# taz.de -- Demos gegen rechts: Was heißt Nie wieder? | |
> Bei den Demos gegen rechts ziehen Menschen immer wieder historische | |
> Vergleiche. Auch wenn sie zunächst einleuchtend erscheinen, bergen sie | |
> Gefahren. | |
Bild: Wir stehen aktuell nicht „kurz vor 1933“, dem Jahr der Machtübergabe… | |
„AfD wählen ist voll 1933“, steht auf einem Plakat. „Damit auf die 1920er | |
nicht 1933 folgt“, auf einem anderen. Und immer wieder die Parole: „Nie | |
wieder ist jetzt“. Ein wesentlicher Mobilisierungsmotor der [1][aktuellen | |
Proteste gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck und das Erstarken der AfD] | |
sind Referenzen auf die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Denn, | |
so die durchaus einleuchtende Überlegung: Wenn erneut eine rechtsextreme | |
Partei in diesem Land an die Macht kommt, dann werden Hass und Hetze zu | |
repressiver Politik gegen Minderheiten und Andersdenkende. Mal wieder. | |
Diese durchaus berechtigte Sorge bringt derzeit Hunderttausende auf die | |
Straße. | |
Die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, aber auch die | |
Kommunalwahlen in Mecklenburg-Vorpommern lassen Schlimmes ahnen. | |
AfD-Politiker*innen streben ein starkes, völkisches Deutschland an. Und zu | |
dieser Fantasie gehören Ausschluss und Vertreibung. | |
Wiederholt sich die Geschichte an dieser Stelle also? Nein. Vielmehr bergen | |
historische Vergleiche – wenn sie schief sind, Geschichtskenntnis fehlt | |
oder sie aus dem Kontext gerissen werden – Gefahren. | |
Schon die [2][Enthüllung des Recherchezentrums Correctiv über ein | |
rechtsextremes „Geheimtreffen“] im November in Potsdam, die die aktuellen | |
Massenproteste auslöste, weckte die Assoziation der Wannseekonferenz, die | |
„knapp acht Kilometer entfernt von dem Hotel“ stattfand, wie es im Artikel | |
heißt. Das Treffen, bei dem AfDler, Identitäre und Mitglieder der | |
Werteunion von einem „Masterplan für Deutschland“ samt | |
„Remigrations“-Fantasien träumten, wird seitdem immer wieder als | |
„Wannseekonferenz 2.0“ bezeichnet. Correctiv schreibt, die Idee des | |
Identitären Martin Sellner erinnere an die Deportationspläne der | |
Nationalsozialisten. | |
## Entkontextualisierung von „Nie wieder ist jetzt“ | |
Aber: Am Wannsee wurde seinerzeit nicht die Vertreibung und Ausbürgerung | |
geplant, die war lange schon im Gang. Unter Vorsitz des | |
SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich trafen sich ranghohe | |
Nationalsozialisten, um die Vernichtung der europäischen Juden besser zu | |
organisieren. Protokoll führte Adolf Eichmann. Die Deportationen waren ein | |
Mittel zum Zweck des systematischen Massenmords. Das Treffen am Wannsee im | |
Winter 1942 ist die Konferenz des eliminatorischen Antisemitismus. Der | |
Vergleich ist insbesondere dann schief, wenn der gegenwärtig grassierende | |
Antisemitismus nicht ins Verhältnis dazu gesetzt wird. | |
Dass der Nationalsozialismus nicht Geschichte ist, sondern durchaus | |
zurückkehren kann, ist kein neuer Gedanke. [3][Theodor W. Adorno] fragte | |
schon in den 1950er-Jahren, ob wir den Nationalsozialismus wirklich | |
überwunden haben. Dennoch stehen wir aktuell nicht „kurz vor 1933“, dem | |
Jahr der Machtübergabe, des Verbots der Gewerkschaften, der | |
Bücherverbrennungen, der Gründung des KZ Dachau und der Einführung des | |
„Ariernachweises“. | |
Ab 1933 konnten Jüdinnen und Juden nicht mehr als Beamte oder öffentliche | |
Angestellte arbeiten. Innerhalb weniger Wochen wurde damals die Opposition | |
ausgeschaltet, Minderheiten drangsaliert und das deutsche Volk auf das | |
nationalsozialistische Projekt eingeschworen. So weit sind wir 2024 nicht. | |
Und trotzdem ist das kein Grund zur Entwarnung. | |
Die Entkontextualisierung von „Nie wieder ist jetzt“ auf den aktuellen | |
Anti-rechts-Demos birgt die Gefahr, dass die Antisemitismuskritik des | |
Satzes nicht mehr gesehen wird. Denn die Parole wurde nicht als Antwort auf | |
den Rechtsruck in Deutschland eingeführt, wenngleich sie jetzt passgenau | |
erscheint. Sie entstand als Reaktion auf die genozidale Gewalt der Hamas am | |
7. Oktober in Israel. In Deutschland wie in vielen anderen Ländern folgte | |
auf diese Gewalt eine Welle des Antisemitismus, die bis heute anhält. | |
## Rechtsextreme sind rassistisch und auch antisemitisch | |
Bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen | |
Bundestag am 31. Januar beendete die Shoah-Überlebende Eva Szepesi ihre | |
Rede mit den Worten „Nie wieder ist jetzt“. Ihre Rede zeigt genau den | |
Zusammenhang auf, der auf den aktuellen Großdemonstrationen untergeht. | |
Szepesi erzählte von ihrer Zeit in Budapest, von ihrer Verhaftung und | |
Deportation, von der Selektion in Auschwitz-Birkenau, der Ermordung ihrer | |
Mutter – und schließlich von ihrer Befreiung und dem Leben danach. Dann | |
spannte sie den Bogen in die Gegenwart, zum 7. Oktober 2023, dem Tag, „der | |
für uns Juden auf der Welt alles veränderte“. | |
Mit Blick auf die über [4][130 Geiseln, die noch immer in der Hand der | |
Terrororganisation Hamas] sind, forderte sie: „Bringt sie nach Hause, | |
jetzt!“ Das ist die Situation, auf die der Satz „Nie wieder ist jetzt“ | |
antwortet, auf den tödlichsten Tag für Jüdinnen und Juden seit der Shoah. | |
Sicher, auch Szepesi sprach danach noch über Deutschland, darüber, dass | |
eine rechtsextreme Partei nie wieder so stark werden dürfe, dass sie die | |
Demokratie gefährde. Sie mahnte: „Wir sind kurz davor.“ Ihre Rede zeigte | |
dennoch explizit den Zusammenhang zwischen der Shoah, dem 7. Oktober und | |
der Gefahr durch den deutschen Rechtsextremismus. | |
Will „Nie wieder ist jetzt“ keine hohle Phrase sein, verlangt es | |
Solidarität mit Jüdinnen und Juden. Auf den Massendemonstrationen gegen | |
rechts ist dies nicht immer präsent. Teils liefen Israelhasser*innen | |
auf diesen Demos mit, verhielten sich aggressiv gegenüber Ordner*innen | |
und anderen Demoteilnehmenden. Für Jüdinnen und Juden ein fatales Signal. | |
Rechtsextreme sind sowohl rassistisch als auch antisemitisch. Wer sie | |
nachhaltig bekämpfen will, muss sich mit beiden Phänomenen | |
auseinandersetzen. Um die Gegenwart mitgestalten zu können, muss sich mit | |
der Vergangenheit beschäftigt werden. Ohne historische Superlative. Und mit | |
mehr Solidarität gegenüber Jüdinnen und Juden. | |
9 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Nikolas Lelle | |
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