# taz.de -- Judentum in Schleswig-Holstein: Ein Indiz, kein Beweis | |
> Ein Archivfund belegt, dass jüdische Händler schon im 15. Jahrhundert im | |
> Norden waren. Ein Zeugnis für früheres jüdisches Leben dort ist er nicht. | |
Bild: In dieser 600 Jahre alten Urkunde ist von „christlichen oder jüdischen… | |
RENDSBURG taz | Geld und Liebe, vereint in einer Urkunde mit acht Siegeln: | |
Auf dem handschriftlichen Dokument gelobt ein Burgmann namens Heine Schack | |
[1][aus Lauenburg] seiner Tochter, dem Knappen Hartwig von Plessen „Mitgift | |
und Brautschatz in Höhe von 230 Mark Pfennige“ zu zahlen. Am 1. Februar | |
1424 datierte der Burgmann das rechteckige Schriftstück, es ist damit genau | |
600 Jahre ist alt. | |
Zu einer „kleinen Sensation“ – wie der Leiter des Landesarchivs, Rainer | |
Hering, es nannte – wird das Dokument durch die „Schadensklausel“, in der | |
von christlichen oder jüdischen Geldverleihern die Rede ist, bei denen das | |
Geld aufgenommen werden könnte. Jüdische Geldverleiher, die bereits vor 600 | |
Jahren auf dem Gebiet des heutigen Schleswig-Holsteins tätig waren: Das | |
widerspricht dem bisherigen Forschungsstand, der [2][jüdisches Leben erst | |
seit gut 400 Jahren, also dem späten 16. Jahrhundert nachweist]. | |
Kurz danach, am Anfang des 17. Jahrhunderts, hieß der dänische König | |
Christian IV. jüdische Familien und Angehörige anderer Minderheiten | |
offiziell willkommen – ein europaweit ungewöhnliches Projekt, mit dem der | |
Dänenherrscher die auf dem platten Land gegründeten [3][„Toleranzstädte“ | |
Glückstadt und später Friedrichstadt] beleben wollte. Muss die Geschichte | |
nun neu geschrieben oder zumindest um 200 Jahre in die Vergangenheit | |
verlängert werden? | |
## Kein Beweis für dauerhafte Ansiedlung | |
„Eher nein“, sagt Mirjam Gläser vom [4][Jüdischen Museum Rendsburg], wo d… | |
Geschichte des Judentums im Land dokumentiert ist. „Das Dokument ist schon | |
eine kleine Sensation, aber daraus lässt sich nicht ableiten, dass es so | |
viel früher jüdische Ansiedlungen gab.“ Eine gesicherte Quellenlage, die | |
auch über die rechtliche Stellung von Jüdinnen und Juden in Holstein | |
Auskunft gibt, finde sich erst seit Ende des 16. Jahrhunderts. Gläser | |
vermutet daher, dass Geldverleiher und möglicherweise andere Händler im | |
Herzogtum Lauenburg zwar ihre Dienste anboten, aber nicht am Ort lebten: | |
„Die Mobilität ist nicht zu unterschätzen.“ | |
Damit bestehe auch kein Anlass, die Dauerausstellung des Museums zu ändern, | |
die 400 Jahre jüdischen Lebens in [5][Schleswig-Holstein] beschreibt: „Ein | |
einzelner Aktenfund ersetzt keine profunde Forschung“, sagt Gläser. „Es ist | |
ein Indiz dafür, dass es einzelne Jüdinnen und Juden gab, aber kein Beweis | |
für eine dauerhafte Ansiedlung.“ Um die zu belegen, brauche es Forschung – | |
„die wir nicht leisten können“, bedauert Gläser. | |
Tatsächlich gab es nicht viel, was jüdische Familien in den rückständigen | |
und landwirtschaftlich geprägten Norden hätte ziehen können. Eine Broschüre | |
der Friedrich-Ebert-Stiftung über [6][jüdisches Leben] in | |
Mecklenburg-Vorpommern erinnert an ein Dekret Kaiser Konstantins aus dem | |
Jahr 321, das eine jüdische Gemeinde in Köln belegt. Weitere bedeutende | |
jüdische Gemeinden entstanden entlang der Handelsrouten an Rhein, Main, | |
Mosel, Neckar und Donau. | |
Für Mecklenburg-Vorpommern wird [7][erstmals im Jahr 1266 ein Anwohner | |
jüdischen Glaubens in Wismar erwähnt], „Landesherrscher Heinrich der Pilger | |
wie auch sein Sohn, Heinrich II., mussten diese in Wismar ansässigen Juden | |
aber mehr als einmal gegen Übergriffe der Bürgerschaft verteidigen“, heißt | |
es in der Broschüre. 1325 wurden Juden in Krakow beschuldigt, eine Kirche | |
aufgebrochen und die Abendmahls-Oblaten gestohlen zu haben – der Fall | |
endete mit Folter und Hinrichtung der Beschuldigten. | |
Im heutigen Schleswig-Holstein gab es erst Ende des 16. und Anfang des 17. | |
Jahrhunderts erste jüdische Zuzüge, doch gut aufgenommen wurden sie nicht, | |
heißt es auf [8][der Homepage der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische | |
Geschichte]: „Die Kreuzzugspogrome und die noch grausamere Verfolgung | |
während der Zeit der Pest waren vorbei. Die Vorurteile gegen Juden aus | |
diesen Zeiten als angebliche Hostienschänder, Ritualmörder und | |
Brunnenvergifter waren jedoch nicht ausgeräumt. Auch im inzwischen | |
protestantischen Norden galten noch die päpstlichen Berufsverbote, auch | |
dort war ihr Leben durch strikte Auflagen eingeschränkt.“ In Kiel etwa | |
versuchten die Landesherren „gezielt, Juden aus der Stadt herauszuhalten“. | |
## Bei Onlinerecherche gefunden | |
Erst durch die Toleranzstädte Christians IV. öffneten sich die Tore für | |
jüdische Siedler, nicht nur aus dem Umland, sondern aus ganz Europa: So | |
siedelten sich Sepharden von der Iberischen Halbinsel in Glückstadt an der | |
Elbe an, mit der der König Hamburg Konkurrenz machen wollte. In | |
Friedrichstadt, benannt nach dem Gottorfer Herzog Friedrich III., siedelten | |
neben Jüd*innen niederländische Religionsflüchtlinge wie Mennoniten oder | |
Remonstranten. | |
Auch wenn die Urkunde aus dem Landesarchiv in Schleswig die Geschichte des | |
Judentums in Schleswig-Holstein nicht neu sei, zeige sie, wie sich die | |
Digitalisierung auswirkt: So fand Archivleiter Hering den Text durch eine | |
Onlinerecherche in den Beständen. Dies zeige, wie wichtig es sei, Dokumente | |
zu digitalisieren und immer mal wieder andere Fragestellungen in der | |
Onlinesuche anzuwenden, sagte er bei einer Pressekonferenz. | |
Auch Gläser berichtet von Vorteilen der Digitalisierung: Für die | |
Ausstellung „Jüdisch? Preußisch? Oder was?“, die Anfang März starten sol… | |
ging Museumsleiter Jonas Kuhn auf weltweite Suche in den elektronischen | |
Archiven und fand neues Material über den Kieler Juden und Hoflieferanten | |
Michael Lask im Leo Baeck Instituts in Jerusalem. | |
9 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Rassismusvorwuerfe-in-Moelln/!5991363 | |
[2] /!5938309/ | |
[3] https://schleswig-holstein.sh/blog/2023/12/13/juedisches-leben-in-schleswig… | |
[4] https://jmrd.de/ | |
[5] /Landratswahl-in-Dithmarschen/!5987432 | |
[6] /Union-Progressiver-Juden-klagt/!5991975 | |
[7] https://library.fes.de/pdf-files/bueros/schwerin/19166.pdf | |
[8] https://geschichte-s-h.de/sh-von-a-bis-z/j/juden-in-schleswig-holstein/ | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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