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# taz.de -- Abnehmen mit Chemie: Spritze statt Sport und Diät
> Seit Juli 2023 sind in Deutschland Abnehmmedikamente auf dem Markt, die
> wirklich helfen. Doch die Nebenwirkungen sind noch gar nicht erforscht.
Bild: Das Medikament Ozempic
Eli versuchte es zunächst mit einer Ernährungsumstellung – für Sport fehlt
ihr die Zeit –, doch das half gegen ihren Typ-2-Diabetes nicht viel. Nach
dem Essen hatte sie trotzdem immer ein extremes Völlegefühl und war müde.
Deshalb verschrieb ihr der behandelnde Arzt im Oktober 2022 das Präparat
Ozempic. Es enthält den Wirkstoff Semaglutid und ist spezifisch für
Diabetiker:innen entwickelt worden. Damals gab es noch kaum
Medienberichte über das Medikament, das man sich wöchentlich mit einem Pen
spritzt. Heute hat fast jeder von der „Abnehmspritze“ gehört, denn der
darin enthaltene Wirkstoff lässt die Pfunde purzeln. Das Fachmagazin
Science bezeichnete die Medikamentengruppe, zu der Ozempic gehört, als den
[1][wissenschaftlichen Durchbruch des Jahres 2023].
Wegovy gehört zur selben Medikamentengruppe, da es den gleichen Wirkstoff
wie Ozempic enthält. Es ist jedoch nicht nur für Diabetiker:innen
zugelassen und höher dosiert. Wegovy darf in Deutschland seit dem 15. Juli
2023 an Menschen mit einem BMI von mehr als 30 verschrieben werden, oder
bei Übergewichtigen ab einem BMI von 27, wenn sie weitere Risikofaktoren
für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Bluthochdruck haben.
Aufgrund der [2][massiven Nachfrage für den Off-Label-Use von Ozempic] kam
es im Laufe des Jahres 2023 teilweise zu Lieferengpässen. Befeuert wurden
diese durch immer neue Studien, die zum Beispiel einen Schutz vor
Herzschwäche belegten oder auf einen Schutz vor Alzheimer hinwiesen.
Zwischenzeitlich war Ozempic gar nicht mehr lieferbar –
Diabetiker:innen mussten bis zu vier Wochen auf ihre Spritzen warten.
Aber auch die Einführung von Wegovy brachte keine Versorgungssicherheit,
denn das Präparat für Übergewichtige ist mit 300 Euro im Monat deutlich
teurer als Ozempic, das rund 70 Euro kostet. Hinzu kommt, dass die Kosten
bei Übergewicht nicht von den Krankenkassen übernommen werden, bei Diabetes
hingegen schon.
## Therapie gegen Folgeerkrankungen
Weltweit gibt es immer mehr Übergewichtige. In den Industrieländern
scheinen die Zahlen zwar zu stagnieren, allerdings auf hohem Niveau. So
gilt in Deutschland mehr als die Hälfte der Bevölkerung als übergewichtig,
etwa 19 Prozent sind adipös, das heißt, ihr BMI liegt über 30. Das ist kein
Schönheitsmakel, sondern in den meisten Fällen vor allem ein
gesundheitliches Problem. Menschen mit dieser Leibesfülle müssen
Folgeerkrankungen fürchten, sie haben ein erhöhtes Risiko für bestimmte
Krebsarten, Herzinfarkt, Schlaganfall, Arthrose. Hinzu kommt: Sie erkranken
häufiger an Depressionen.
Eli, die vor eineinhalb Jahren 100 Kilo wog, hat mit Ozempic 15 Kilo
abgenommen. Das heißt, ihr Body-Mass-Index (BMI) sank von 33, also
fettleibig, auf 28. Damit ist die 36-Jährige jetzt nur noch leicht
übergewichtig. Tatsächlich belegen Studien, dass man mit Semaglutid rund 10
bis 15 Prozent Körpergewicht verliert. Denn Semaglutid imitiert ein
Darmhormon namens GLP-1, das nach dem Essen von Darmzellen ausgeschüttet
wird und im Gehirn auf Regionen wirkt, die Appetit, Müdigkeit und Belohnung
regulieren. Außerdem bewirkt das Hormon die Ausschüttung von Insulin in der
Bauchspeicheldrüse, wodurch der Blutzuckerspiegel sinkt. Und es verzögert
die Entleerung von Magen und Darm. All das führt dazu, dass man schneller
satt wird.
Forscher:innen suchen schon lange nach einem chemischen Hebel, um
Übergewichtigen zu helfen. So kam bereits 1930 das erste Abnehmmedikament
Alvalin auf den Markt, viele weitere folgten. Doch diese zeigten kaum
langfristigen Nutzen, dafür viele Nebenwirkungen wie zum Beispiel
Lungenhochdruck, Herzinfarkt und Schlaganfälle. Auch Diäten und Sport sind
nur bedingt wirksam. Semaglutid ist nun das erste Mittel, mit dem man
wirklich Erfolge erzielt. Dennoch warnen einige Mediziner:innen vor
allzu voreiligen Hoffnungen.
So wird immer klarer, dass man das Mittel vermutlich sein Leben lang
einnehmen muss. Denn: „Nach dem Absetzen nähert man sich recht schnell
wieder seinem Ausgangsgewicht an“, sagt Niklas Schurig, der als
Ernährungsmediziner Diabetes-Patient:innen und stark Übergewichtige
behandelt. Möglich wäre es aber, das Medikament als Einstieg in einen
gesünderen Lebensstil zu nutzen und dann wieder abzusetzen. Viele
Patient:innen haben aufgrund ihres hohen Körpergewichts
Schwierigkeiten, sich überhaupt körperlich zu betätigen. Semaglutid könnte
helfen, erste Pfunde loszuwerden, um dann mit Sport das Gewicht zu halten
oder noch weiter zu senken.
## Die Jungen machen Riesenexperiment
Bei allem Potenzial, das die Präparate vorrangig bei Diabetiker:innen
haben, sieht Schurig das Thema Nebenwirkungen als bislang vernachlässigt
an. „Wir sehen zum Beispiel mehr Gallensteine oder auch Entzündungen der
Bauchspeicheldrüse“, sagt Schurig. Teils kam es zu Darmverschlüssen,
Magenlähmungen, Muskelschwund oder Haarausfall. Das sind die derzeit
bekannten Nebenwirkungen. Völlig unklar seien jedoch die Langzeitfolgen bei
jungen, gesunden Menschen mit geringem Übergewicht.
„Die Studien mit Ozempic, die seit vielen Jahren laufen, wurden mit
übergewichtigen Diabetikern durchgeführt, die in der Regel eher älter
sind.“ Über andere Gruppen sagen die Studien wenig aus. Klar ist aber auch:
Auf jeden Fall profitieren können die bereits an Diabetes erkrankten
Übergewichtigen, die schon etwas älter sind und denen Folgeerkrankungen
durch das Übergewicht drohen. „Die anderen, die jungen Gesunden, machen
gerade ein Riesenexperiment“, sagt Schurig.
Interessant wird sein, wie die Politik mit dem Medikament umgeht. Werden
die Krankenkassen es in ihren Leistungskatalog aufnehmen? Derzeit wird an
einer neuen Leitlinie zur Behandlung von Adipositas gearbeitet. Sollte das
Medikament darin als Standardtherapie empfohlen werden, könnte es
unbezahlbar werden. Für die Pharmakonzerne wäre es dagegen ein Lottogewinn.
Tatsächlich ist der Börsenwert des dänischen Herstellers Novo Nordisk im
vergangenen Jahr explodiert und das Unternehmen hat nun [3][den höchsten
Marktwert] aller europäischen Unternehmen. Es ist daher problematisch, wenn
Mediziner:innen, die Geld von Novo Nordisk erhalten, bei den Leitlinien mit
abstimmen. Leider komme aber genau das seit Jahren bei
Leitlinienerstellungen sehr häufig vor, so Schurig.
Teilweise sponsern die Firmen aber auch Selbsthilfegruppen oder
Influencer:innen. Die Nebenwirkungen werden hier natürlich wenig bis
gar nicht thematisiert. Möglicherweise sei der Hype um die Abnehmspritze so
überhaupt erst entstanden, vermutete der britische Guardian bereits im März
2023. Eine zu positive Berichterstattung führt dazu, dass Patient:innen
das Medikament aktiv beim Arzt einfordern. Immer wieder tauchten gefälschte
Rezepte oder gepanschte Präparate auf.
Eli, die ihre Erfahrungen auf Instagram teilt, kann darüber nur den Kopf
schütteln. „Bei mir melden sich Leute, die sich im Internet das Mittel
gekauft haben und fragen, ob sie es nehmen sollen.“ Auch ihr ist die
Berichterstattung zu einseitig, sie findet, es werde ein falsches Bild
vermittelt. Sie spüre zwar keine Nebenwirkungen und falle auch nicht mehr
in das unangenehme Suppenkoma nach dem Essen. Trotzdem ernährt sie sich
mithilfe einer Ernährungsberaterin weiterhin so gesund wie möglich. Denn
sie meint: Die Arznei sei kein Wundermittel, sondern nur ein Hilfsmittel
und man sollte nicht zu viel davon erwarten.
29 Jan 2024
## LINKS
[1] https://www.science.org/content/article/breakthrough-of-the-year-2023#secti…
[2] /Abnehmen-mit-Diabetes-Medikament/!5931981
[3] https://companiesmarketcap.com/european-union/largest-companies-in-the-eu-b…
## AUTOREN
Kathrin Burger
## TAGS
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