin Hartmut, ich lese heute auch.“ Die Gesichter | |
entspannten sich. Die Gespräche wurden fortgesetzt. Mit mir redete zunächst | |
niemand. Vermutlich hatten sie Angst, ich würde Sütterlin oder Fraktur | |
sprechen. Irgendwann erbarmte sich eine junge Frau und thematisierte meine | |
„Vintage-Freitag-Tasche“: „Die ist doch bestimmt 20 Jahre alt.“ | |
Nach meinem Empfinden hatte ich sie mir vorgestern gekauft. Bei einem | |
Baselbesuch. Dann fiel mir ein, dass der Grund für den Besuch eine Lesung | |
gewesen war, zu der mich mein Freund Mazze, damals Dramaturg am dortigen | |
Theater, eingeladen hatte. Es musste also 2002 oder 2003 gewesen sein. | |
„Wenn du die mal verkaufen willst …!“ – „Klar, dann sag ich Bescheid!… | |
Schüchtern verriet ich, dass dies mein erster Slam war. Finn, Anfang | |
zwanzig, sprach mir Mut zu: „Ey, ich war neulich bei einem Slam in | |
Osnabrück, da war einer, der war bestimmt siebzig oder so. Ich find das | |
super cool, wenn man das in dem Alter noch probiert.“ | |
Finn zeigte auf die Blätter in meiner Hand: „Eigentlich isses besser, wenn | |
man die Texte auswendig macht. Da ist man freier.“ – „Klar“, sagte ich … | |
beschloss, meine Rolle als debütierender Senioren-Slammer noch auszubauen: | |
„Aber weißte, das Gedächtnis …“ – „Verstehe“, antwortete Finn, �… | |
geht natürlich auch.“ Er gab mir dann noch ein paar Tipps für meine | |
Performance und wie man mit dem Publikum umgeht. Schließlich war er schon | |
eineinhalb Jahre im Business. Ich bedankte mich, ging auf die Bühne und | |
las, wie ich es seit 30 Jahren tue. | |
Ich wurde Vorletzter. Ich hätte mal lieber auf Finn – den souveränen Sieger | |
des Abends – hören sollen. | |
31 Jan 2024 | |
## AUTOREN | |
Hartmut El Kurdi | |
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