| # taz.de -- UN-Hilfswerk in Gaza: Wie weiter mit der UNRWA? | |
| > Israel erhebt schwere Vorwürfe gegen das Flüchtlingswerk UNRWA. Diese | |
| > weist die Anschuldigungen als haltlos zurück. Die Lage ist kompliziert. | |
| Bild: Eine von der UNRWA betriebene kriegsbeschädigte Schule in Gaza-Stadt am … | |
| Am vergangenen Freitag korrigierte Israels Verteidigungsminister Joaw | |
| Gallant seine bisherigen Angaben. Israel gehe nun davon aus, dass über 30 | |
| Mitarbeiter des UN-Hilfswerks für die Palästinenser:innen, UNRWA, am | |
| Hamas-Massaker am 7. Oktober beteiligt gewesen seien. Bisher war von etwa | |
| halb so vielen die Rede, die UN hatten deshalb bereits neun | |
| UNRWA-Mitarbeiter entlassen. | |
| Sie hätten etwa Geiselnahmen ermöglicht und israelische Gemeinden | |
| geplündert, so Gallant. 1.468 der insgesamt 13.000 UNRWA-Beschäftigten im | |
| Gazastreifen hätten „Verbindungen“ zur Hamas oder zum Palästinensischen | |
| Islamischen Dschihad. 185 dieser UNRWA-Mitarbeiter seien im militärischen | |
| Arm der Hamas und 51 im militärischen Arm des PIJ aktiv. | |
| Eine Woche zuvor hatte das israelische Militär gemeldet, unter dem | |
| UNRWA-Hauptquartier in Gaza einen 700 Meter langen Tunnel „für die | |
| militärischen Aufklärungsdienste der Hamas“ entdeckt zu haben. „UNRWA ist | |
| tief in Terroraktivitäten verstrickt“, so Galant. [1][Unabhängig] | |
| [2][überprüft] konnten die Anschuldigungen der israelischen Armee indes | |
| bisher nicht werden. | |
| Der Chef der UNRWA, der Schweizer Philippe Lazzarini, hielt dagegen. Israel | |
| führe „eine Kampagne, um die UNRWA zu zerstören“, sagte er. [3][Er habe d… | |
| israelischen Behörden immer alle Tunnel, von denen sie Kenntnis hatten, | |
| gemeldet.] Wegen der neuen Vorwürfe hatten in den vergangenen Wochen 15 | |
| Regierungen entschieden, ihre Beiträge an das Hilfswerk auszusetzen, und | |
| insgesamt 450 Millionen Dollar eingefroren, darunter 82 Millionen Euro von | |
| der EU. | |
| ## WHO warnt vor katastrophalen humanitären Folgen | |
| Die WHO warnt vor „katastrophalen“ humanitären Konsequenzen. Ein | |
| unabhängiger Ausschuss unter Leitung der ehemaligen französischen | |
| Außenministerin Catherine Colonna soll nun die Neutralität der UNRWA | |
| bewerten. | |
| Doch das mögen viele nicht abwarten. Seit die UNRWA mit dem Massaker vom 7. | |
| Oktober in Verbindung gebracht wird, häufen sich die Forderungen, sie | |
| aufzulösen und etwa dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR die Aufgaben zu | |
| übertragen. Der Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo schrieb in der vergangenen | |
| Woche: „Löst endlich das Palästinenserhilfswerk auf“. | |
| Bente Scheller, ausgewiesene Nahost-Expertin und Nahost-Referatsleiterin | |
| der Grünen nahen Heinrich-Böll-Stiftung, kritisierte Lobos Argumentation | |
| als „meinungsstark und kenntnisarm“. | |
| Das wiederum brachte den Ex-Grünen-Politiker Volker Beck so auf, dass er | |
| den Vorstand der Böll-Stiftung öffentlich aufforderte, sich dazu zu | |
| verhalten, dass ihre Mitarbeiterin „Kritik an terroraffinen Strukturen | |
| abkanzel(e)“. | |
| ## Was tut die UNWRA eigentlich genau? | |
| Die Gemüter kochen bei dem Thema schnell hoch. Doch die völlkerrechtlichen | |
| Besonderheiten in der Causa sind komplex. | |
| Bei der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in | |
| the Near East handelt es sich um eine Art hybrider internationaler | |
| Administration: Als UN-Verwaltung erfüllt sie staatsähnliche Funktionen. | |
| Gleichzeitig ist sie, wie viele internationalen Organisationen, auf | |
| freiwillige Beiträge in Milliardenhöhe von überwiegend westlichen Gebern | |
| angewiesen. | |
| Gegründet wurde sie 1949 – zwei Jahre vor der Verabschiedung der | |
| UN-Flüchtlingskonvention. Die Aufgabe des UNRWA ist, humanitäre Hilfe für | |
| Menschen zu leisten, die zwischen 1946 und 1948 im damaligen | |
| UN-Mandatsgebiet Palästina lebten und durch den israelischen | |
| Unabhängigkeitskrieg ihren Wohnsitz und Lebensunterhalt verloren haben. | |
| Damals betraf das rund 700.000 Menschen, heute sind [4][rund 6 Millionen | |
| Palästinenser:innen bei der UNRWA] registriert. | |
| Anders als [5][vielfach] [6][behauptet] ist die dahinterstehende | |
| Vererbbarkeit des Flüchtlingsstatus’ keine Besonderheit für | |
| palästinensische Flüchtlinge. „Grundsätzlich gilt im globalen | |
| Flüchtlingsrecht das Prinzip der Familieneinheit,“ sagt die Vökerrechtlerin | |
| und UNRWA-Expertin Hannah Birkenkötter. Dadurch erhalten Kinder von | |
| Flüchtlingen diesen Status per Geburt. „Der Unterschied bei den | |
| Palästinenser:innen ist vor allem, wie lange ihre Situation in vielen | |
| Fällen ungelöst ist – auch wenn es international sehr wohl auch andere | |
| Jahrzehnte andauernde Flüchtlingssituationen gibt,“ so Birkenkötter. | |
| ## Flüchtlinge können ihren Flüchtlingsstatus verlieren | |
| Im Normalfall verlieren Flüchtlinge ihren Status, wenn sie in einem anderen | |
| Land dauerhafte Aufnahme finden oder wieder in ihr Herkunftsland | |
| zurückkehren können. Ersteres gilt auch für Palästinenser:innen, wenn diese | |
| etwa irgendwo Asyl bekommen. 2022 etwa stellten rund 7.300 | |
| Palästinenser:innen in der EU einen Antrag. | |
| Zweiteres – die Rückkehr – ist komplizierter. Die Gebiete, aus denen die | |
| Menschen bis 1948 vertrieben wurden, sind heute israelisches Staatsgebiet. | |
| Die Frage des Rückkehrrechts war nie Teil des UNRWA-Mandats. Dafür | |
| existiert eine separate UN-Kommission, die aber seit den 1950er Jahren kaum | |
| etwas weiter tut, als einen jährlichen Bericht an die UN-Generalversammlung | |
| zu schicken, in dem steht, dass die Situation politisch festgefahren ist. | |
| Räumlich ist die UNRWA auf Gaza, das Westjordanland, den Libanon, Syrien | |
| und Jordanien beschränkt. „Wenn Palästinenser:innen diese Gebiete | |
| verlassen müssen, ohne die Gründe selbst verschuldet zu haben – etwa durch | |
| Bedrohungen des Lebens, der körperlichen Sicherheit oder der Freiheit | |
| entsteht Anspruch auf Schutz durch den UNHCR“, sagt Birkenkötter. Das | |
| ergebe sich aus der Flüchtlingskonvention und entspreche auch der | |
| [7][Rechtsauffassung] des UNHCR. „Eine Flucht etwa nach Ägypten vor | |
| Zuständen, wie sie derzeit in Gaza herrschen, dürfte darunter fallen,“ sagt | |
| Birkenkötter. | |
| Der Anspruch auf Schutz durch den UNHCR besteht so lange, bis ein Staat – | |
| außer die Staaten des UNRWA-Mandatsgebiets – ihnen dauerhafte Aufnahme | |
| gewährt, ihnen die Staatsangehörigkeit verleiht oder sie in das | |
| UNRWA-Gebiet zurückkehren. Verlässt eine Person die UNRWA-Gebiete, ohne aus | |
| zwingenden Gründen dazu getrieben zu sein, entsteht kein Anspruch auf | |
| Schutz durch den UNHCR. Unabhängig davon können diese Personen aber in | |
| anderen Ländern Asyl beantragen. | |
| ## Kaum realistische Szenarien für eine Lösung | |
| Wäre das Rückkehrrecht im Sinne einer Art Rechtsnachfolge des UN-Gebietes | |
| von 1948 erfüllt – und somit die Flüchtlingseigenschaft der | |
| Palästinenser:innen erloschen – wenn die Palästinensische | |
| Autonomiebehörde (PA) allen Pässe gäbe? Wohl nicht. „Denn es gibt zwar | |
| völkerrechtliche Indizien für eine Staatlichkeit Palästinas – vor allem | |
| auch, dass mehrere internationale Organisationen und über 130 Staaten | |
| Palästina als Staat anerkennen“, sagt die Völkerrechtlerin Birkenkötter. | |
| Doch auch wenn die PA allen Menschen unter UNRWA-Mandat einen Pass gäbe, | |
| bestünde die UN-[8][Resolution], die das Recht auf Rückkehr beschreibt und | |
| auf die sich das UNRWA-Mandat bezieht, trotzdem fort. Das hat die | |
| UN-Generalversammlung zuletzt im Dezember 2023 [9][bestätigt]. „UNRWA hat | |
| aber gerade kein Mandat zur Rückkehrfrage und darf dazu nicht tätig werden. | |
| Nur eine politisch verhandelte Lösung kann hier eine neue Rechtslage | |
| herbeiführen,“ so Birkenkötter. | |
| Die Flüchtlingseigenschaft erlösche erst, wenn die UN-Vollversammlung die | |
| Resolution nicht mehr verlängert. Realistisch ist das kaum. Bisher hat die | |
| UN das Mandat der UNRWA stets um jeweils drei Jahre verlängert, aktuell bis | |
| 2026. Entscheidend sind dabei nicht Debatten in westlichen Staaten, sondern | |
| die Mehrheitsverhältnisse der 193 UN-Mitglieder. Die meisten würden einer | |
| Auflösung der UNRWA nicht zustimmen. | |
| Allerdings: Viele dieser Staaten heben gern für die UNRWA die Hand, zahlen | |
| aber nichts. Unter den 20 größten Gebern der Organisation sind 17 westliche | |
| Staaten. Sie kommen für rund [10][eine Milliarde des 2022 insgesamt 1,17 | |
| Milliarde Dollar] umfassenden Budgets auf. Die drei nichtwestlichen Geber | |
| Katar, Kuweit und Saudi-Arabien zahlten zusammen 49,5 Millionen Dollar. | |
| Die restlichen 120 Millionen entfielen auf nicht näher genannte „andere“, | |
| darunter private Spender. | |
| Würde der Westen also nicht mehr zahlen, existierte die UNRWA zwar weiter, | |
| könnte aber nicht mehr arbeiten. Denkbar wäre, dass dann [11][der Artikel | |
| 1D der UN-Flüchtlingskonvention] zum Tragen kommt. Darin ist festgelegt, | |
| dass das UN-Flüchtlingswerk UNHCR nicht für Menschen zuständig ist, die | |
| „den Schutz einer anderen Institution der UN genießen“. Entfällt dieser | |
| Schutz aber, „ohne dass das Schicksal dieser Person (…) geregelt worden | |
| ist, so fallen diese Personen ipso facto unter die Bestimmungen dieses | |
| Abkommens“ – also unter das UNHCR-Mandat. | |
| ## Kann das UNHCR langfristig Schulen bereitstellen? | |
| Fraglich ist, ob das meist mit kurz- bis mittelfristigen Notlagen befasste | |
| UNHCR willens und in der Lage wäre, langfristig Schulen, Krankenhäuser und | |
| soziale Dienstleistungen in Gaza, im Westjordanland, im Libanon, in Syrien | |
| und Jordanien bereitzustellen. | |
| Dann wären die nationalen Regierungen am Zug. Auch sie würden die | |
| internationalen Geber dafür wohl zur Kasse bitten – sich dabei aber kaum | |
| vom Westen so kontrollieren lassen, wie es bei der UNRWA eben doch der Fall | |
| ist. In Gaza und im Westjordanland müssten entweder die PA oder Israel das | |
| Vakuum füllen – ein ebenfalls mit vielen Unbekannten behaftetes Szenario. | |
| So oder so: Die Fragen rund um die Zukunft der UNRWA sind von Dauer. Denn | |
| die meisten der heute registrierten – und damit schutzanspruchsberechtigten | |
| – Palästinenser:innen haben im Schnitt noch gut 50 Lebensjahre vor | |
| sich. | |
| 28 Feb 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://edition.cnn.com/2024/01/29/middleeast/israel-allegations-unwra-octo… | |
| [2] https://twitter.com/lindseyhilsum/status/1754612983580221500 | |
| [3] https://www.nzz.ch/international/interview-unrwa-chef-lazzarini-zu-den-vorw… | |
| [4] https://www.unrwa.org/who-we-are | |
| [5] /Harsche-Kritik-an-UNRWA-Arbeit/!5985999 | |
| [6] /Vorwuerfe-gegen-UNRWA/!5987756 | |
| [7] https://www.refworld.org/policy/countrypos/unhcr/2022/en/124067 | |
| [8] http://undocs.org/A/Res/194(III) | |
| [9] http://undocs.org/A/Res/78/74 | |
| [10] https://www.unrwa.org/sites/default/files/2017-2023_top_20_rank_total_0.pdf | |
| [11] https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/03/Genfer_Flue… | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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| sollte. Den Palästinenser:innen wirklich helfen kann es aber nicht. |