Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Haßloch für die Konsumforschung: Voll der Durchschnitt
> In Haßloch testeten Konzerne jahrelang ihre Produkte. Jetzt ersetzt
> künstliche Intelligenz das „Durchschnitts-Dorf“. Kratzt das an der
> Identität?
Bild: Absolute Durchschnittlichkeit: eine Ortsansicht von Haßloch, Deutschland…
Haßloch taz | Wo ist er denn, der Max Mustermann? In den sich in
verblüffender Gleichförmigkeit erstreckenden Straßenzügen von geschlossenen
Rollläden und zugezogenen Vorhängen bleibt er unentdeckt. Auch zwischen den
„Schneider“- und „Müller“-Klingelschildern, den Campervans und den doc…
vielen Deutschlandflaggen lässt er sich nicht blicken. Dabei müsste er doch
gerade hier zu Hause sein, der Max, in der Durchschnittsgemeinde
Deutschlands: in Haßloch in der Pfalz.
Haßloch gilt als Mini-Deutschland. [1][Die Bevölkerungsstruktur der rund
20.000 Einwohner*innen kommt dem deutschen Durchschnitt sehr nahe]. Das
Mengenverhältnis von Kindern, Rentner*innen und Familien,
einkommensschwachen und -starken Haushalten sowie die örtliche
Handelslandschaft ist repräsentativ für das ganze Land. Eine Art
Playmobil-Deutschland.
„Haßloch …“, sagt Julien Niemann und lacht, „schon ein krasser Name, �…
Seine Schwester Mara und er (beide Namen geändert) nennen es liebevoll
„hatehole“. Durchschnittshölle Deutschland. Julien ist knapp 1,85 groß,
dunkelhäutig, hat braune Augen und Haare. Maras geflochtenes Haar reicht
ihr bis zur Hüfte. Die Geschwister sind in Haßloch aufgewachsen.
Der Ortskern des Großdorfs besteht aus Dorfkirche, Post und Rathaus. Jeden
vierten Mittwoch im Monat werden die Senior*innen zu „gemütlichem
Beisammensein bei Kaffee und Kuchen“ in die Bürgerstiftung geladen. Bis auf
die Rentner*innen sind die Straßen jedoch leer gefegt. Der Eindruck,
dass in Haßloch „immer was los“ sei, [2][wie es auf der Gemeindeseite
heiß]t, entsteht an einem Dienstagmittag nicht.
## Das Dorf erscheint verlassen
Der Uhrmacher: geschlossen. Die Metzgerei: geschlossen. Das
Burger-Restaurant: geschlossen. Auf Anfrage der taz beim Bürgerbüro heißt
es wiederum Freitagmittag um 12 Uhr, man solle es doch Montag wieder
probieren. „Freitags arbeiten wir nicht so lang.“ Hier ist man der
Viertagewoche wohl schon näher als in der Hauptstadt.
Vorreiter war Haßloch schon immer. Von 1986 bis 2021 [3][diente das Dorf
als Testmarkt] für das Nürnberger Marktforschungsinstitut [4][Growth from
Knowledge] (GfK), ehemals Gesellschaft für Konsumforschung. Nach dem
amerikanischen Vorbild der „Magic Towns“, wie die Durchschnittsorte heißen,
wurden hier neue Produkte von Marken wie Coca-Cola, Procter & Gamble oder
Wrigley getestet. Kauften die Haßlocher*innen ein Produkt, kam es auch
im Rest des Landes in die Supermarktregale. Untersucht wurde dabei auch
mithilfe von Fernsehboxen die Wirksamkeit der Fernsehwerbung.
Mit den Tests sollte der Erfolg eines Produkts erforscht werden, bevor
teure Werbung geschaltet und die Produkte massenhaft hergestellt wurden.
Berichte im Internet besagen, dass die Erfahrungen, die die GfK hier
machte, zu 90 Prozent mit den späteren Marktdaten übereinstimmten.
Überprüft werden kann das nicht.
Auf Anfrage der taz bei der GfK heißt es, man beantworte keine Anfragen zum
bereits abgeschlossenen Testmarkt in Haßloch.
Von den rund 10.000 Haßlocher Haushalten nahmen an den Forschungen rund
3.000 freiwillig teil. Auch Juliens und Maras Vater. Dass ein Produkt ein
Testprodukt war, erfuhren die Landesvorverkoster*innen erst dann,
wenn es wieder aus den Regalen verschwand oder sie von Bekannten aus
anderen Städten darauf hingewiesen wurden.
## Datenvergabe gegen Prämienpunkte
Belohnt wurden sie mit kostenlosen Programmzeitschriften, einem Zuschuss
von 3,85 Euro zu den Kabelgebühren und Prämienpunkten im Supermarkt. Im
Gegenzug mussten sie nur ihre Daten preisgeben, die Gold wert waren.
„Ständig haben die mir Briefe geschickt und ich musste alles mögliche
ausfüllen: Habe ich einen Kühlschrank? Habe ich keinen? Was weiß ich, was
die alles wissen wollten“, erzählt eine grauhaarige Frau, die mit ihrem
Mann die Straße am Rathaus entlangspaziert.
So ging das 35 Jahre lang. Und dann das plötzliche Ende im Dezember 2021.
Man setze jetzt auf digitale Lösungen, hieß es aus Nürnberg. Auch in der
„Innovationsnation“ Deutschland sollten schließlich die alten Plastikkarten
und Fernsehboxen durch dezentrales Echtzeittracking per künstlicher
Intelligenz ersetzt werde.
## Von einem Tag auf den anderen verpufft
Die GfK nutze nun eine KI-basierte Plattform, die Kund*innen in Echtzeit
Fragen wie „Wer hat gekauft und warum?“ und „Was muss ich als nächstes t…
um mein Geschäft nachhaltig wachsen zu sehen“ beantworte, sagt Sprecherin
Eva Böhm. Der Grund: Kund*innen benötigten „gerade in der heutigen
schnelllebigen und volatilen Welt“ möglichst in Echtzeit relevante,
verlässliche Daten und konkrete Handlungsempfehlungen, um schnell auf sich
verändernde Märkte und Konsument*innenbedürfnisse reagieren zu
können, sagt sie.
Das letzte Überbleibsel der Nürnberger in Haßloch: ein harmlos
erscheinendes oranges GfK-Schild neben der Spielothek Doc Holiday. Alles
andere: von einem Tag auf den anderen verpufft. Als wären die
Konsumforscher nie da gewesen.
Was macht das mit einem Ort, wenn eine über 35 Jahre sorgsam konstruierte
Scheinwelt von einem Tag auf den anderen zerplatzt? Wenn man plötzlich
nicht mehr relevant ist, nicht mehr zeitgemäß, nicht mal mehr Durchschnitt!
Identitätskrise? Bedeutungsverlust? Lähmung?
„Für Haßloch war das kein großes Thema“, sagt Bürgermeister Tobias Meyer
(CDU). Die Einschätzung des Bürgermeisters teilt die Edeka-Kassiererin:
„Das war einfach so. War schon immer so. Man hat da nicht so ein Ding draus
gemacht.“ Das Versuchsende sei alles andere als ein Schlag für das Dorf
gewesen, erzählt auch eine Frau in grüner Daunenjacke vor dem
Drogeriemarkt: „Das war nervig, die Karte immer mitzuschleppen, der
Receiver ist ständig kaputtgegangen.“ Dann war’s vorbei, aber „da wurde
kein großes Tamtam draus gemacht“.
## Desinteresse an den Marktforschungstests
Während die Tests liefen, hätten sich die Leute dafür interessiert, erzählt
ein älterer Herr in orangem Pullover. „Aber jetzt, wo die vorbei sind, ist
es allen egal.“ Das können die stark geschminkten Teenagerinnen im Edeka
nur bestätigen.
Identitätskrise? Fehlanzeige. Mit dem Durchschnittsdasein hat man sich wohl
nie identifiziert. Die anderen hätten immer mehr daraus gemacht als die
Haßlocher*innen, erzählt Mara. „Ich wurde immer wieder darauf angesprochen,
aber für mich war das nicht so besonders, weil es mir einfach egal war.“
Dabei könnte man doch stolz sein auf die Rolle der Landesvorkoster*innen!
Gefreut hat man sich hier wohl mehr über die Vorteile, die damit
einhergingen. Sie scheinem genügt zu haben, damit sich die Bürger*innen
35 Jahre in den Kühlschrank leuchten ließen. Mara sagt zwar, sie wisse von
ihrem Vater, dass damals viele Einwohner*innen „sehr krass“ auch gegen
den Datenverkauf gewesen seien, die Frau in der grünen Jacke hingegen
findet, man solle sich nicht so haben: „Das ist ja nicht wie heute mit dem
Datenschutz und dem ganzen Scheiß.“ Auch der Mann im orangen Pullover sagt,
er habe nichts zu verheimlichen. Es ginge ja nicht um Daten, lediglich um
Statistiken.
## Es gibt nicht mehr den Durchschnittsdeutschen
Das Maß an Gleichgültigkeit spricht nicht gerade für die
Durchschnittsdeutschen, ist allerdings wohl wiederum repräsentativ.
[5][Denn nicht nur die Haßlocher*innen verschenken bereitwillig ihre
Daten, sondern ganz Deutschland]. Nur deshalb kann die GfK nun überhaupt
Plastikkarte und Fernsehbox gegen eine KI-basierte Plattform ersetzen, die
den Kund*innen Konsument*innendaten in Echtzeit liefert. Die Idee
eines Durchschnittsdeutschen ist damit wohl überkommen. Haßloch, es ist
aus.
Dass Haßloch nicht mehr am Zahn der Zeit ist, findet nicht nur die GfK.
„Hier sind nur Rentner“, sagt Julien. Und tatsächlich: Mit rund 24 Prozent
über 65-Jährigen wohnen in Haßloch mittlerweile überdurchschnittlich viele
Rentner*innen. Es gebe drei Altersheime, die alle voll seien. Die Alten
fänden alles Neue schlimm. „Seit neuestem gibt es hier E-Scooter. Ich finde
das super, aber die Rentner sind natürlich dagegen.“
Viele Junge würden wegziehen, erzählt Julien. [6][Hier sei nicht viel los,
die Job- und Verdienstchancen seien unattraktiv]. Die händeringende Suche
nach Fachkräften begegnet einem in jedem Schaufenster, in das man blickt:
Die Spielothek sucht eine Reinigungskraft, der Bäcker Verkäufer*innen,
der Supermarkt neue Mitarbeiter*innen. Durchschnittsdeutschland eben.
Obwohl hier nicht viel los sei, gefalle es ihm, sagt Julien. Der Ort sei
„nicht zu groß, nicht zu klein“, optimal, um Kinder großzuziehen, und es
gebe eine gute Anbindung nach Mannheim. „Ich bin stolzer Haßlocher.“
28 Apr 2024
## LINKS
[1] /Hassloch--die-durchschnittliche-Stadt/!5224469
[2] https://www.hassloch.de/gv_hassloch/
[3] /Hassloch--die-durchschnittliche-Stadt/!5224469
[4] https://www.gfk.com/de/home
[5] /Marktforschung-bei-Online-Videotheken/!5331962
[6] /Dorfsterben-in-Mecklenburg/!163891/
## AUTOREN
Lilly Schröder
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
wochentaz
Konsumforschung
Schwerpunkt Künstliche Intelligenz
Rheinland-Pfalz
GNS
Drogeriemarkt
Schwerpunkt AfD
Amazon
Durchschnitt
## ARTIKEL ZUM THEMA
Großes Drogeriemarkt-Triell: Ware Liebe
Drogeriemärkte sind lebenslange Begleiter – und viele verteidigen ihre
Lieblingskette entschlossen. Rossmann, DM und Budni im schonungslosen
Triell.
TV-Doku über Durchschnittsort Haßloch: Früher war schön
Ein kleiner pfälzischer Ort bildet Deutschland strukturell genau ab. Kann
man dort verstehen, was zur Hölle unser Problem ist?
Marktforschung bei Online-Videotheken: Amazon stellt die eine Frage
Nutzer können jetzt abstimmen, welche neue Serie der Anbieter produzieren
soll. Amazon gelangt so vor allem an wertvolle Informationen.
Haßloch – die durchschnittliche Stadt: Im Zentrum ist der Rathausplatz
Haßloch in der Pfalz ist der durchschnittlichste Ort Deutschlands. Hier
wird getestet, was die Deutschen kaufen und was nicht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.